Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.
Was bedeutet der inflationär gebrauchte Begriff "desillusionierte Jugend"? Damit befasst sich der Skandinavier
Joachim Trier in seinem eindringlichen und intimen Drama Oslo,
August 31st. Dabei gelingt es ihm hervorragend, die Tragödie
einer ganzen Generation filmisch festzuhalten.
Anders (Anders Danielsen Lie) kommt aus einer
gutsituierten Familie, verbrachte eine glückliche Kindheit,
arbeitete als Journalist. Doch 2005 fällt er den Drogen anheim,
konsumiert jahrelang Heroin, Kokain und Ecstasy. Nun ist er 34 Jahre
alt und steht kurz vor dem Ende einer zehnmonatigen Entziehungskur.
Zwei Wochen vor seiner Entlassung aus der Klinik darf er für einen
Tag nach Oslo, um bei einem Vorstellungsgespräch zu erscheinen. Aber
anstatt sich zu freuen, fühlt Anders nur eine gewaltige Leere in
sich; er hat nicht die Kraft, als Mittdreissiger noch einmal bei Null
zu beginnen. Dabei helfen ihm auch Freunde und Verwandte nicht
weiter: Das Lebensglück seiner einstigen Kumpanen stellt sich als
Fassade heraus, Eltern und Schwester distanzieren sich von ihm.
Laut Abspann basiert Oslo, August 31st lose auf Le feu follet, einem kurzen Roman des wegen seiner Rolle im
Vichy-Regime des Zweiten Weltkriegs umstrittenen französischen
Autors Pierre Drieu La Rochelle. In der 1931 erschienenen Geschichte,
welche 32 Jahre später von Louis Malle (Atlantic City, Au
revoir, les enfants) verfilmt wurde, folgt der Leser den letzten
Tagen eines Alkoholikers – modelliert nach Drieus Freund Jacques
Rigot –, bevor dieser sich das Leben nimmt. Trier greift sowohl
diese persönliche Tragik als auch die angedeutete Verbindung zur
zeitgenössischen Sozialgeschichte auf, transponiert sie jedoch sehr
elegant ins Norwegen des 21. Jahrhunderts. Er findet in Anders einen
Menschen, der lange am Rande der Gesellschaft gelebt hat und nach
seinem zaghaften Wiedereintritt nicht das Glück vorfindet, das ihm
versprochen wurde. In grossartigen langen Dialogen – in ihrer
Lebensnähe durchaus an Cineasten wie Mike Leigh oder Asghar Farhadi
erinnernd – muss er feststellen, dass sich auch seine alten
Schulfreunde mehr vom Leben erhofft haben.
Anders (Anders Danielsen Lie) trifft während seines
Ausgangs aus der Drogenklinik auf alte Freunde und Liebschaften.
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Den Grund dafür enhüllt Trier mit subtiler
Charakterzeichnung. Die Generation Y – geboren zwischen dem Ende
der Siebziger und dem Anfang der Neunziger –, der alle seine
Figuren angehören, ist in einer Welt aufgewachsen, in der das
Individuum gefeiert wird und somit nicht bereit ist für die
Anonymität der Erwachsenenwelt; entweder man bleibt ein die Clubs
Oslos frequentierender 20-Jähriger im Geiste oder man passt sich an
und hasst sich dafür. Dass dies nicht formelhaft wirkt, ist nicht
zuletzt der Hauptfigur des Films zu verdanken: Anders, von Anders
Danielsen Lie famos verkörpert, ist kein künstlicher
Symbolcharakter, sondern ein lebensechter, dreidimensionaler
Protagonist.
Oslo,
August 31st mag vom zum Klischee gewordenen
skandinavisch-protestantischen Pessimismus geprägt sein, aber es
lohnt sich, die Herausforderung anzunehmen. Überdies hat es Joachim
Trier geschafft, seinem vorzüglichen Zweitwerk, passend zur inneren
Logik, einen kleinen Lichtblick zu verleihen: Anders hört in einem
Café, wie eine junge Frau eine lange Liste von Dingen herunterliest,
manche äusserst unrealistisch, die ein Freund vor seinem Tod noch
tun will. Das Leben mag hart sein, doch wer noch Träume hat, braucht
sich vor nichts zu fürchten.
★★★★
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