Donnerstag, 28. Juni 2012

We Need to Talk About Kevin

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Ob Blacksburg, Tuusula oder Winnenden, jedes Schulmassaker führt unweigerlich zur Frage nach dem "Warum". Der Psychothriller We Need to Talk About Kevin greift diese Problematik auf, beantwortet sie gnadenlos und bietet zugleich einen abgründigen Blick auf die menschliche Grausamkeit.

Seit ihr Sohn Kevin (Ezra Miller) an seiner High School ein Verbrechen begangen hat, lebt Eva Khatchadourian (Tilda Swinton) alleine in einer nicht sonderleich bemerkenswerten Vorstadt, wo sie aufs Übelste gemobbt wird: Ihr Haus und ihr Auto werden Opfer einer Attacke mit roten Farbbeuteln, sie als ehemalige Abenteurerin muss eine anspruchslose Arbeit annehmen, bei der sie von ihren Kollegen gemieden wird, sie wird auf offener Strasse geohrfeigt. Einmal die Woche besucht sie Kevin im Jugendgefängnis, wo sich die beiden gegenseitig anschweigen. Ist Eva mitschuldig an der Tat ihres Sohnes? Schon nach seiner Geburt konnte sie ihn nicht so innig lieben, wie dies ihr Ehemann Franklin (John C. Reilly) tat. Der kleine Kevin sprach lange kein Wort, trug viel zu lange Windeln und entwickelte sich schliesslich zu einem intelligenten, aber launischen und grausamen Teenager, was auch seine jüngere Schwester Celia (Ashley Gerasimovich) zu spüren bekam.

Auch in ihrem dritten Langspielfilm, ihrem ersten nach neun Jahren, bleibt die schottische Regisseurin Lynne Ramsay ihrer Vorliebe für düstere Stoffe – Tod, Verzweiflung, Schuld – und junge Schlüsselfiguren treu. Ebenso prominent tritt in We Need to Talk About Kevin ihre sehr spezielle cineastische Vision in Erscheinung, welche die ambitionierte Verfilmung des Briefromans der Amerikanerin Lionel Shriver besonders anfangs zu Fall zu bringen droht. Ganz Kevins zynischer Anprangerung der vom Fernsehen gelenkten Gesellschaft entsprechend, "zappt" Ramsay zwischen mehreren Zeit- und Handlungsebenen hin und her. Dies ist stellenweise nicht mehr als billig anmutende, plakative Effekthascherei und verträgt sich demnach nur schwer mit den geradlinigen Charakterzeichnungen Evas und Kevins.

Satansbraten: Eva (Tilda Swinton) mit ihrem noch jüngeren, sich aber schon äusserst eigenartig verhaltenden Sohn Kevin.
Sobald sich der Erzählfluss aber beruhigt hat, entfaltet der Film sein Potenzial und wird zu einer schonungslosen, provokativen und hoch spannenden Abrechnung mit modernen Sitten und Konventionen. Das Schicksal von Eva, hinter der die herausragende Tilda Swinton regelrecht verschwindet, soll letztlich nicht die Frage beantworten, ob ihre Vorbehalte gegenüber ihrem Sohn tatsächlich für dessen Entwicklung verantwortlich sind. Vielmehr interessieren sich Ramsay und Co-Autor Rory Stewart Kinnear dafür, wie abscheulich eine Welt, in der Kinder grundsätzlich heilig gesprochen werden, mit einer "gescheiterten" Mutter umgehen kann. We Need to Talk About Kevin sieht ohnehin davon ab, seine von Ezra Miller beeindruckend dargestellte Titelfigur, als simples Teufelskind abzutun. Nicht alle Äusserungen Kevins sind die Worte eines Verrückten; seine Beschreibung formelhafter Eltern-Kind-Gespräche etwa trifft den Nagel auf den Kopf.

Doch We Need to Talk About Kevin ist kein zynischer, kein rundum pessimistischer Film. Er ist durchsetzt von kleinen Lichtblicken und seine brutal ehrliche Antwort auf das verzweifelte "Warum?" ist in ihrem Nihilismus – für Eva Khatchadourian zumindest – Erlösung und Versöhnung zugleich: Es gibt keinen Grund.

★★★★

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