Die 13-jährige Marta (Yle Vianello) stammt aus Kalabrien, verbrachte
aber zehn Jahre ihres Lebens in der Schweiz und hat nur wenig Bezug
zu ihrer alten Heimat. In dieser ihr fremen Welt, wo Bauruinen, ein
trockenes Flussbett und ein halbfertiger Autobahnzubringer die
Landschaft bestimmen, muss sie sich nun, nachdem sie mit Mutter und
Schwester zurückgezogen ist, einleben. So fühlt sie sich nicht nur
in der Schule als Aussenseiterin, sondern auch im Firmunterricht, der
ihr aufgezwungen wird. Dieser wird von Santa (Pasqualina Scuncia)
geleitet, die erhebliche Schwierigkeiten hat, die desinteressierten
Jugendlichen für die Religion zu begeistern. Doch während ihre
Kollegen wenigstens ein gewisses Traditionsbewusstsein haben – und
sei es der Spruch "Man macht das in unserer Familie so" –,
fehlt Marta jegliche Bindung zur katholischen Tradition und sie
beginnt deshalb, ihr Leben selber in die Hand zu nehmen.
Das Ziel, das Alice Rohrwacher in Corpo celeste verfolgte,
lässt sich anhand einer kurzen Szene, vielleicht sogar der stärksten
des Films, nachvollziehen. Santa leiert Marta das katholische
Glaubensbekenntnis herunter, dessen erster Teil auf die Frage
"Glaubst du an Gott, unseren Erlöser?" hinausläuft. Nach
kurzem Zögern antwortet der Teenager: "Credo". Ich glaube.
Was folgt, ist heikler: "Glaubst du an die heilsbringende
katholische Kirche?" Marta schweigt, Santa platzt der Kragen.
"Credo!", ruft die Frau und schmettert die symbolische
Ohrfeige eine Spur zu beherzt hinterher. Das Dilemma, das sich hier
abzeichnet, ist schon seit Jahrhunderten eine der eklatantesten
Schwächen der grössten christlichen Konfession: Wer steht im
Mittelpunkt, Gott oder der Klerus? Und wo bleibt das Weltliche dabei?
An dieser Schnittstelle zwischen Geistlichem und Weltlichem bewegt
sich Rohrwacher. Sie zeigt in oftmals körnigen Handkamerabildern,
wie der sehr an Lokalpolitik interessierte Pfarrer Don Mario, subtil
gespielt von Salvatore Cantalupo, obwohl tief gläubig, trotzdem nach
einer Beförderung in eine bessere Gemeinde giert; wie Santa
versucht, das neue Jahrtausend in ihrem Unterricht mittels PC-Quiz
und Popsongs Einzug halten zu lassen, ihre Schüler damit aber noch
weiter von der Materie distanziert.
Verloren im Mezzogiorno: Die 13-jährige Marta (Yle Vianello) in ihrer neuen Heimat. |
Dass dabei keine tiefer schürfende Kritik geäussert wird, dass die
übergeordneten Problematiken von Katholizismus und organisierter
Religion im Allgemeinen grösstenteils ignoriert werden, lässt sich
dem Film nachsehen, da er sonst leicht hätte ins Dogmatische
abdriften können. Störender wirkt Rohrwachers Art, die Thematik
kritisch zu beleuchten. Auch wenn man die Frage nach der Existenz
Gottes ausklammert, böte die Kirche, besonders die katholische,
genügend Angriffsfläche für ein provokantes Drama zum tiefer
werdenden Graben zwischen soziokultureller Realität und
traditionsorientierter Religion. Corpo celeste mag Motive und
Methoden von Zeitgenossen wie Don Mario hinterfragen, trägt damit
aber Eulen nach Athen; die korrupten Auswüchse und der fehlende
Bezug der Geistlichkeit zum Volk, speziell in Italien, sind
wohlbekannte Phänomene, die schon in vielerlei Form breitgetreten
wurden. Rohrwacher trägt nichts Neues zur Diskussion bei; ihre
Provokation erschöpft sich in vagem Formalismus und zaghafter
Symbolik – so etwa das bedeutungsschwangere Bild des im Meer
treibenden klassischen Kruzifix, welches das Neonkreuz in Marios
Kirche hätte ersetzen sollen. Eine schöne Komposition; aber ein
anregender Gesprächsansatz sieht anders aus.
Und auch wenn man die religiöse Seite des Films aus der Gleichung
nimmt, vermag Corpo celeste nicht recht zu überzeugen. Nicht
zuletzt dank Yle Vianellos beachtlicher Schauspielleistung gelingt es
ihm zwar, Martas bittersüsses Herantasten an emotionale
Unabhängigkeit sowie ihre Verlorenheit im verarmten italienischen
Süden zu illustrieren – auch wenn die Auswirkungen der
Wirtschaftskrise in Daniele Luchettis La nostra vita weitaus
besser, weil weniger schwarz-weiss, dargestellt wurden. Dem Ganzen
fehlen eine Richtung und ein dramaturgisches Zentrum. Die
Aufmerksamkeit des Zuschauers gilt abwechselnd Marta und Don Mario.
Dahinter steckt wohl die Absicht, ausgewogen zu sein, beiden Seiten
des Konflikts ein Gesicht zu geben, aber leider wird dabei auf keine
richtig eingegangen. Vielmehr resultiert daraus eine nur
oberflächliche Beziehung zwischen Charakteren und Kinogägern; beide
Figuren, Marta etwas weniger, Mario etwas mehr, bleiben einem fremd.
Blinder Glaube: Santa (Pasqualina Scuncia) versucht, die Teenager für die Religion zu begeistern. |
Es lässt sich nicht bestreiten, dass Corpo celeste, zumindest
auf dem Papier, ein ambitiöses Projekt ist. Hätte Rohrwacher
mehr Mut zum Risiko bewiesen und sich weniger von der Angst,
religiöse Gefühle zu verletzen, leiten lassen, hätte ihr erster
Film ein spannender und wertvoller Beitrag zur anhaltenden Diskussion
um den in der Krise steckenden Katholizismus sein können. Am
erforderlichen cineastischen Flair sowie an hochkarätigem
Schauspielermaterial hätte es nicht gefehlt. So aber bleibt das
Gefühl einer verpassten Chance.
★★
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