Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.
Ob Blacksburg, Tuusula oder Winnenden, jedes Schulmassaker führt
unweigerlich zur Frage nach dem "Warum". Der Psychothriller We
Need to Talk About Kevin greift diese Problematik auf, beantwortet
sie gnadenlos und bietet zugleich einen abgründigen Blick auf die
menschliche Grausamkeit.
Seit ihr Sohn Kevin (Ezra Miller) an seiner High School ein
Verbrechen begangen hat, lebt Eva Khatchadourian (Tilda Swinton)
alleine in einer nicht sonderleich bemerkenswerten Vorstadt, wo sie
aufs Übelste gemobbt wird: Ihr Haus und ihr Auto werden Opfer einer
Attacke mit roten Farbbeuteln, sie als ehemalige Abenteurerin muss
eine anspruchslose Arbeit annehmen, bei der sie von ihren Kollegen
gemieden wird, sie wird auf offener Strasse geohrfeigt. Einmal die
Woche besucht sie Kevin im Jugendgefängnis, wo sich die beiden
gegenseitig anschweigen. Ist Eva mitschuldig an der Tat ihres Sohnes?
Schon nach seiner Geburt konnte sie ihn nicht so innig lieben, wie
dies ihr Ehemann Franklin (John C. Reilly) tat. Der kleine Kevin
sprach lange kein Wort, trug viel zu lange Windeln und entwickelte
sich schliesslich zu einem intelligenten, aber launischen und
grausamen Teenager, was auch seine jüngere Schwester Celia (Ashley
Gerasimovich) zu spüren bekam.
Auch
in ihrem dritten Langspielfilm, ihrem ersten nach neun Jahren, bleibt
die schottische Regisseurin Lynne Ramsay ihrer Vorliebe für düstere
Stoffe – Tod, Verzweiflung, Schuld – und junge Schlüsselfiguren
treu. Ebenso prominent tritt in We Need to Talk About Kevin
ihre sehr spezielle cineastische Vision in Erscheinung, welche die
ambitionierte Verfilmung des Briefromans der Amerikanerin Lionel
Shriver besonders anfangs zu Fall zu bringen droht. Ganz Kevins
zynischer Anprangerung der vom Fernsehen gelenkten Gesellschaft
entsprechend, "zappt" Ramsay zwischen mehreren Zeit- und
Handlungsebenen hin und her. Dies ist stellenweise nicht mehr als
billig anmutende, plakative Effekthascherei und verträgt sich
demnach nur schwer mit den geradlinigen Charakterzeichnungen Evas und
Kevins.
Satansbraten: Eva (Tilda Swinton) mit ihrem noch jüngeren, sich aber
schon äusserst eigenartig verhaltenden Sohn Kevin.
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Sobald
sich der Erzählfluss aber beruhigt hat, entfaltet der Film sein
Potenzial und wird zu einer schonungslosen, provokativen und hoch
spannenden Abrechnung mit modernen Sitten und Konventionen. Das
Schicksal von Eva, hinter der die herausragende Tilda Swinton
regelrecht verschwindet, soll letztlich nicht die Frage beantworten,
ob ihre Vorbehalte gegenüber ihrem Sohn tatsächlich für dessen
Entwicklung verantwortlich sind. Vielmehr interessieren sich Ramsay
und Co-Autor Rory Stewart Kinnear dafür, wie abscheulich eine Welt,
in der Kinder grundsätzlich heilig gesprochen werden, mit einer "gescheiterten" Mutter umgehen kann. We Need to Talk About
Kevin sieht ohnehin davon ab, seine von Ezra Miller beeindruckend
dargestellte Titelfigur, als simples Teufelskind abzutun. Nicht alle
Äusserungen Kevins sind die Worte eines Verrückten; seine
Beschreibung formelhafter Eltern-Kind-Gespräche etwa trifft den
Nagel auf den Kopf.
Doch We Need to Talk About Kevin ist kein zynischer, kein rundum
pessimistischer Film. Er ist durchsetzt von kleinen Lichtblicken und
seine brutal ehrliche Antwort auf das verzweifelte "Warum?" ist
in ihrem Nihilismus – für Eva Khatchadourian zumindest –
Erlösung und Versöhnung zugleich: Es gibt keinen Grund.
★★★★
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