Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.
Vier Jahre nach Home, ihrem international beachteten Kinodebüt,
wurde die Franco-Schweizerin Ursula Meier an der Berlinale für ihr
Zweitwerk mit einem Sonderpreis ausgezeichnet. L'enfant d'en haut
ist ein persönliches und politisches, wenn auch etwas kühles Drama.
Das Leben ist nicht einfach für den zwölfjährigen Simon (Kacey
Mottet Klein, der für seine Nebenrolle in Home einen Schweizer
Filmpreis erhielt) und seine ältere Schwester Louise (Léa Seydoux).
Die beiden leben "en bas" in einem Wohnblock in einem Walliser
Industriegebiet, während einige tausend Meter oberhalb, "en haut",
Urlauber sich dem Wintersport hingeben. Louise jobbt als Putzfrau,
wofür sie eher schlecht als recht bezahlt wird. Simon begibt sich
derweil ins Skigebiet und stiehlt allerlei Skizubehör, welches er zu
reduzierten Preisen Freunden und Hotelangestellten verkauft. Das
Geschäft hält die Geschwister zwar einigermassen über Wasser, doch
die Fischzüge werden für den geschickten Jungen immer
komplizierter, was auch seine Beziehung zu Louise nicht einfacher
macht.
Die Familie wird bei Ursula Meier gross geschrieben. Schon im
hervorragenden Home interessierte sie sich für Dynamiken und
Spannungen, denen ein familiärer Verbund unter gewissen Umständen
ausgesetzt ist. Damals waren es Menschen, deren trautes Heim von
einer Autobahn quasi unbewohnbar gemacht wurde; heute ist es ein
Kind, das sich Verantwortung aufhalst, weil seine Schwester sich
derselben entziehen will. Dieser Konflikt wird mit viel
Einfühlungsvermögen und einer glaubwürdigen Charakterentwicklung
geschildert, von zwei stark aufspielenden Hauptdarstellern
unterstützt und einem chabrolesken "Sans fin" abgerundet. Dabei
fehlt der ein wenig zu episodischen Geschichte allerdings, trotz der
sehr intimen Atmosphäre, etwas der emotionale Bezug zu den
Protagonisten, der in Meiers Erstling reichlich vorhanden war; es
gelingt keiner der beiden zentralen Figuren so richtig, das Herz des
Zuschauers zu packen.
Fliegender Händler: Simon (Kacey Mottet Klein) versucht, gestohlenes
Skizubehör zu verkaufen.
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Für diesen Makel entschädigt jedoch der raffinierte Subtext, den
die Regisseurin und Autorin in den persönlichen Rahmen eingearbeitet
hat. Wie auch Home ist L'enfant d'en haut, der
international als Sister in die Kinos kommt, ein eminent
politischer Film. Sein Vorgänger beleuchtete die Schattenseiten
wirtschaftlicher Aufbruchsstimmung, er selbst ist tiefgreifend von
der anhaltenden, die ganze Welt betreffenden Krise von Politik und
Finanz geprägt. Er spielt in einer Welt, in der Klassenunterschiede
kein veraltetes, von linken Radikalen missbrauchtes Konzept, sondern
ein hochaktuelles Problem sind. Im grauen Tal, wo der Schnee
schmutzig und matschig am Strassenrand liegt, kämpfen die unteren
Schichten ums Überleben, manchmal indem sie sich, wie Simon, auf den
von Agnès Godard brillant eingefangenen Berg, der allzu hell, allzu
weiss leuchtet, begeben und die Konsumgesellschaft bestehlen. Die
können den Krempel ja neu kaufen, so Simon.
So ist L'enfant d'en haut, obgleich er in der Schweiz spielt
und von einer halben Schweizerin inszeniert und geschrieben wurde,
auch ein sehr europäischer Film, ein Produkt, welches sich direkt
aus der Krise Europas herausgebildet hat. Meier zeigt auf äusserst
subtile Art und Weise, wie soziale Ungerechtigkeit und Ausgrenzung
auch hierzulande keine unbekannten Phänomene sind. Und gerade
deshalb ist sie mit grossem Abstand die zurzeit spannendste und beste
Filmemacherin unseres Landes.
★★★★
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