Donnerstag, 28. Juni 2012

We Need to Talk About Kevin

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Ob Blacksburg, Tuusula oder Winnenden, jedes Schulmassaker führt unweigerlich zur Frage nach dem "Warum". Der Psychothriller We Need to Talk About Kevin greift diese Problematik auf, beantwortet sie gnadenlos und bietet zugleich einen abgründigen Blick auf die menschliche Grausamkeit.

Seit ihr Sohn Kevin (Ezra Miller) an seiner High School ein Verbrechen begangen hat, lebt Eva Khatchadourian (Tilda Swinton) alleine in einer nicht sonderleich bemerkenswerten Vorstadt, wo sie aufs Übelste gemobbt wird: Ihr Haus und ihr Auto werden Opfer einer Attacke mit roten Farbbeuteln, sie als ehemalige Abenteurerin muss eine anspruchslose Arbeit annehmen, bei der sie von ihren Kollegen gemieden wird, sie wird auf offener Strasse geohrfeigt. Einmal die Woche besucht sie Kevin im Jugendgefängnis, wo sich die beiden gegenseitig anschweigen. Ist Eva mitschuldig an der Tat ihres Sohnes? Schon nach seiner Geburt konnte sie ihn nicht so innig lieben, wie dies ihr Ehemann Franklin (John C. Reilly) tat. Der kleine Kevin sprach lange kein Wort, trug viel zu lange Windeln und entwickelte sich schliesslich zu einem intelligenten, aber launischen und grausamen Teenager, was auch seine jüngere Schwester Celia (Ashley Gerasimovich) zu spüren bekam.

Auch in ihrem dritten Langspielfilm, ihrem ersten nach neun Jahren, bleibt die schottische Regisseurin Lynne Ramsay ihrer Vorliebe für düstere Stoffe – Tod, Verzweiflung, Schuld – und junge Schlüsselfiguren treu. Ebenso prominent tritt in We Need to Talk About Kevin ihre sehr spezielle cineastische Vision in Erscheinung, welche die ambitionierte Verfilmung des Briefromans der Amerikanerin Lionel Shriver besonders anfangs zu Fall zu bringen droht. Ganz Kevins zynischer Anprangerung der vom Fernsehen gelenkten Gesellschaft entsprechend, "zappt" Ramsay zwischen mehreren Zeit- und Handlungsebenen hin und her. Dies ist stellenweise nicht mehr als billig anmutende, plakative Effekthascherei und verträgt sich demnach nur schwer mit den geradlinigen Charakterzeichnungen Evas und Kevins.

Satansbraten: Eva (Tilda Swinton) mit ihrem noch jüngeren, sich aber schon äusserst eigenartig verhaltenden Sohn Kevin.
Sobald sich der Erzählfluss aber beruhigt hat, entfaltet der Film sein Potenzial und wird zu einer schonungslosen, provokativen und hoch spannenden Abrechnung mit modernen Sitten und Konventionen. Das Schicksal von Eva, hinter der die herausragende Tilda Swinton regelrecht verschwindet, soll letztlich nicht die Frage beantworten, ob ihre Vorbehalte gegenüber ihrem Sohn tatsächlich für dessen Entwicklung verantwortlich sind. Vielmehr interessieren sich Ramsay und Co-Autor Rory Stewart Kinnear dafür, wie abscheulich eine Welt, in der Kinder grundsätzlich heilig gesprochen werden, mit einer "gescheiterten" Mutter umgehen kann. We Need to Talk About Kevin sieht ohnehin davon ab, seine von Ezra Miller beeindruckend dargestellte Titelfigur, als simples Teufelskind abzutun. Nicht alle Äusserungen Kevins sind die Worte eines Verrückten; seine Beschreibung formelhafter Eltern-Kind-Gespräche etwa trifft den Nagel auf den Kopf.

Doch We Need to Talk About Kevin ist kein zynischer, kein rundum pessimistischer Film. Er ist durchsetzt von kleinen Lichtblicken und seine brutal ehrliche Antwort auf das verzweifelte "Warum?" ist in ihrem Nihilismus – für Eva Khatchadourian zumindest – Erlösung und Versöhnung zugleich: Es gibt keinen Grund.

★★★★

Sonntag, 24. Juni 2012

Balkan Melodie

Fernab der politischen Debatte um kriminelle Ausländer aus dem Osten Europas begibt sich Filmemacher Stefan Schwietert auf eine musikalische Reise durch den Balkan und auf die Spuren des Produzenten Marcel Cellier. Zwar ist Balkan Melodie, obgleich weniger trocken als Schwieterts Vorgängerwerk Heimatklänge, etwas ziellos. Dennoch bietet der Film Einblick in eine faszinierende Musiktradition und erinnert an eine Zeit, in welcher der Osten im kollektiven Bewusstsein nicht der Ort war, wo die Verbrecher lauerten, sondern wo das Unbekannte und damit das Abenteuer lockte.

Seit über 50 Jahren reist der Schweizer Marcel Cellier mit seiner Ehefrau Catherine durch Osteuropa auf der Suche nach talentierten Volksmusikern, mit welchen er Alben aufnimmt, die sie, im besten Fall, im Westen in Berühmtheiten verwandeln. So entdeckten die Celliers zur Zeit des Eisernen Vorhangs, als in den ländlichen Kneipen Rumäniens, Bulgariens und Jugoslawiens Lieder gegen Kollektive und Zwangsabgaben zum Besten gegeben wurden, diverse Künstler, welche später den Durchbruch schafften und Cellier zu mehreren goldenen Schallplatten und sogar einem Grammy verhalfen. Die Bemühungen des Paars hatten entscheidenden Anteil daran, dass Musiker wie der rumänische Panflötist Gheorghe Zamfir, der nach seiner Entdeckung mit Komponisten wie Francis Lai und Ennio Morricone kollaborierte und dessen Musik in Filmen wie Le grand blond avec une chaussure noire, The Karate Kid, Once Upon a Time in America, Only Yesterday oder Kill Bill: Vol. 1 zu hören ist, oder der Frauenchor des bulgarischen Staatsfernsehens, besser bekant als "Le Mystère des Voix Bulgares", ein westliches Publikum fanden. Heute ist Marcel Cellier 86 Jahre alt, doch seine Tage, welche sich zwischen der "première cigarette" und dem "dernière bière" abspielen, drehen sich immer noch um die Musik. Er und Catherine archivieren und sortieren weiterhin fleissig und sind überzeugt, dass die osteuropäische Musikszene boomt wie noch nie.

So informativ und interessant Schwieterts Heimatklänge auch war, dem Film über die schweizerische Jodeltradition fehlte eine klare, übergeordnete Vision, der Blick nach vorne. Zwar antizipierte er gewissermassen die momentane Welle dokumentarischer Annäherungen an die "Urschweiz" – sein Erfolg ebnete den Weg für Werke wie Die Kinder vom Napf, Alpsegen oder Arme Seelen –, doch davon abgesehen, fehlte ihm der Aktualitätsbezug und damit eines der essentiellen Elemente des Dokumentarfilms. Der Zeitpunkt, an dem eine Dokumentation erscheint, ist ebenso wichtig wie ihr Inhalt. Insofern verbessert sich Schwietert mit Balkan Melodie selbst. Er greift ein Thema auf, dessen Schauplatz in der Medien- und Politiklandschaft der Schweiz zurzeit heftigst – und zuweilen auf äusserst irrationale Art und Weise – diskutiert wird: Osteuropa, das steht für Asylbewerber, Ausländerkriminalität und, schenkt man der Weltwoche Glauben, stehlende und mordende Roma-Banden. Entsprechend erfrischend ist es, jemandem wie Marcel Cellier zuzuhören, der mit Westschweizer Schalk und Charme von dieser Region und ihren Bewohnern schwärmt. Natürlich schafft dies die realen Probleme nicht aus der Welt, doch dem Zuschauer wird ein anderer Balkan vor Augen geführt als man ihn von den Zeitungsaushängen gewohnt ist.

Auch im hohen Alter noch von der Musik besessen: Marcel und Catherine Cellier.
Dass auch von einem grossen Teil der Öffentlichkeit argwöhnisch betrachtete Teile der Welt eine aussergewöhnliche Kultur haben, ist im Grunde genommen offensichtlich; trotz Menschenrechtsverletzungen entsteht in Kuba grossartige Musik, floriert im Iran seit Jahren das Autorenkino. In Zeiten wie diesen, in denen Xenophobie und Rassismus wieder erstarken, schadet es aber nicht, hie und da an diese Tatsache erinnert zu werden. Die Celliers erzählen, wie fasziniert sie waren, als sie die scheinbare Sicherheit der westlichen Staaten hinter sich liessen und das Gebiet des Ostblocks betraten; mit ihrer Videokamera hielt Catherine Lenin-Statuen und -Porträts fest und filmte die Menschen, mit denen Westler nicht reden durften. Marcels Aufnahmegerät wiederum bannte die Klänge fremdartig klingender Instrumente – Cimbalons, Panflöten, Okarinas – und Stimmen von Leuten, die nicht recht glauben konnten, dass zwei Exoten, welche im Auto – selbstredend einem mit Waadtländer Nummer – die von der Sowjetunion gelenkten Staaten zwischen Wien und Istanbul bereisen, sie international bekannt zu machen vermögen. Diese mit Originalbildern und -tönen ausgestatteten Erzählungen ergänzt Schwietert, indem er in Sachen Archivaufnahmen aus dem Vollen schöpft. Er zeigt Leonid Breshnev auf Staatsbesuch in Bulgarien, propagandistische Fernsehberichterstattung, Johnny Carson, der das Album Le Mystère des Voix Bulgares anpreist, Gheorghe Zamfir, der in einer westlichen Schlagersendung auftritt. Balkan Melodie ist zu gleichen Teilen eine Rückbesinnung auf die romantische Verklärung des unbekannten Balkans sowie eine Geschichte des modernen Osteuropas: von den illegalen Gassenhauern gegen die Kollektive über die staatlich geförderte Volksmusik bis hin zum postsowjetischen Kapitalismus und dem Balkanpop.

Tradition trifft auf Moderne: Volksmusik im industrialisierten Osteuropa.
Was der Film jedoch vermissen lässt, sind ein eindeutig abgestecktes Ziel und ein etwas umfassenderer Blick. Schwietert besucht diverse Protagonisten von Celliers Reisen und lässt sie über ihre Karrieren und über die Musik ihrer jeweiligen Länder sinnieren, darunter Gheorghe Zamfir, der durch markige Worte und ein womöglich etwas übersteigertes Selbstbewusstsein auffällt. Es fällt nicht schwer, in ihm den Mann zu sehen, der sich mit den Celliers zerstritt, weil er der Auffassung war, er würde von arroganten Schweizer Produzenten finanziell über den Tisch gezogen. Würde sich Balkan Melodie nicht nur mit einigen wenigen "Projekten" Marcels auseinandersetzen, wäre die Entscheidung, diese Episode bloss anzuschneiden, durchaus nachvollziehbar; so aber wird diese offenkundig einschneidende Erfahrung zu abrupt eingeführt, zu oberflächlich behandelt und zu schnell wieder fallen gelassen. Überhaupt wirkt Schwieterts Film etwas allzu spartanisch. Als Verneigung vor der osteuropäischen Musik und ihrem Schweizer Propheten Cellier ist der Film viel zu eng gefasst; dass fünf Jahrzehnte musikalischer Reisen auf drei bis vier Künstler reduziert werden, wirkt doch ein wenig mager.

Trotzdem gehört Balkan Melodie zu den besseren Erzeugnissen der hiesigen Dokumentarfilm-Produktion der letzten Jahre. Nicht nur sieht er davon ab, die Rolle der Schweiz besonders zu akzentuieren und unterschwellig rot-weissen Patriotismus einfliessen zu lassen, es gelingt ihm, sein Thema in einen zeitgeschichtlichen Kontext zu stellen, der über die blosse Schönheit der Musik hinausgeht.

★★★

Donnerstag, 21. Juni 2012

Happy, Happy

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Das norwegische Kino steht, grob gesagt, auf zwei Grundpfeilern: düsteren Dramen und abseitigen Komödien. Happy, Happy bewegt sich mit seiner süffisant-ironischen Aufarbeitung zweier Ehekrisen irgendwo dazwischen. Allzu viel Eindruck hinterlässt das Werk allerdings nicht.

Nett, aber langweilig. So lässt sich das Leben der Mittdreissigerin Kaja (Agnes Kittelsen) wohl am besten zusammenfassen. Mit ihrem Mann Eirik (Joachim Rafaelsen) und ihrem Sohn Theodor (Oskar Hernæs Brandsø) lebt sie in einem kleinen norwegischen Dorf. Im Ehebett herrscht derzeit Flaute; Theodor spielt nur mit Eirik, sofern dieser nicht auf der Jagd ist; und sogar das Wetter zeigt sich von seiner eintönigen Seite: Schnee, wohin das Auge auch blickt. Kaja zeigt sich entsprechend erfreut, als im Haus nebenan das Ehepaar Elisabeth (Maibritt Saerens) und Sigve (Henrik Rafaelsen) mit ihrem dunkelhäutigen Adoptivsohn Noa (Ram Shihab Ebedy) einzieht. Auch deren Beziehung hat schon bessere Zeiten gesehen; der Grund für den Umzug war denn auch eine Affäre Elisabeths. Bei gemeinsamen Abendessen lernen sich die beiden Paare näher kennen, was bald schon zu einer leidenschaftlichen Affäre zwischen Kaja und Sigve führt. Diese bleibt nicht lange geheim, wodurch es im lokalen Chor, wo Kaja, Sigve und Elisabeth mitsingen, zu einigen unangenehmen Situationen kommt.

Der Begriff des skandinavischen Films ist oft mit dem des Naturalismus verbunden. Diese Tradition wird in Happy, Happy – Originaltitel: Sykt lykkelig, was übersetzt soviel heisst wie "Wahnsinnig glücklich" –, dem erst zweiten Langspielfilm von Regisseurin Anne Sewitsky, konsequent weitergeführt. Die ausgedehnten, mit verlegenen Pausen versehenen Dialoge erinnern in ihrer Lebensnähe an diejenigen Diablo Codys (Juno, Young Adult), sind aber, anders als bei der Amerikanerin, nicht komödiantisch-absurd überhöht. Es ist nicht primär der Inhalt, der die Lacher generiert – wobei auch dieser mehrfach zum Zuge kommt, etwa wenn Noas Herkunft erwähnt wird ("Ist das ein afrikanischer Name?") –, sondern die unangenehme Atmosphäre einer Szene. Von der den Raum einengenden Handkamera unterstützt, zeichnen die Autorinnen Mette M. Bølstad und Ragnhild Tronvoll mit einfachsten Mitteln das Bild zweier stagnierender Beziehungen, von vier Menschen, die sich nach Abwechslung und Neuanfängen sehnen. So entstehen einige virtuose Szenen, wobei vor allem der Spielabend mit dem ominösen "Partnerspiel" und Eiriks Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität herausstechen.

Noch steht der Frieden: Kaja (Agnes Kittelsen), Eirik (Joachim Rafaelsen), Elisabeth (Maibritt Saerens) und Sigve (Henrik Rafaelsen) beim Spielabend.
Hätte der Film diese Formel beibehalten können – intelligente und subtile Charakterstudien, angereichert mit alltäglichem, teils recht gewagtem Humor –, Happy, Happy könnte als vollauf gelungenes Projekt bezeichnet werden. Doch leider geht Sewitskys Film im letzten Drittel unerklärlicherweise die Luft aus; das Ganze fällt buchstäblich in sich zusammen. Die Inszenierung, bis zu diesem Zeitpunkt konsequent geradlinig, verzettelt sich mit allzu konfusen Einlagen, etwa Eiriks und Kajas norwegisch-deutsch-englischem Streitgespräch, welche so überhaupt nicht zum bis dato angeschlagenen Ton passen. Es scheint, als hätten sich Bølstad und Tronvoll nicht entscheiden können, was für ein Ende sie ihren jeweiligen Figuren gewähren sollten. Wieder einmal zeigt sich, dass auch die beste Geschichte unter einem unbefriedigenden Abschluss leidet.

★★★

Mittwoch, 20. Juni 2012

Rock of Ages

Das Musical, in Hollywoods goldenem Zeitalter eines der Industrie-Flaggschiffe, mag seine einstige Grösse eingebüsst haben, doch profitabel ist das Genre nach wie vor. Baz Luhrmans Moulin Rouge! (2001) geniesst trotz eklatanter Schwächen ein hohes Ansehen; Bill Condons Chicago (2002) gewann sechs Academy Awards, einschliesslich Bester Film – eines der umstrittensten Oscar-Jahre des neuen Jahrtausends –; und Phyllida Lloyds Mamma Mia! (2008), die Verfilmung des gleichnamigen ABBA-Musicals, spielte über 600 Millionen Dollar ein. Der neue Hit des Genres soll nun die auf Chris D'Arienzos Bühnenhommage an den Heavy Metal der Achtzigerjahre basierende musikalische Komödie Rock of Ages sein. Qualitativ bleibt Adam Shankmans Film anderen Jukebox-Singspielen treu: Viele Songs, von denen nur wenige überzeugen, durchschnittliche Gesangsleistungen, falsche Nostalgie und eine überlange Alibi-Geschichte.

Los Angeles, 1987: Die Rockmusik boomt in Form von Glam- und Hairmetal, das Mekka dieser Stilrichtung ist der bekannte Bourbon Club am Sunset Strip, der vom Alt-Rocker Dennis Dupree (Alec Baldwin) geleitet wird. Mit seinem Asssistenten und besten Freund, dem überdrehten Lonny (Russell Brand), kämpft Dennis zurzeit ums Überleben: Sein Club hat Schulden und die religiöse Rechte, allen voran Patricia Whitmore (Catherine Zeta-Jones), die Gattin des Bürgermeisters (Bryan Cranston), setzt alles daran, den Teufelsmusik-Sündenpfuhl schliessen zu lassen. Die letzte Hoffnung ist ein Konzert der legendären Rockband Arsenal mit ihrem dauerbetrunkenen Bandleader Stacee Jaxx (Tom Cruise), dem die Frauen scharenweise zu Füssen liegen – etwa die Rolling Stone-Korrespondentin Constance Sack (Malin Åkerman). Doch Dennis hat die Rechnung ohne Stacees hinterhältigen Manager Paul Gill (Paul Giamatti) gemacht. An jenem schicksalhaften Arsenal-Konzert trennen sich aufgrund eines Missverständnisses auch die Wege von Sherrie (Julianne Hough) und Drew (Diego Boneta). Sie ist erst vor kurzem von Oklahoma nach Los Angeles gezogen, um Sängerin zu werden, wo sie den ehrgeizigen Musiker Drew kennenlernte, welcher ihr sogleich eine Stelle im Bourbon Club verschaffte. Inmitten all dieser Irrungen und Wirrungen gibt es nur zwei Konstanten: die Liebe und die Rockmusik.

Man kann von Tom Cruise halten, was man will, doch es steht ausser Frage, dass er ein Schauspieler mit Format ist, einer, der auch einen mittelmässigen Film aufwerten kann und dessen Auftritte in der Regel einen positiven Eindruck hinterlassen – was wäre Tropic Thunder ohne seinen vulgär-aggressiven, Diet-Coke-schlürfenden Produzententyrannen Les Grossman? In Rock of Ages jedoch markiert Cruises Auftritt den Punkt, an dem das ganze Projekt endgültig Schiffbruch erleidet. Der plump eingeführte Stacee Jaxx wird als ultimativer Rockgott aufgebaut, als die Verkörperung des Mantras "Sex, Drugs, and Rock 'n' Roll". Trunkenheit, Groupies im Überfluss und chronische Verspätung – diese führt zu einem der gelungeneren Witze – sind das Eine, satanistische Rituale, denen auch hie und da ein Konzerttermin zum Opfer fällt, das Andere. Doch als Stacee die Bildfläche endlich betritt – er entsteigt einem Gewirr aus Frauenkörpern –, steht da ein behäbiger, sich in seiner Rolle als Ikone offensichtlich zu sehr gefallender Tom Cruise. Seine im Vorfeld gross angekündigte Darbietung hat in etwa die Wirkung eines Beruhigungsmittels; jede Szene, in der Stacee figuriert, scheint sich in Zeitlupe abzuspielen; es fehlt jegliche Energie. Diese Langeweile ist aber nicht durch sein Dasein als abgehalfterter Star bedingt; das Gefühl bleibt auch nach seiner "Läuterung" bestehen. Dass Cruise darüber hinaus noch äusserst dürftig singt, hilft seiner Überzeugungskraft ebenso wenig.

Vom Rock Getriebene: Clubbesitzer Dennis (Alec Baldwin, rechts) und Lonny (Russell Brand, links) mit dem Landei Sherrie (Julianne Hough) und ihrem neuen Freund Drew (Diego Boneta).
Allerdings steht zu bezweifeln, dass Rock of Ages ohne Cruises Stacee bedeutend besser gewesen wäre. Obwohl mit seinem Auftritt die Geschichte abflacht und sich zunehmend in abgedroschenen Klischee-Situationen erschöpft, ist sie ohnehin Nebensache, was in einem 123-minütigen Film besonders schwer wiegt. Die Prämisse ist eine weitere Variation von A Star Is Born – bis hin zur die weibliche Hauptfigur ermutigenden Verwandten aus der Provinz – und ist für Adam Shankmans Mission, möglichst viele "klassische" Rocksongs spielen zu lassen, nicht weiter wichtig. Selten erreicht ein Gesangsintermezzo sein Ziel, das Publikum mitzureissen. Journeys "Any Way You Want It" steht als einsamer Höhepunkt in einem Sumpf von Nummern, von denen nur einige wenige sich qualitativ dezent abheben, die meisten aber wirkungslos vorbeiziehen. Dabei stört nicht nur die schiere Anzahl – jeder längere Dialog mündet in eine Musicaleinlage –, sondern auch die unglaubliche Heuchelei: Rock of Ages mokiert sich über Pop und predigt Rock in seiner härtesten Form, doch er lebt dieses Ideal, mit wenigen Ausnahmen, nicht vor. Im Gegenteil: Die meisten Songs, egal ob von Twisted Sister, Guns N' Roses oder Bon Jovi, sind weichgespülte Popmusik in ihrer bekömmlichsten Form.

Aber es sind nicht nur die Lieder, welche unstimmig wirken. Auch viele der Mitwirkenden vor und hinter der Kamera scheinen nicht in ihrem Element zu sein. Shankmans über weite Strecken gelungene Choreografie sowie Bojan Bazellis Kameraarbeit werden von allzu vielen ärgerlichen Dialogen überschattet, die man so von den Autoren Justin Theroux (Tropic Thunder, Iron Man 2) und Chris D'Arienzo nicht erwartet hätte. Hier macht sich wohl die Mitarbeit vom Dritten im Bunde, Allan Loeb (Wall Street: Money Never Sleeps, The Dilemma, Just Go with It), bemerkbar. Ebenso ermüdend wirkt das lieblose Setting. Der Film mag im Jahr 1987 spielen, doch visuell ist das nur schwer zu erraten. Einzig das Erscheinungsbild von Drews Pop-Rap-Boyband, welche schon auf die frühen Neunzigerjahre vorausgreift, wirkt originalgetreu. Ansonsten beschränkt sich die Ausstattung darauf, Wände mit zeitgenössischen Fotos und Plakaten einzudecken, während vor dem Bourbon Club Konservative gegen Rock demonstrieren, als befände man sich irgendwo in den Fünfzigerjahren der TV-Serie Happy Days.

Sex, Drugs, and Rock 'n' Roll: Arsenal-Frontmann Stacee Jaxx (der langweilige Tom Cruise) bei einem Auftritt.
Und der hochkarätige Cast hält ebenfalls nicht, was er verspricht. Paul Giamattis wunderbar monotone Lakonie passt hervorragend zum zynischen Paul Gill; Russell Brand wiederum überrascht mit einigen guten, weil angenehm ironischen Linien – seine britisch-trockenen Band-Ansagen belegen sein unbestrittenes komödiantisches Flair. Doch Giamatti und Brand stehen einer Masse von Darstellern gegenüber, die nicht befriedigen können. Bryan Cranston und der etwas gelangweilt wirkende, aber dennoch mit vereinzelten Witzen auftrumpfende Alec Baldwin werden schamlos verheizt; Catherine Zeta-Jones überzeugt als chargierende Antagonistin kaum; und Julianne Hough und Diego Boneta, die "Romantic Leads", sind blasse Stereotypen, farblose Abziehbildchen.

Die Frage, ob Shankmans neuer Film nun besser oder schlechter als andere Jukebox-Musicals wie Mamma Mia! oder Moulin Rouge! sei, ist letztendlich müssig. Er hält sich an die risikolosen, massentauglichen Genre-Formeln und überrascht nur in homöopathischen Dosen. Dass diese Strategie zu Kassenschlagern führen kann, wurde hinlänglich demonstriert, doch eine gloriose Wiedergeburt des Filmmusicals deutet sich nicht an: Ein Blick auf die Ticketverkäufe zeigt, dass Rock of Ages auf dem besten Wege dazu ist, nicht nur qualitativ, sondern auch finanziell abzustürzen.

★★

Machine Gun Preacher

Ein Grundgedanke vieler Religionen, insbesondere der christlichen, ist der Glaube, dass ein Mensch mittels Konvertierung auf den "rechten Weg" geführt werden kann, dass er Gott und das Gute annimmt und das Böse zu überwinden versucht. Dennoch dürfte die verblüffende Geschichte des Amerikaners Sam Childers ein Unikum sein. Über das Christentum fand das einstige Hells-Angels-Mitglied eine neue Aufgabe. Seit 1998 kümmert er sich im ugandisch-sudanesischen Grenzgebiet um verwaiste Kinder auf der Flucht vor den Terroristen der "Lord's Resistance Army". Marc Forster verfilmte Childers' Leben, basierend auf dessen Autobiografie Another Man's War, in Machine Gun Preacher, einem Film, der den Spagat zwischen Action- und Kriegsfilm und inspirierendem, von leisen propagandistischen Anklängen begleitetem, christlichem Biopic versucht. Das Resultat ist ein Streifen so widersprüchlich wie Sam Childers selbst.

Sam (Gerard Butler) ist alles andere als ein angenehmer Zeitgenosse. Frisch aus dem Gefängnis entlassen, konsumiert er mit seinem Kumpel Donnie (Michael Shannon) schon wieder harte Drogen und schreckt auch vor Messerstechereien und Raubüberfällen nicht zurück. Als er erfährt, dass eines seiner Opfer an seinen Wunden gestorben ist, lässt er sich von seiner Frau, der zum Christentum bekehrten Ex-Stripperin Lynn (Michelle Monaghan), dazu überreden, zur Messe mitzukommen. Nach einigem Zögern lässt er sich taufen und beginnt ein neues Leben als Chef einer Baufirma. Doch sein Wille, anderen Menschen zu helfen, ist damit noch nicht gestillt. Der Besuch eines in Uganda missionarisch tätigen Pastors beim sonntäglichen Gottesdienst ermutigt Sam dazu, ebenfalls nach Afrika zu fliegen, wo er sich mit dem Soldaten Deng (Souléymane Sy Savane) anfreundet. Er beginnt sich für die politische und soziale Situation zu interessieren und begibt sich auch in den vom Krieg gezeichneten Südsudan. Er gründet die Organisation "Angels of East Africa, Children's Village in South Sudan" und baut ein Waisenhaus für Kinder, welche Opfer der Gewalt der LRA-Käpfer geworden sind. Dies bringt ihm nicht nur die Bewunderung des südsudanesischen Friedenspolitikers John Garang (Fana Mokoena), sondern auch den Ärger Konys ein. Die blutigen Angriffe der LRA bleiben aber nicht ungesühnt: Sam, der sich zunehmend von Lynn und seiner Tochter Paige (Madeline Carroll) distanziert, hat keine Hemmungen, auch zur Waffe zu greifen.

Als der Film eigentlich schon vorüber ist, als neben Cast and Crew auch Fotos und Filmaufnahmen der realen Protagonisten – Sam, Lynn, Paige, Deng, Joseph Kony – zu sehen sind, als Chris Cornells für einen Golden Globe nominierter Song "The Keeper" gespielt wird, da wendet sich der echte Sam Childers, heute 50 Jahre alt, ans Publikum: "If somebody you love is kidnapped and I said I could bring them home to you, does it matter how I bring them home?" Die Frage ist durchaus interessant, nicht zuletzt weil sie sogleich eine weitere aufwirft: Kann Töten ein gerechtfertigtes Mittel zum Zweck sein? Das Problem ist Jahrtausende alt und hat schon viele grosse Philosophen beschäftigt. Doch leider ist dieses direkte Zitat die einzige Annäherung an dieses gewichtigte ethische Dilemma, die Machine Gun Preacher anbietet. Insofern illustriert diese kurze Abspannsequenz eher, welche Chancen Regisseur Marc Forster und Autor Jason Keller (Mirror Mirror) verpasst haben und wie schwierig es ist, sich der Person Sam Childers zu nähern. Würde dieser seine humanitären Bemühungen darauf beschränken, verwaisten Kindern und verfolgten Müttern aus der sudanesischen Krisenregion ein sicheres Zuhause zu geben, liesse sich darum herum problemlos eine inspirierende Geschichte einer Vom-Saulus-zum-Paulus-Wandlung konstruieren. Dass der ehemalige Hells Angel aber auch als Christ ein praktizierender Waffenfan ist, verleiht der Angelegenheit eine recht brisante Dimension, mit der Machine Gun Preacher nicht so richtig umzugehen weiss.

Sam (Gerard Butler, links) und sein Kumpel Donnie (Michael Shannon) während einer handfesten Auseinandersetzung.
Der Film bemüht sich, Sams Taufe im wörtlichen Sinne darzustellen – als Wiedergeburt. Mit seiner Gottfindung fallen, wenn nicht alle, so doch die meisten seiner schlechten Eigenschaften ab; er wird zum rundum erneuerten Menschen, der allen helfen und niemanden mehr verletzen will. Zwar wird diese Entwicklung vor allem auf der mentalen Ebene etwas allzu rasch abgewickelt, doch wie sie sich abspielt, ist relativ klar. Weniger klar ist, wie Sam dazu kommt, sich über das sakrosankte sechste Gebot hinwegzusetzen und anfängt, gegen die LRA-Schergen paramilitärisch vorzugehen. Dieser ebenso wichtige wie nachvollziehbare Schritt wird von Keller etwas unter den Teppich gekehrt und auf unbeholfene Art und Weise mit einer Glaubenskrise verbunden. Nach und nach beginnt Sam, der trotz unsteter Charakterzeichnung von Gerard Butler sehr gut verkörpert wird, die amerikanische Konsumgesellschaft anzuprangern – wobei er von einigen überaus prätentiösen Schnitten unterstützt wird – und in der von ihm gebauten Kirche in Pennsylvania Hilfe anzufordern. Er verwandelt sich in einen jener religiösen Extremisten, die er in Afrika bekämpft. Dieses Paradox vermag Keller nie ganz aufzulösen; die Bewertung der gewaltsamen Seite seines Einsatzes bleibt aus; selbst die ethischen Fragen, bei denen beide Seiten überlegenswerte Argumente hätten, werden nicht konsequent gestellt. Vielmehr bemüht sich der Film, keine religiösen Gefühle zu verletzen: Sams Radikalisierung wird mit einem "I don't feel God anymore" abgetan; Religiosität triumphiert über eine mögliche rationale Auseinandersetzung mit dem Thema.

Überhaupt ist es Kellers Drehbuch, welches die Qualität von Machine Gun Preacher deutlich beeinträchtigt. Dem Ganzen mag ein guter Rhythmus unterlegt sein – Forsters über weite Strecken solide Regie hilft dabei –; trotzdem strapazieren die vielen Auslassungen und abrupten Zeitsprünge die Glaubwürdigkeit des Erzählflusses. So nehmen etwa Sams Entzug oder der Bau einer Kirche nur einige Sekunden in Anspruch. Auch die Dialoge, die Keller als Theaterautor eigentlich beherrschen sollte, entbehren stellenweise jeglichen Realismus; das zehnjährige Flüchtlingskind, das in der Manier einer mehr als doppelt so alten Person philosophiert, wirkt sich da besonders negativ aus. Das vermittelte Weltbild schliesslich fällt primär durch seine vereinfachten Parolen auf, besonders dann, wenn Religion zum Thema erhoben wird. Das Amerika in Machine Gun Preacher ist in gläubige, gutbürgerliche Mittelständler und gewalttätige Drogenabhängige geteilt; die von einer eher eindimensionalen Michelle Monaghan gespielte Lynn hat ihre Arbeit als Stripperin anscheinend nur deshalb aufgegeben, weil sie damit den Werten Gottes zuwiderhandelte. Doch es ist auch das LRA-Problem, welches enttäuschend oberflächlich angegangen wird – man erinnere sich an die umstrittene "Kony 2012"-Kampagne – und von Inkonsistenzen durchsetzt ist: Deng bezeichnet sich selbst als "freedom fighter", denunziert andere Gruppen aber als "Rebellen".

Der "Machine Gun Preacher" in seinem Element: Sam mit seinem neuen Freund Deng (Souleymane Sy Savane) im Sudan.
Und doch ist Machine Gun Preacher weniger beleidigend, als sich denken liesse. Der Film hat sein Herz auf dem rechten Fleck und profitiert von Sam Childers spannender Vita. Doch mit seiner verwirrten Einstellung, den effekthascherischen Actionsequenzen, deren Zweck es wäre, zu schockieren, und seinem pädagogisch erhobenen Zeigefinger ist Forsters achte Regiearbeit eine eher frustrierende Angelegenheit, ein Film, bei dem man sich fragen muss, ob er denn wirklich nötig gewesen wäre.

★★

Donnerstag, 14. Juni 2012

The Deep Blue Sea

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Der Brite Terence Davies lässt in seinem neuen Film zwei scheinbar angestaubte Genres aufeinandertreffen: das Liebesdrama und die Theateradaption. Seine Terence-Rattigan-Verfilmung The Deep Blue Sea ist eine gepflegt inszenierte, wenn auch stellenweise etwas behäbige Romanze.

Im London der späten Vierziger- oder frühen Fünfzigerjahre – der Film schweigt sich über das genaue Datum aus – trifft die verheiratete Hester (Rachel Weisz) Vorbereitungen zum Selbstmord: Sie schluckt Tabletten, sie dichtet den Raum ab, sie schaltet das Gas ein. Wie konnte es dazu kommen, dass eine privilegierte Frau wie sie, Lady Collyer, Gattin des angesehenen Richters William Collyer (der glänzende Simon Russell Beale), des Lebens müde wurde? Der Grund ist der junge Freddie (Tom Hiddleston), in den sie sich unsterblich verliebt hat. Die Liebe bleibt aber unerfüllt, da William nicht in die Scheidung einwilligt und Freddie, der immer noch seiner Kriegserfahrung – er kämpfte als Pilot bei der Schlacht um England – nachhängt, Hesters Leidenschaft nicht gerecht werden kann.

Der Begriff "klassisches Hollywoodkino" hat viele Konnotationen: Für die einen evoziert es Film Noirs wie The Maltese Falcon oder Double Indemnity; andere denken an filmische Meilensteine wie Casablanca oder Gone with the Wind; wieder anderen fallen die unzähligen mit niedrigem Budget gedrehten Technicolor-Melodramen ein. Letztere sind vor allem mit dem Namen Douglas Sirk – eigentlich Hans Detlef Sierck – verbunden, Vorbild von Filmemachern wie Rainer Werner Fassbinder oder Pedro Almodóvar, Regisseur von Werken wie Magnificent Obsession oder All That Heaven Allows, auf dem Fassbinders Angst essen Seele auf lose basiert. In The Deep Blue Sea, einer Adaption von Terence Rattigans gleichnamigem Bühnenstück aus dem Jahr 1952, eifert Terence Davies (The House of Mirth) nun dem grossen Sirk nach. Oder er versucht es zumindest. Mit satten Farben, ausladender Musik und getragener Inszenierung gelingt es Davies, die Dreiecksbeziehung Hester-Freddie-William sehr stimmig einzufangen. Das Ganze ist grandios arrangiert – grosses Lob an Kameramann Florian Hoffmeister – und durchsetzt von Szenen purer Schönheit; unvergesslich die lange Kamerafahrt durch die zum Bunker umfunktionierte U-Bahn-Station. Zudem liefert die minimalistisch agierende und dadurch maximale Wirkung erzielende Rachel Weisz wohl ihre beste Performance seit The Constant Gardener (2005, Oscar) ab, was dem Zuschauer etwas über die Blässe ihres Gegenübers Tom Hiddleston hinweg hilft.

Eingeengte Beziehung: Hester (Rachel Weisz) und Freddie (Tom Hiddleston) versuchen sich – entgegen den sozialen Konventionen – zu lieben.
Bedauerlicherweise ist Davies als Autor weniger erfolgreich als in der Rolle des Regisseurs. Zwar greift seine Verfilmung Rattigans Ironie sowie die Anspielungen auf den Konflikt der Generationen und die Konventionen im England der Nachkriegsjahre sehr elegant auf; doch der Plot ist zu umständlich gestaltet, die beiden Handlungsstränge zu unsauber miteinander verknüpft. Es reihen sich Szenen aneinander, welche nur bedingt korrelieren; der Spannungsaufbau einer Sequenz läuft ins Leere; die abgehackte Erzählung mag nicht so richtig zur elegischen Geschichte passen. So bleibt The Deep Blue Sea eine inhaltlich nur zum Teil überzeugende Angelegenheit. Davies bietet einen thematisch spannenden Film von höchstem ästhetischem Wert, dem letztendlich die Stringenz – etwa die eines Douglas Sirk – fehlt.

★★★

Freitag, 8. Juni 2012

Tyrannosaur

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Regiedebüts von Schauspielern gibt es wie Sand am Meer. Manche sind gut, manche eher weniger. Doch nur selten vermag ein Neuling auf dem Regiestuhl ein Werk von derart archaischer, roher Kraft abzuliefern, wie dies Paddy Considine mit Tyrannosaur gelungen ist.

Der erste Eindruck, den man als Zuschauer vom Protagonisten, einem arbeitslosen Witwer, erhält, ist denkbar schlecht. Joseph (Peter Mullan) verlässt wutentbrannt ein Pub im englischen Leeds. Gerade ist er bei einer Wette übers Ohr gehauen worden. Vor der Bar wartet sein angebundener Hund, Bluey, auf ihn. Joseph packt die Leine und schleift ihn hinter sich her; doch das Tier bewegt sich nicht schnell genug, also tritt er ihm in die Rippen. Für Bluey ist das zu viel; er stirbt noch in derselben Nacht. Joseph begräbt ihn am nächsten Morgen; danach versucht er, in einer Bar die Trauer über den Tod seines Kumpels zu ertränken. Doch da gehen ihm schon bald grölende Halbstarke auf die Nerven. Um nicht erneut komplett auszurasten, sucht er Schutz im Kleiderladen Hannahs (Olivia Colman), welche als gute Christin anfängt, für ihn zu beten. Trotz Josephs rüder Bemerkungen entwickelt sich zwischen den beiden in der Folge eine Freundschaft, denn auch Hannah geht es nicht gut: Ihr Ehemann (Eddie Marsan) schlägt und erniedrigt sie.

Das Risiko, welches Paddy Considine mit seinem ersten Langspielfilm eingegangen ist, lässt sich allein anhand der Art und Weise, mit der das Ganze ins Rollen gebracht wird, illustrieren: Der Hauptcharakter tritt seinen Hund zu Tode, das ist Gift für die Zuschauerzahlen. Gleichzeitig zeigt dieser harsche Einstieg aber auch Considines Klasse. Die erschüttert nämlich nur sekundär wegen Blueys Tod. Im Vordergrund steht Josephs sofortige Reue, die Verzweiflung über seine Wut, die ihn seinen treuesten Freund gekostet hat. So lässt sich schon nach wenigen Minuten erahnen, dass sich hinter dem brutalen Äusseren des Protagonisten mehr verbirgt als auf den ersten Blick sichtbar ist. Tyrannosaur porträtiert Joseph als ein von Gewalt Getriebener unter vielen.

Im Zeichen der Gewalt: Joseph (Peter Mullan) in seinem Haus.
"I'm not a nice human being", sagt er. Doch wie Hannah ahnt auch der Zuschauer, dass dies nur die halbe Wahrheit ist. Considine inszeniert seine zentrale Figur als erwachsene und verrohte Form der "Angry Young Men" aus dem britischen New-Wave-Kino der frühen Sechzigerjahre – Marke Tony Richardson oder Lindsay Anderson –, der immens unter diesem enormen Zorn leidet. Anders als jene Filme jedoch ist Tyrannosaur weder allegorisch noch sonderlich sozialkritisch. Er gewährt einen fesselnden Einblick in das Leben zweier gebrochener, kaputter Menschen, welche beide Halt beim jeweils Anderen suchen. Erik Wilsons Kamera ist nah an den Gesichtern, in denen sich tiefe Traurigkeit und Desillusionierung widerspiegeln. Olivia Colman brilliert als scheinbar perspektivlose, sich selber in ihrer Apathie hassende Christin und ist eine würdige Ergänzung zur Urgewalt Peter Mullan, welcher mit einer unglaublichen Intensität spielt. Ist er nun wütend oder zärtlich, etwa in seinen Szenen mit dem kleinen Nachbarsjungen Sam (Samuel Bottomley), man fühlt mit ihm – egal wie schwer es auch fallen mag.

Paddy Considines Debüt als Regisseur ist beileibe kein einfaches. Tyrannosaur ist ein düsteres und unerbittliches, aber eben auch grenzenlos faszinierendes Charakterdrama. Zweifelsohne einer der besten Filme dieses Jahres.

★★★★★

Sonntag, 3. Juni 2012

Men in Black 3


★★★

15 years ago, Barry Sonnenfeld, a cinematographer (When Harry Met Sally, Miller's Crossing, Misery) turned director (The Addams Family, Get Shorty), landed one of 1997's surprise box office hits. Men in Black, a comic-based science-fiction comedy about a surly older man and a talkative young Will Smith working for an organisation fighting alien criminals, was released to wide critical acclaim, grossed over half a billion dollars, and was nominated for three Oscars, winning one. The sequel followed five years later. It, too, made enough money to be called a hit but most critics loathed it, and not without reason: Men in Black II was sillier, cornier, more banal, and less imaginative than its predecessor. And now the world is presented with Men in Black 3. Can Barry Sonnenfeld return to the class of the original? Unfortunately, no, but compared to the first sequel the second one is a breath of fresh air and well worth the price of admission.

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).

Samstag, 2. Juni 2012

The Dictator

In der Tradition der "versteckten Kamera" und der Eskapaden von MTV-Exponenten wie Tom Green (Freddy Got Fingered) trieb der Brite Sacha Baron Cohen ab der Jahrtausendwende seinen Schabernack. Als britischer Rapper Ali G, als kasachischer Reporter Borat Sagdiyev sowie als österreichischer Modejournalist Brüno verwickelte er arglose Leute in politisch hochgradig unkorrekte Gespräche und demaskierte dabei seine Gegenüber oft als bigotte Heuchler – Sokrates trifft auf Jackass. Damit scheint es nun aber vorbei zu sein. Nach Borat und Brüno spannt Baron Cohen zum dritten Mal mit Regisseur Larry Charles zusammen und präsentiert mit The Dictator, ursprünglich als Verfilmung eines Romans von Saddam Hussein konzipiert, einen vollumfänglich geskripteten Film. Die alten Schwächen bleiben bestehen, doch Baron Cohen beweist sich auch in diesem Format als schamloser Agent provocateur erster Güte.

Im Nordosten Afrikas, irgendwo zwischen dem Sudan und Somalia, liegt der kleine, aber glorreiche, Wüstenstaat Wadiya, regiert von Admiral General Aladeen (Sacha Baron Cohen). Zum Wohle seines Volkes baut er die Atombombe – Mahmoud Ahmadinejad, der wie ein "Spitzel aus Miami Vice" aussieht, hat ja immerhin auch eine –, er leistet sich jeden Luxus, empfängt Starlets wie Megan Fox (ein sympathisch selbstironischer Gastauftritt) in seinen Gemächern und lässt reihenweise Menschen umbringen. Diese Zustände rufen die UNO auf den Plan, die den Potentaten dazu zwingen wollen, einen Vertrag zu unterzeichnen, durch den sich Wadiya über Nacht zur Demokratie wandeln würde. In New York angekommen, wird Aladeen von einem Auftragskiller (John C. Reilly), angeheuert von seinem Sekretär und Onkel Tamir (Ben Kingsley), entführt und rasiert. Ohne Bart und Unterwäsche irrt der gefallene Diktator nun zum UNO-Hauptquartier, wo er mitansehen muss, wie Tamir an seiner Statt der Welt ein Double vorführt. Mit der Hilfe der unverbesserlichen Weltverbessererin Zoe (Anna Faris) plant Aladeen nun, die Macht wieder an sich zu reissen.

Beginnt eine amerikanische Produktion mit der Widmung "In Loving Memory of Kim Jong-il", dann verspricht dies einen äusserst provokanten Film, der vor keinem Tabu Halt macht. Dass dies auf The Dictator zutrifft, lässt sich kaum abstreiten. Sacha Baron Cohen und Larry Charles sowie die Co-Autoren Alec Berg, David Mandel und Jeff Schaffer lassen sich von den Grenzen des guten Geschmacks nicht beeindrucken und brennen ein veritables Feuerwerk an gewagten, für manchen Zuschauer sicherlich auch unangenehmen Witzen und Pointen ab. Diese nehmen viele verschiedene Formen an. Mal entspannt sich Aladeen bei einer gemütlichen Partie "Munich Olympics" auf seinem Nintendo Wii – das Spiel beginnt mit dem Klopfen an der Tür der israelischen Delegation; mal reflektiert er über die amerikanische Weltmacht – "America! Built by the blacks, owned by the Chinese!"; mal erschreckt er seinen Assistenten mit einem abgeschlagenen Kopf; mal führt er, in der schwärzesten halben Minute des Films, eine ausgedehnte Diskussion über Kinderpornografie und Pädophilie. Sich in einer nach Ausrutschern von Prominenten gierenden Welt über ein derart heikles Thema zu mokieren, verdient nicht nur einen kathartischen Lacher, sondern auch Respekt.

Der grosse Führer des glorreichen Staates Wadiya: Admiral General Aladeen (Sacha Baron Cohen) vorher...
Doch der humoristische Reiz von The Dictator erschöpft sich nicht im Brechen geschmacklicher und sozialer Konventionen. Hinter der für den Hauptdarsteller und den Regisseur (Religulous) so typischen brachialen Provokation, die vielfach so wirkt, als wäre sie um der Provokation Willen aufgefahren worden – und das muss kein Vorwurf sein, denn das politisch Unkorrekte funktioniert nicht zuletzt wegen seiner schieren Geschmacklosigkeit –, verstecken sich durchaus harsche Anspielungen auf die Heuchelei westlicher Wohlstandsnationen gegenüber "primitiveren" Staatsformen, wobei Tamirs Ermahnung an Exxon, man solle beim Bohren nach Öl im Meer nicht BPs Plattformen verwenden, noch die harmloseste ist. Der Film malt das Bild einer verkommenen Welt, in der nicht nur der mittelalterliche Aladeen und die ignoranten, hurrapatriotischen Amerikaner zynisch, korrupt und intolerant sind, sondern auch der Idealismus einer Zoe von ungesundem Radikalismus unterwandert ist. Aber Baron Cohen wäre nicht er selber, wenn er diese rabenschwarze Satire nicht parodistisch umsetzen und seine Opfer "lediglich" der Lächerlichkeit preisgeben würde. Fazit der Farce scheint zu sein: Die Welt ist ohnehin verrückt, da kommt es auf einen durchgeknallten Diktator mehr oder weniger auch nicht mehr an. Letztendlich läuft das ganze Projekt – in Anlehnung auf sein grosses Vorbild, Charlie Chaplins Meisterwerk The Great Dictator – auf Aladeens grosse Rede vor der UNO hinaus, in welcher sich der Kernsatz des Films, der ultimative Affront gegen die USA, vollständig entfaltet. "Imagine America were a dictatorship...", verkündet der Despot und zählt die Vorteile der Staatsform auf: Dem obersten Prozent der Bevölkerung gehört das Land, Probleme können willkürlichen Feindbildern angelastet werden und das Erklären von Kriegen, selbst an die falschen Staaten, hat für die Verantwortlichen keinerlei Konsequenzen.

Wer jedoch mit den bisherigen Filmen Baron Cohens vertraut ist, weiss, dass sich sein Humor nicht auf die politische und verbale Provokation beschränkt. Zum Einen wäre da seine Popularität unter Schauspielkollegen, wodurch er seine Werke mit oftmals urkomischen Cameo-Auftritten veredeln kann. Auch in The Dictator geben sich, insbesondere während der ersten halben Stunde, viele bekannte Gesichter, nicht unbedingt bekannte Namen, die Ehre. Neben Megan Fox kommt auch Edward Norton zu seinen zehn Sekunden Screentime; ausserdem agieren TV-Protagonisten wie Fred Armisen (Saturday Night Live), Chris Parnell (30 Rock) und Aasif Mandvi (The Daily Show) sowie zu selten gesehen Nebendarsteller wie Fred Melamed (A Serious Man), Adeel Akhtar (Four Lions) und Chris Elliott (Groundhog Day). Selber glänzt Baron Cohen als Aladeen, trotz, oder gerade wegen, seiner himmelschreienden Künstlichkeit: Bart, Akzent, und reales Vorbild sind ebenso variabel wie nicht überzeugend, was aber im Kontext des Films hervorragend funktioniert.

...und nachher: Aladeen nach seiner Entthronung, mit der New Yorker Idealistin Zoe (Anna Faris).
Zum Andern wird The Dictator, wie schon Ali G Indahouse, Borat und Brüno, seinem Potential nicht gerecht. Denn wie schon in den vorangegangenen Werken wird auch hier dem allzu profanen Humor zu viel Platz eingeräumt. Der beste Seitenhieb auf Zoes verdrehtes Rassismus-Verständnis ("I haven't had a white boyfriend since high school!") muss an Kraft verlieren, wenn kurz darauf ihre unrasierten Achselhöhlen zum komödiantischen Element erhoben werden. Es ist eine bekannte Tatsache, dass Sacha Baron Cohen ein Freund der masslosen Übertreibung ist; doch seine Vorliebe für Sex- und Fäkalwitze, die hier leider im Überfluss vorhanden sind, hat noch keinen seiner Filme besser gemacht. Diese Intermezzi sind dann auch der Grund, warum The Dictator eine unausgeglichene Angelegenheit ist, eine, welche stets zwischen grossartigen und fast schon ärgerlich banalen Witzen pendelt.

Schlussendlich ist das vierte Langspielfilm-Projekt Baron Cohens aber eine grundsätzlich trotzdem befriedigende Erfahrung. Der Weg zur finalen Rede ist dank nur 80 Minuten Laufzeit sehr kurzweilig, stellenweise ungemein amüsant, dem zu zahlenden Preis der flachen Sexwitze zum Trotz. The Dictator ist eine bitterböse Satire unter dem dümmlichen Mäntelchen des Fäkalhumors.

★★★