Donnerstag, 31. Mai 2012

Moonrise Kingdom

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

In den Filmen des Texaners Wes Anderson werden Ironie, Skurrilität und Aussenseitertum gross geschrieben. Auch in Moonrise Kingdom, seinem siebten Werk, finden sich diese Aspekte, werden aber durch Romantik und Nostalgie ergänzt. Das Resultat? Wunderschönes Indie-Kino!

Irgendwo vor der Küste New Englands liegt eine kleine Insel ohne gepflasterte Strassen, dafür mit Maisfeldern, Wäldern und einem See. Das Jahr ist 1965 und im Pfadfinderlager "Ivanhoe" beginnt ein ganz normaler Tag. Lagerleiter Ward (Edward Norton) inspiziert die verschiedenen Projekte, zählt seine Schützlinge durch, setzt sich an den Frühstückstisch und merkt, dass einer fehlt: Das unbeliebte Waisenkind Sam (Jared Gilman) ist geflohen. Ward alarmiert die örtliche Polizei, bestehend aus Captain Sharp (Bruce Willis), der sogleich sämtliche Familien der Insel aufsucht, um nach Sam zu fragen. Zuletzt klingelt er an der Tür des Anwaltsehepaars Bishop (Frances McDormand und Bill Murray), wohnhaft in "Summer's End". Doch auch sie geben an, nichts gesehen zu haben, nicht ahnend, dass ihre Tochter Suzy (Kara Hayward) ebenfalls verschwunden ist. Suzy und Sam haben sich bei einer Theatervorführung ineinander verliebt und wollen nun zusammen sein – den Einwänden der fiesen Pfadfinder, der Bishops und des "Sozialamts" (Tilda Swinton) zum Trotz.

Wes Anderson wird gerne vorgeworfen, seine Filme seien nur darauf angelegt, die vielen ungeliebte, wenn nicht sogar verhasste, Hipster-Subkultur zu befriedigen, jene meist jungen Leute, die sich vor dem Mainstream ekeln und sich oft schwelgerisch auf eine Vergangenheit zurückbesinnen, die sie selber gar nicht erlebt haben. Moonrise Kingdom wird diese Anschuldigungen eher verstärken denn entkräften. Anderson spielt Benjamin Britten, Hank Williams und Françoise Hardy; er zitiert The Shawshank Redemption und Harold and Maude. Diese Assoziationen sind eingebettet in eine Geschichte, die in Sachen Idealismus und Aufrichtigkeit alles übertrifft, was in Andersons Œuvre bis dato zu sehen war. Er und Co-Autor Roman Coppola, Sohn von Francis Ford Coppola (The Godfather), haben eine hinreissende, von herrlichen, oft im Hintergrund stattfindenden Eigenheiten, durchsetzte Ode an die Kindheit geschaffen.

Aufbruchstimmung: Die Ausreisser Sam (Jared Gilman) und Suzy (Kara Hayward) suchen einen Ort, an dem sie vor den Erwachsenen sicher sind.
In dieser Welt, in der die Erwachsenen sich auf die doch ziemlich überdrehte Suche nach den flüchtigen Kindern einlassen und sich dabei um ein Vielfaches kindischer verhalten als der eigene Nachwuchs, finden sich nicht nur schräge Charaktere wie Jason Schwartzmans beredter Pfadfinderleiter/Trickbetrüger, Harvey Keitels Quasi-General und Bob Balabans phlegmatischer Erzähler. Moonrise Kingdom, obwohl immer auf sublim-skurrile Weise lustig, ist eine äusserst gefühlvolle Angelegenheit, auch hinsichtlich seiner Nebenfiguren. Die Ehekrise der Bishops wird mit enormem Scharfsinn in wenigen Worten zusammengefasst; ebenso das unerfüllte Leben des Captain Sharp. Im Mittelpunkt allerdings steht die Liebe zwischen Sam und Suzy, bewundernswert gespielt von Jared Gilman und Kara Hayward. Beide sind zwar erst zwölf Jahre alt und verhalten sich manchmal wie kleiner Bruder und grosse Schwester, doch in ihren gemeinsamen Szenen blüht echte Romantik auf – grossartig die Szene, in der das Paar zu Françoise Hardys "Le temps de l'amour" tanzt –, gepaart mit vorpubertärer Unsicherheit. Moonrise Kingdom ist eine Fantasie, doch eine, auf die man sich nur zu gerne einlässt.

★★★★★

Montag, 28. Mai 2012

Dark Shadows

Zwischen 1966 und 1971 war auf dem amerikanischen TV-Sender ABC täglich die Serie Dark Shadows zu sehen. Die von Dan Curtis ersonnene Seifenoper avancierte nach einem plötzlichen Schwenk ins Paranormale zur ersten Serie, welche Geister im Tagesprogramm zeigte. Heute geniesst die Franchise Kultstatus. Zwei prominente Fans verhalfen ihr nun zum Sprung auf die grosse Leinwand: Tim Burton und Johnny Depp adaptierten Curtis' Erfindung mit viel, vielleicht zu viel, Begeisterung.

Im Jahre 1972 stösst eine Gruppe von Bauarbeitern auf einen mit Ketten verschlossenen Stahlsarg. Neugierig öffnen sie ihn, nicht ahnend, dass dies ihr Ende bedeutet: Aus der Kiste entsteigt nämlich der verfluchte Vampir Barnabas Collins (Johnny Depp), der 200 Jahre auf seine Befreiung gewartet hat. Die neue Epoche verwirrt das galante, wortgewandte Monster aber derart, dass er Zuflucht in seinem alten Anwesen sucht: Collinwood, im Städtchen Collinsport, Maine, gegründet von Barnabas' Familie. Seine Nachfahren, die er in seinem Haus antrifft, sind aber weit weniger erfolgreich als er es sich erhoffte: Die Familie hat das Fischereimonopol längst verloren; Mutter Elizabeth (Michelle Pfeiffer), ihr Bruder Roger (Johnny Lee Miller) sowie die Kinder Carolyn (Chloë Grace Moretz) und David (Gulliver McGrath) hängen antriebslos in der verfallenden Villa herum. Barnabas interessiert sich aber besonders für eine Bewohnerin Collinwoods: das frisch angestellte Kindermädchen Victoria (Belle Heathcote), welche er als Reinkarnation seiner Verlobten Josette aus dem 18. Jahrhundert wieder erkennt. Und sein Kampfgeist wird erst recht geweckt, als er erfährt, dass Collinsport immer noch von Angelique Bouchard (Eva Green) terrorisiert wird – der Dame, welcher er sein Vampirdasein zu verdanken hat.

Eine Serie wie Dark Shadows zu verfilmen, ist weitaus schwieriger als man zunächst vermuten könnte. Zwar waren Tim Burton und sein Drehbuchautor, der Romancier Seth Grahame-Smith (Abraham Lincoln: Vampire Hunter), in der Lage, auf einen Episodenfundus von über 1'200 Episoden zurückgreifen, doch diese zeichnen sich nicht in erster Linie dadurch aus, Meisterwerke der Erzählung zu sein. Viel vom Kult um Dan Curtis' Kreation ist auf die überdramatischen Darbietungen, die grosse Menge an Figuren, die von einer kleinen Truppe von Schauspielern verkörpert wurde, und die manchmal allzu wilden Storylines, sprich die Affektiertheit, den "Camp", zurückzuführen. Das Problem ist offenkundig: Kann man einen im klassischen Sinne guten Film produzieren, wenn gleichzeitig darauf geachtet werden muss, den Charme des Originals, das Vergnügen auf der Meta-Ebene, mit einzufangen? Im Fall von Dark Shadows kann man die Herausforderung zumindest als einigermassen gelungen betrachten. Wie schon im auf Kaugummisammelkarten basierenden Mars Attacks! hält er auch hier die Balance zwischen Story und quellenbezogener Ironie ganz ansprechend, wenn auch nicht durchgehend, zumal er auch das Unmögliche versucht und die Essenz aus 1'225 Folgen in einem knapp zweistündigen Film unterzubringen.

Der Vampir Barnabas Collins (Johnny Depp) ist zurück in seinem – mittlerweile heruntergekommenen – Anwesen.
Entsprechend ist Burtons 17. Regiearbeit eine ziemlich chaotische Angelegenheit und insofern wohl die werkgetreueste Adaption, die man von einem Film erwarten konnte, der ein Budget von 150 Millionen Dollar wieder einspielen muss. Diverse Nebenplots werden nicht richtig aufgelöst, die Geschichte wartet mit immer wieder neuen, unerwarteten – vielleicht auch weil nicht allzu sinnvollen – Twists auf, die Ausstattung ist ungemein kreativ und die Schauspielleistungen, welche sich allesamt durch ihren herrlich Deklamations-Stil auszeichnen, variieren in ihrer Qualität. Während Johnny Depp in der Rolle des Barnabas, seinem Idol aus Kindertagen, aufblüht und Eva Green und Jackie Earle Haley – Letzterer als ebenso zwielichtiger wie einfältiger Hausmeister – sichtlich Spass an ihren Figuren haben, verblassen Johnny Lee Miller und Bella Heathcote. Als Ausgleich zu den weniger mitreissenden Darbietungen bietet Dark Shadows jedoch zwei äusserst amüsante Gastauftritte: einerseits den 90-jährigen Christopher Lee als Meisterangler A.D., andererseits den Rocker Alice Cooper als sich selbst (Barnabas: "Ugliest woman I've ever seen"). In Sachen Humor wiederum pendelt der Film ständig zwischen schwarzhumorig-absurd und infantil-abgedroschen. Auf hintergründige Anspielungen auf Klassiker der Horrorgenres-Historie, seien sie cineastischer – Nosferatu, eine Symphonie des Grauens – oder literarischer – The Fall of the House of Usher – Natur, folgen eher laue Gags über Sex.

Die Hexe Angelique (Eva Green) terrorisiert das von Barnabas' Familie gegründete Städtchen Collinsport auch nach 200 Jahren noch.
Letztendlich aber ist es beruhigend zu wissen, dass es im Zeitalter von Ironie und Zynismus noch Regisseure wie Tim Burton und Filme wie Dark Shadows gibt. Mit hemmungslosem, ja fast schon kindlichem Enthusiasmus gibt sich Burton seinem Thema hin und zelebriert mit sichtbarer Aufrichtigkeit – dem sich in The Avengers altmodischem Heroismus verschreibenden Joss Whedon nicht unähnlich – die wunderbare Welt des TV-Camps, wie er in Curtis' Serie zu sehen war. Insofern ist der Streifen wohl die kongeniale Verfilmung des Originals, wenn auch nicht ein perfekter Film. Er offeriert ein Stelldichein von Geistern, Vampiren, Zauberern und Werwölfen, und es gelingt ihm tatsächlich, wie eine Fernsehsendung zu wirken, deren Episoden von Tag zu Tag zusammengeschustert werden. Und das ist im besten Sinne gemeint.

★★★

Donnerstag, 24. Mai 2012

Salmon Fishing in the Yemen

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.
 
Man sollte denken, dass das Resultat einer Kollaboration des gefeierten schwedischen Regisseurs Lasse Hallström und des preisgekrönten Drehbuchautors Simon Beaufoy wenigstens passabel wäre. Weit gefehlt: Salmon Fishing in the Yemen ist einer der enttäuschendsten Filme des Jahres.

Nach einem Anschlag auf eine afghanische Moschee steht Patricia Maxwell (Kristin Scott Thomas), die PR-Beraterin des britischen Premierministers, unter Zugzwang, eine Nachricht zu finden, die den Nahen Osten in ein besseres Licht rückt. Dabei stösst sie auf den Wunsch des anglophilen Scheichs Muhammad (Amr Waked), in seinem Heimatland Jemen das Lachsfischen einzuführen. Verantwortlich für die Abklärungen ist die frisch in einen Soldaten verliebte Harriet (Emily Blunt). Der von ihr kontaktierte Fischexperte Dr. Alfred Jones (Ewan McGregor) hält das Vorhaben aber für undurchführbar. Als Patricia das Projekt zur Priorität erklärt, muss Alfred dennoch mit Harriet zusammenspannen und versuchen, das Unmögliche möglich zu machen. Dabei freunden sich die beiden mit Muhammad an und lenken sich von ihren jeweiligen Schwierigkeiten ab: Der leicht autistische Alfred steckt in einer Ehekrise, Harriets Freund wird nach Afghanistan abkommandiert.
Simon Beaufoy ist beileibe kein Neuling in der Welt der Drehbuchautoren. Der Brite wurde bereits 1998 für seine Arbeit an The Full Monty für einen Oscar nominiert. Es folgten ein Sieg (Slumdog Millionaire, 2009) sowie eine weitere Nomination (127 Hours, 2011). Umso erstaunlicher ist es, wie stümperhaft er in seiner gleichnamigen Adaption von Paul Tordays Roman Salmon Fishing in the Yemen vorgeht. Beaufoy scheint vergessen zu haben, dass Konflikt der Treibstoff jeder Geschichte ist, denn der Film kommt praktisch ohne solchen aus. Die zentralen Probleme sind entweder gar keine, werden aber zu tragenden Elementen aufgebauscht, oder sie werden künstlich hergestellt, egal wie lächerlich oder an den Haaren herbeigezogen sie auch sein mögen – frei nach dem Motto: Eine Nahost-Erzählung braucht Terrorismus. Dass dabei der – von Terry Stacey (P.S. I Love You) zugegebenermassen schön eingefangene – Ethnokitsch an eine Reisewerbung für den Jemen erinnert, passt zum strukturell ohnehin verwirrten Film. Es lässt sich nicht so recht erkennen, ob Salmon Fishing in the Yemen nun eine Komödie – pro: einige absurd-witzige Linien; contra: kindischer Slapstick –, eine Liebesgeschichte – vieles davon läuft auf Nebenspuren ab – oder ein Drama sein soll. Würde Lasse Hallströms Regie nicht für etwas flottes Tempo sorgen, der Streifen wäre ganz und gar unerträglich.

Drehbuch in den Sand gesetzt? Scheich Muhammad (Amr Waked), Dr. Alfred (Ewan McGregor) und Harriet (Emily Blunt) bei einer Strategiesitzung.
Auch mit der Charakterzeichnung tut sich Beaufoy überraschend schwer. Alfred Jones beginnt als unmotiviert aggressiver Zyniker, für dessen Darstellung Ewan McGregor gut zehn Jahre zu jung ist, und wandelt sich abrupt zum einfühlsamen Softie. Harriet bleibt durchwegs eine uninteressante Figur – wohl auch dank der farblosen Emily Blunt –, deren Entscheidungen in Sachen Liebe etwas allzu wankelmütig anmuten. Kristin Scott Thomas wiederum liefert wohl die beste Darbietung des Hauptcharaktertrios, verschiwndet aber immer mehr hinter der widerwärtigen Patricia. Bliebe noch Amr Wakeds würdevolle Performance als Muhammad, die sympathischste Figur des Films, welche als Gegenentwurf zum muslimischen Klischee dient, letztlich aber durch das Bestärken kultureller Stereotypen ruiniert wird.

Ob die Hauptschuld für die Misere nun an Simon Beaufoy oder an Paul Torday liegt, ist letztlich unwichtig. Salmon Fishing in the Yemen ist ein ärgerliches Machwerk, welches es so schnell wie möglich zu vergessen gilt.

Samstag, 19. Mai 2012

50/50

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Sich mit dem Thema Krebs im Kino auseinanderzusetzen, birgt immer Risiken. Ob Drama oder Komödie, Rührseligkeit ist kaum je zu vermeiden. Eine angenehm unsentimentale Ausnahme stellt nun aber der Indie-Grosserfolg 50/50 dar, der mit Herz, Hirn und Humor punkten kann.

Adam Lerner (der wundervolle Joseph Gordon-Levitt) ist 27 Jahre alt und hat sein Leben ganz gut im Griff. Zwar wird der sympathische Ordnungsfanatiker hie und da von seiner überängstlichen Mutter Diane (Anjelica Huston) genervt, doch er bewohnt ein schönes Haus, er arbeitet zusammen mit seinem besten Freund Kyle (ein diesmal sehr erwachsener Seth Rogen) bei einem Radiosender, er liebt seine Freundin Rachael (Bryce Dallas Howard) und er lässt sich vom draufgängerischen Kyle nie zu Alkohol- und Drogenexzessen überreden. Die Idylle wird aber jäh zerstört, als bei Adam eine seltene Krebsart diagnostiziert wird – Mortalitätsrate: fünfzig Prozent. Nun muss er Freunden, Bekannten und Verwandten die Neuigkeit beibringen ("Have you ever seen Terms of Endearment?"), was diese scheinbar mehr mitzunehmen scheint als ihn. Trotz der Hiobsbotschaft versucht er aber, weiterhin ein geregeltes Leben zu führen, neben Chemotherapie, wo er sich mit älteren Leidensgenossen anfreundet, und psychologischer Betreuung bei der unerfahrenen Therapeuthin Katherine (eine grossartige Anna Kendrick). Dabei ünterstützt ihn Kyle, der ihn zum Missbrauch medizinischen Marihuanas ermutigt und mit der Mitleidsmasche auf Frauensuche geht.

Der Humor stirbt zuletzt: Krebspatient Adam (Joseph Gordon-Levitt, links) amüsiert sich mit seinem besten Freund Kyle (Seth Rogen).
50/50 ist in vielerlei Hinsicht ein autobiografischer Film. Vor sieben Jahren wurde der TV-Autor Will Reiser wegen eines bösartigen Tumors am Rücken operiert, seither lebt er krebsfrei. In der schweren Zeit nach der Diagnose hat ihm besonders eine Person sehr geholfen: der Schauspieler und Komiker Seth Rogen (Knocked Up, Superbad), der sich hier im Grunde selber spielt. Reiser geht es in seinem Drehbuch zu gleichen Teilen um Rogens Rolle als Freund und den Status eines Krebskranken in der Geselllschaft. Die Vorgehensweise – eine Tragödie in ein Feel-Good-Film zu verpacken – erinnert dabei stark an Gus Van Sants Restless, die Umsetzung jedoch evoziert eher die Filme eines Alexander Payne oder eines Jason Reitman. Reiser zelebriert verlegenes Schweigen und unangenehme Situationen virtuos. Dieser leise Humor wird durch hervorragend eingesetzte rauere Töne wie Adams mal ironische, mal sardonische Bemerkungen oder Kyles derbe Einwürfe sehr effektiv kontrastiert.

Dabei verlieren aber weder Reiser noch Regisseur Jonathan Levine je den Realitätsbezug ihrer Geschichte und ihrer Figuren aus den Augen. 50/50 kippt nie ins Extreme; Komik und Tragik bleiben stets perfekt ausbalanciert. Die Charaktere wiederum haben alle ihre Stärken und Schwächen; ihre Interaktion ist phänomenal. Die Freundschaft zwischen Kyle und Adam ist sehr sorgfältig ausgearbeitet; ebenso die symbiotische, wenn auch komplizierte, Beziehung zwischen Adam und Katherine; Diane sprengt, nicht zuletzt dank der brillanten Anjelica Huston, im dritten Akt die Grenzen ihrer Rolle – zwischen sämtlichen Protagonisten spielt sich Berührendes, für den Fortgang des Plots Relevantes ab. So ist 50/50 letztendlich nicht nur ein ebenso komisches wie ergreifendes Filmerlebnis, sondern auch ein durch und durch befriedigendes, eines, bei dem am Ende das Gefühl bleibt, es sei in den vergangenen 100 Minuten etwas erreicht worden.

★★★★★

Donnerstag, 10. Mai 2012

Oslo, August 31st

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Was bedeutet der inflationär gebrauchte Begriff "desillusionierte Jugend"? Damit befasst sich der Skandinavier Joachim Trier in seinem eindringlichen und intimen Drama Oslo, August 31st. Dabei gelingt es ihm hervorragend, die Tragödie einer ganzen Generation filmisch festzuhalten.

Anders (Anders Danielsen Lie) kommt aus einer gutsituierten Familie, verbrachte eine glückliche Kindheit, arbeitete als Journalist. Doch 2005 fällt er den Drogen anheim, konsumiert jahrelang Heroin, Kokain und Ecstasy. Nun ist er 34 Jahre alt und steht kurz vor dem Ende einer zehnmonatigen Entziehungskur. Zwei Wochen vor seiner Entlassung aus der Klinik darf er für einen Tag nach Oslo, um bei einem Vorstellungsgespräch zu erscheinen. Aber anstatt sich zu freuen, fühlt Anders nur eine gewaltige Leere in sich; er hat nicht die Kraft, als Mittdreissiger noch einmal bei Null zu beginnen. Dabei helfen ihm auch Freunde und Verwandte nicht weiter: Das Lebensglück seiner einstigen Kumpanen stellt sich als Fassade heraus, Eltern und Schwester distanzieren sich von ihm.

Laut Abspann basiert Oslo, August 31st lose auf Le feu follet, einem kurzen Roman des wegen seiner Rolle im Vichy-Regime des Zweiten Weltkriegs umstrittenen französischen Autors Pierre Drieu La Rochelle. In der 1931 erschienenen Geschichte, welche 32 Jahre später von Louis Malle (Atlantic City, Au revoir, les enfants) verfilmt wurde, folgt der Leser den letzten Tagen eines Alkoholikers – modelliert nach Drieus Freund Jacques Rigot –, bevor dieser sich das Leben nimmt. Trier greift sowohl diese persönliche Tragik als auch die angedeutete Verbindung zur zeitgenössischen Sozialgeschichte auf, transponiert sie jedoch sehr elegant ins Norwegen des 21. Jahrhunderts. Er findet in Anders einen Menschen, der lange am Rande der Gesellschaft gelebt hat und nach seinem zaghaften Wiedereintritt nicht das Glück vorfindet, das ihm versprochen wurde. In grossartigen langen Dialogen – in ihrer Lebensnähe durchaus an Cineasten wie Mike Leigh oder Asghar Farhadi erinnernd – muss er feststellen, dass sich auch seine alten Schulfreunde mehr vom Leben erhofft haben.

Anders (Anders Danielsen Lie) trifft während seines Ausgangs aus der Drogenklinik auf alte Freunde und Liebschaften.
Den Grund dafür enhüllt Trier mit subtiler Charakterzeichnung. Die Generation Y – geboren zwischen dem Ende der Siebziger und dem Anfang der Neunziger –, der alle seine Figuren angehören, ist in einer Welt aufgewachsen, in der das Individuum gefeiert wird und somit nicht bereit ist für die Anonymität der Erwachsenenwelt; entweder man bleibt ein die Clubs Oslos frequentierender 20-Jähriger im Geiste oder man passt sich an und hasst sich dafür. Dass dies nicht formelhaft wirkt, ist nicht zuletzt der Hauptfigur des Films zu verdanken: Anders, von Anders Danielsen Lie famos verkörpert, ist kein künstlicher Symbolcharakter, sondern ein lebensechter, dreidimensionaler Protagonist.

Oslo, August 31st mag vom zum Klischee gewordenen skandinavisch-protestantischen Pessimismus geprägt sein, aber es lohnt sich, die Herausforderung anzunehmen. Überdies hat es Joachim Trier geschafft, seinem vorzüglichen Zweitwerk, passend zur inneren Logik, einen kleinen Lichtblick zu verleihen: Anders hört in einem Café, wie eine junge Frau eine lange Liste von Dingen herunterliest, manche äusserst unrealistisch, die ein Freund vor seinem Tod noch tun will. Das Leben mag hart sein, doch wer noch Träume hat, braucht sich vor nichts zu fürchten.

★★★★

Donnerstag, 3. Mai 2012

L'enfant d'en haut

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Vier Jahre nach Home, ihrem international beachteten Kinodebüt, wurde die Franco-Schweizerin Ursula Meier an der Berlinale für ihr Zweitwerk mit einem Sonderpreis ausgezeichnet. L'enfant d'en haut ist ein persönliches und politisches, wenn auch etwas kühles Drama.

Das Leben ist nicht einfach für den zwölfjährigen Simon (Kacey Mottet Klein, der für seine Nebenrolle in Home einen Schweizer Filmpreis erhielt) und seine ältere Schwester Louise (Léa Seydoux). Die beiden leben "en bas" in einem Wohnblock in einem Walliser Industriegebiet, während einige tausend Meter oberhalb, "en haut", Urlauber sich dem Wintersport hingeben. Louise jobbt als Putzfrau, wofür sie eher schlecht als recht bezahlt wird. Simon begibt sich derweil ins Skigebiet und stiehlt allerlei Skizubehör, welches er zu reduzierten Preisen Freunden und Hotelangestellten verkauft. Das Geschäft hält die Geschwister zwar einigermassen über Wasser, doch die Fischzüge werden für den geschickten Jungen immer komplizierter, was auch seine Beziehung zu Louise nicht einfacher macht.

Die Familie wird bei Ursula Meier gross geschrieben. Schon im hervorragenden Home interessierte sie sich für Dynamiken und Spannungen, denen ein familiärer Verbund unter gewissen Umständen ausgesetzt ist. Damals waren es Menschen, deren trautes Heim von einer Autobahn quasi unbewohnbar gemacht wurde; heute ist es ein Kind, das sich Verantwortung aufhalst, weil seine Schwester sich derselben entziehen will. Dieser Konflikt wird mit viel Einfühlungsvermögen und einer glaubwürdigen Charakterentwicklung geschildert, von zwei stark aufspielenden Hauptdarstellern unterstützt und einem chabrolesken "Sans fin" abgerundet. Dabei fehlt der ein wenig zu episodischen Geschichte allerdings, trotz der sehr intimen Atmosphäre, etwas der emotionale Bezug zu den Protagonisten, der in Meiers Erstling reichlich vorhanden war; es gelingt keiner der beiden zentralen Figuren so richtig, das Herz des Zuschauers zu packen.

Fliegender Händler: Simon (Kacey Mottet Klein) versucht, gestohlenes Skizubehör zu verkaufen.
Für diesen Makel entschädigt jedoch der raffinierte Subtext, den die Regisseurin und Autorin in den persönlichen Rahmen eingearbeitet hat. Wie auch Home ist L'enfant d'en haut, der international als Sister in die Kinos kommt, ein eminent politischer Film. Sein Vorgänger beleuchtete die Schattenseiten wirtschaftlicher Aufbruchsstimmung, er selbst ist tiefgreifend von der anhaltenden, die ganze Welt betreffenden Krise von Politik und Finanz geprägt. Er spielt in einer Welt, in der Klassenunterschiede kein veraltetes, von linken Radikalen missbrauchtes Konzept, sondern ein hochaktuelles Problem sind. Im grauen Tal, wo der Schnee schmutzig und matschig am Strassenrand liegt, kämpfen die unteren Schichten ums Überleben, manchmal indem sie sich, wie Simon, auf den von Agnès Godard brillant eingefangenen Berg, der allzu hell, allzu weiss leuchtet, begeben und die Konsumgesellschaft bestehlen. Die können den Krempel ja neu kaufen, so Simon.

So ist L'enfant d'en haut, obgleich er in der Schweiz spielt und von einer halben Schweizerin inszeniert und geschrieben wurde, auch ein sehr europäischer Film, ein Produkt, welches sich direkt aus der Krise Europas herausgebildet hat. Meier zeigt auf äusserst subtile Art und Weise, wie soziale Ungerechtigkeit und Ausgrenzung auch hierzulande keine unbekannten Phänomene sind. Und gerade deshalb ist sie mit grossem Abstand die zurzeit spannendste und beste Filmemacherin unseres Landes.

★★★★