Roberto (Ricardo Darín) hat seinen Tagesablauf fest im Griff.
Morgens isst er Brot, ohne die Rinde, und trinkt Tee dazu; danach
begibt er sich in sein Eisenwarengeschäft, wo er sich über
hochnäsige Kunden und fehlende Schrauben in den Fabriklieferungen
echauffiert; abends kommt ein reichhaltiges Fleischgericht auf den
Tisch; anschliessend blättert er sich durch einen Stapel Zeitungen;
und um Punkt 23 Uhr löscht er seine Nachttischlampe. Gegen diesen
Lebensstil, der in seiner geregelten Schlichtheit an denjenigen
Phileas Foggs erinnert, kommt auch die hübsche Mari (Muriel Santa
Ana) nicht an, die schon lange von diesem Einzelgänger fasziniert
ist. Durch einen Zufall trifft Roberto auf den jungen Chinesen Jun
(Ignacio Huang), der ohne Geld und Spanischkenntnisse in Buenos Aires
gestrandet ist. Der mürrische Eisenwarenhändler nimmt den hilflosen
Flüchtling bei sich auf, was seinen Alltag gehörig durcheinander
bringt.
Im internationalen Geschäft wird Sebastián Borenszteins dritter
Film mit dem irreführenden Titel Chinese Take-Away
vertrieben, dem zwar eine gewisse Ambiguität innewohnt, primär aber
an eine heitere Mischung aus Intouchables und Soul Kitchen
denken lässt. Ganz anders der spanische Originaltitel: "Cuento
chino" bedeutet wörtlich "chinesische Geschichte",
umgangssprachlich "Lügenmärchen", wobei sich nicht nur
erstere Bedeutung auf den Film bezieht. Scheinbar erfundene Mären
sind nämlich Robertos grösstes und wohl auch einziges Hobby: Er
durchforstet die Zeitungen der spanischsprachigen Welt, der
zweitgrössten neben der – was sonst? – chinesischen, nach
morbiden, tragischen, ungewöhnlichen, Hauptsache unglaublichen,
Geschichten. In seinen Fantasien projiziert Roberto sich selbst in
diese Nachrichten, wobei er sich dabei von seinem eigenen, von nicht
vermeidbaren, aber nichtsdestoweniger schmerzhaften Tragödien
gezeichneten Leben zusehends entfremdet und dabei gleichzeitig den
Sinn für die Gegenwart verliert.
Ohne Worte: Roberto (Ricardo Darín) versucht herauszufinden, wo Jun (Ignacio Huang) hingehört. |
So wird Borenszteins Protagonist zum Fremden in seinem eigenen
Alltag, der sich mithilfe eines anderen Fremden, dem in einem für
ihn unbekannten Land verlorenen Jun, selber wiederfinden muss. Diese
Brücke zwischen persönlichem Drama und funktionierender
Völkerverständigung ohne eigentliches Verstehen mag etwas
umständlich geschlagen werden – entsprechend fallen ein paar
Szenen aufgrund ihres Tonfalls etwas aus dem Rahmen –, doch es ist
Un cuento chino hoch anzurechnen, dass er nie mit erhobenem
Zeigefinger den Zuschauer zu belehren sucht, sondern die Geschichte
selbst diese Aufgabe übernehmen lässt. Ohne übertriebene Emphase
wird etwa gezeigt, dass es auch zwischen zwei Chinesen eine
unüberwindbare Sprachbarriere geben kann; oder dass das Festhalten
an einer Gewohnheit den damit verbundenen Schmerz auch stärken statt
lindern kann – ganz im Stile von Stéphane Brizés bewegendem Je
ne suis pas là pour être aimé.
Überhaupt herrschen hier die leisen Töne vor, so wie man es etwa
aus den französischen Charakterkomödien eines Jean Becker (Dialogue
avec mon jardinier, La tête en friche) kennt. Wunderbar
das Zusammenspiel von Ricardo Darín, unauffälliger und eben deshalb
noch eindringlicher als im Oscargewinner El secreto de sus ojos,
und Ignacio Huang, welche beide auch in gegenseitigem Unverständnis
hervorragend harmonieren. Auch die Komik lebt vom Understatement, ja
meist sogar vom nicht geäusserten oder nur gemurmelten Wort. So
bedarf es beispielsweise einiges Talent, Robertos endlosem Warten in
der chinesischen Botschaft eine komische Komponente abzugewinnen,
doch Borensztein als Autor und Darín als Darsteller meistern diese
Herausforderung vorzüglich. Die Krönung dieses Witzes auf Kosten
des berüchtigten Bürokratieapparates der Volksrepublik – Robertos
hinreissende Tirade gegen die "Beamtentrottel" – ist ein
Hochgenuss. Und diese auf bescheidene Weise enorm komische Szene
bleibt, trotz der durchwegs aufrecht erhaltenen Ernsthaftigkeit, kein
Einzelfall.
Auch Mari (Muriel Santa Ana) interessiert sich für Jun – und Roberto. |
Sebastián Borenszteins vorangegangener Film Sin memoria (2010)
war ein mässig erfolgreicher Thriller. Sein neuer zeigt, wo seine
wahren Qualitäten liegen. Mit seinem feinen Auge für die
Kleinigkeiten, die persönlichen Tragödien und Glücksmomente der
kleinen Leute, und einem Sinn für subtile Erzählung ist er in der
Disziplin der Tragikomödie bestens aufgehoben. Einige
inszenatorische Aspekte mögen ihm noch nicht vollumfänglich
gelingen; doch er hat noch genug Zeit, seine Technik zu verfeinern
und zu perfektionieren. Wenn der lustig-melancholische Un cuento
chino ein Indikator ist, dann ist Borensztein auf dem besten Weg
dazu.
★★★★
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