Seit über 50 Jahren reist der Schweizer Marcel Cellier mit seiner
Ehefrau Catherine durch Osteuropa auf der Suche nach talentierten
Volksmusikern, mit welchen er Alben aufnimmt, die sie, im besten
Fall, im Westen in Berühmtheiten verwandeln. So entdeckten die
Celliers zur Zeit des Eisernen Vorhangs, als in den ländlichen
Kneipen Rumäniens, Bulgariens und Jugoslawiens Lieder gegen
Kollektive und Zwangsabgaben zum Besten gegeben wurden, diverse
Künstler, welche später den Durchbruch schafften und Cellier zu
mehreren goldenen Schallplatten und sogar einem Grammy verhalfen. Die
Bemühungen des Paars hatten entscheidenden Anteil daran, dass
Musiker wie der rumänische Panflötist Gheorghe Zamfir, der nach
seiner Entdeckung mit Komponisten wie Francis Lai und Ennio Morricone
kollaborierte und dessen Musik in Filmen wie Le grand blond avec
une chaussure noire, The Karate Kid, Once Upon a Time
in America, Only Yesterday oder Kill Bill: Vol. 1
zu hören ist, oder der Frauenchor des bulgarischen Staatsfernsehens,
besser bekant als "Le Mystère des Voix Bulgares", ein
westliches Publikum fanden. Heute ist Marcel Cellier 86 Jahre alt,
doch seine Tage, welche sich zwischen der "première cigarette"
und dem "dernière bière" abspielen, drehen sich immer
noch um die Musik. Er und Catherine archivieren und sortieren
weiterhin fleissig und sind überzeugt, dass die osteuropäische
Musikszene boomt wie noch nie.
So informativ und interessant Schwieterts Heimatklänge auch
war, dem Film über die schweizerische Jodeltradition fehlte eine
klare, übergeordnete Vision, der Blick nach vorne. Zwar antizipierte
er gewissermassen die momentane Welle dokumentarischer Annäherungen
an die "Urschweiz" – sein Erfolg ebnete den Weg für
Werke wie Die Kinder vom Napf, Alpsegen oder Arme
Seelen –, doch davon abgesehen, fehlte ihm der Aktualitätsbezug
und damit eines der essentiellen Elemente des Dokumentarfilms. Der
Zeitpunkt, an dem eine Dokumentation erscheint, ist ebenso wichtig
wie ihr Inhalt. Insofern verbessert sich Schwietert mit Balkan
Melodie selbst. Er greift ein Thema auf, dessen Schauplatz in der
Medien- und Politiklandschaft der Schweiz zurzeit heftigst – und
zuweilen auf äusserst irrationale Art und Weise – diskutiert wird:
Osteuropa, das steht für Asylbewerber, Ausländerkriminalität und,
schenkt man der Weltwoche Glauben, stehlende und mordende
Roma-Banden. Entsprechend erfrischend ist es, jemandem wie Marcel
Cellier zuzuhören, der mit Westschweizer Schalk und Charme von
dieser Region und ihren Bewohnern schwärmt. Natürlich schafft dies
die realen Probleme nicht aus der Welt, doch dem Zuschauer wird ein
anderer Balkan vor Augen geführt als man ihn von den
Zeitungsaushängen gewohnt ist.
Auch im hohen Alter noch von der Musik besessen: Marcel und Catherine Cellier. |
Dass auch von einem grossen Teil der Öffentlichkeit argwöhnisch
betrachtete Teile der Welt eine aussergewöhnliche Kultur haben, ist
im Grunde genommen offensichtlich; trotz Menschenrechtsverletzungen
entsteht in Kuba grossartige Musik, floriert im Iran seit Jahren das
Autorenkino. In Zeiten wie diesen, in denen Xenophobie und Rassismus
wieder erstarken, schadet es aber nicht, hie und da an diese Tatsache
erinnert zu werden. Die Celliers erzählen, wie fasziniert sie waren,
als sie die scheinbare Sicherheit der westlichen Staaten hinter sich
liessen und das Gebiet des Ostblocks betraten; mit ihrer Videokamera
hielt Catherine Lenin-Statuen und -Porträts fest und filmte die
Menschen, mit denen Westler nicht reden durften. Marcels
Aufnahmegerät wiederum bannte die Klänge fremdartig klingender
Instrumente – Cimbalons, Panflöten, Okarinas – und Stimmen von
Leuten, die nicht recht glauben konnten, dass zwei Exoten, welche im
Auto – selbstredend einem mit Waadtländer Nummer – die von der
Sowjetunion gelenkten Staaten zwischen Wien und Istanbul bereisen,
sie international bekannt zu machen vermögen. Diese mit
Originalbildern und -tönen ausgestatteten Erzählungen ergänzt
Schwietert, indem er in Sachen Archivaufnahmen aus dem Vollen
schöpft. Er zeigt Leonid Breshnev auf Staatsbesuch in Bulgarien,
propagandistische Fernsehberichterstattung, Johnny Carson, der das
Album Le Mystère des Voix Bulgares anpreist, Gheorghe Zamfir,
der in einer westlichen Schlagersendung auftritt. Balkan Melodie
ist zu gleichen Teilen eine Rückbesinnung auf die romantische
Verklärung des unbekannten Balkans sowie eine Geschichte des
modernen Osteuropas: von den illegalen Gassenhauern gegen die
Kollektive über die staatlich geförderte Volksmusik bis hin zum
postsowjetischen Kapitalismus und dem Balkanpop.
Tradition trifft auf Moderne: Volksmusik im industrialisierten Osteuropa. |
Was der Film jedoch vermissen lässt, sind ein eindeutig abgestecktes
Ziel und ein etwas umfassenderer Blick. Schwietert besucht diverse
Protagonisten von Celliers Reisen und lässt sie über ihre Karrieren
und über die Musik ihrer jeweiligen Länder sinnieren, darunter
Gheorghe Zamfir, der durch markige Worte und ein womöglich etwas
übersteigertes Selbstbewusstsein auffällt. Es fällt nicht schwer,
in ihm den Mann zu sehen, der sich mit den Celliers zerstritt, weil
er der Auffassung war, er würde von arroganten Schweizer Produzenten
finanziell über den Tisch gezogen. Würde sich Balkan Melodie
nicht nur mit einigen wenigen "Projekten" Marcels
auseinandersetzen, wäre die Entscheidung, diese Episode bloss
anzuschneiden, durchaus nachvollziehbar; so aber wird diese
offenkundig einschneidende Erfahrung zu abrupt eingeführt, zu
oberflächlich behandelt und zu schnell wieder fallen gelassen.
Überhaupt wirkt Schwieterts Film etwas allzu spartanisch. Als
Verneigung vor der osteuropäischen Musik und ihrem Schweizer
Propheten Cellier ist der Film viel zu eng gefasst; dass fünf
Jahrzehnte musikalischer Reisen auf drei bis vier Künstler reduziert
werden, wirkt doch ein wenig mager.
Trotzdem gehört Balkan Melodie zu den besseren Erzeugnissen
der hiesigen Dokumentarfilm-Produktion der letzten Jahre. Nicht nur
sieht er davon ab, die Rolle der Schweiz besonders zu akzentuieren
und unterschwellig rot-weissen Patriotismus einfliessen zu lassen, es
gelingt ihm, sein Thema in einen zeitgeschichtlichen Kontext zu
stellen, der über die blosse Schönheit der Musik hinausgeht.
★★★
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