Freitag, 8. Juni 2012

Tyrannosaur

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Regiedebüts von Schauspielern gibt es wie Sand am Meer. Manche sind gut, manche eher weniger. Doch nur selten vermag ein Neuling auf dem Regiestuhl ein Werk von derart archaischer, roher Kraft abzuliefern, wie dies Paddy Considine mit Tyrannosaur gelungen ist.

Der erste Eindruck, den man als Zuschauer vom Protagonisten, einem arbeitslosen Witwer, erhält, ist denkbar schlecht. Joseph (Peter Mullan) verlässt wutentbrannt ein Pub im englischen Leeds. Gerade ist er bei einer Wette übers Ohr gehauen worden. Vor der Bar wartet sein angebundener Hund, Bluey, auf ihn. Joseph packt die Leine und schleift ihn hinter sich her; doch das Tier bewegt sich nicht schnell genug, also tritt er ihm in die Rippen. Für Bluey ist das zu viel; er stirbt noch in derselben Nacht. Joseph begräbt ihn am nächsten Morgen; danach versucht er, in einer Bar die Trauer über den Tod seines Kumpels zu ertränken. Doch da gehen ihm schon bald grölende Halbstarke auf die Nerven. Um nicht erneut komplett auszurasten, sucht er Schutz im Kleiderladen Hannahs (Olivia Colman), welche als gute Christin anfängt, für ihn zu beten. Trotz Josephs rüder Bemerkungen entwickelt sich zwischen den beiden in der Folge eine Freundschaft, denn auch Hannah geht es nicht gut: Ihr Ehemann (Eddie Marsan) schlägt und erniedrigt sie.

Das Risiko, welches Paddy Considine mit seinem ersten Langspielfilm eingegangen ist, lässt sich allein anhand der Art und Weise, mit der das Ganze ins Rollen gebracht wird, illustrieren: Der Hauptcharakter tritt seinen Hund zu Tode, das ist Gift für die Zuschauerzahlen. Gleichzeitig zeigt dieser harsche Einstieg aber auch Considines Klasse. Die erschüttert nämlich nur sekundär wegen Blueys Tod. Im Vordergrund steht Josephs sofortige Reue, die Verzweiflung über seine Wut, die ihn seinen treuesten Freund gekostet hat. So lässt sich schon nach wenigen Minuten erahnen, dass sich hinter dem brutalen Äusseren des Protagonisten mehr verbirgt als auf den ersten Blick sichtbar ist. Tyrannosaur porträtiert Joseph als ein von Gewalt Getriebener unter vielen.

Im Zeichen der Gewalt: Joseph (Peter Mullan) in seinem Haus.
"I'm not a nice human being", sagt er. Doch wie Hannah ahnt auch der Zuschauer, dass dies nur die halbe Wahrheit ist. Considine inszeniert seine zentrale Figur als erwachsene und verrohte Form der "Angry Young Men" aus dem britischen New-Wave-Kino der frühen Sechzigerjahre – Marke Tony Richardson oder Lindsay Anderson –, der immens unter diesem enormen Zorn leidet. Anders als jene Filme jedoch ist Tyrannosaur weder allegorisch noch sonderlich sozialkritisch. Er gewährt einen fesselnden Einblick in das Leben zweier gebrochener, kaputter Menschen, welche beide Halt beim jeweils Anderen suchen. Erik Wilsons Kamera ist nah an den Gesichtern, in denen sich tiefe Traurigkeit und Desillusionierung widerspiegeln. Olivia Colman brilliert als scheinbar perspektivlose, sich selber in ihrer Apathie hassende Christin und ist eine würdige Ergänzung zur Urgewalt Peter Mullan, welcher mit einer unglaublichen Intensität spielt. Ist er nun wütend oder zärtlich, etwa in seinen Szenen mit dem kleinen Nachbarsjungen Sam (Samuel Bottomley), man fühlt mit ihm – egal wie schwer es auch fallen mag.

Paddy Considines Debüt als Regisseur ist beileibe kein einfaches. Tyrannosaur ist ein düsteres und unerbittliches, aber eben auch grenzenlos faszinierendes Charakterdrama. Zweifelsohne einer der besten Filme dieses Jahres.

★★★★★

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen