Donnerstag, 12. Juli 2012

Cosmopolis

Als der amerikanische Autor Don DeLillo, der ewige Geheimfavorit auf den Literaturnobelpreis, 2003 seinen dystopischen Roman Cosmopolis als Reaktion auf die wenige Jahre zuvor geplatzte Technologie-Blase veröffentlichte, schlugen ihm teils herablassende, teils wütende Kritiken entgegen. Die einen werteten seine apokalyptische Vorstellung eines dem Untergang geweihten New Yorks als literarische Aufarbeitung des 9/11-Traumas; die anderen sahen darin einen ungelenken und blauäugigen Versuch, den Kapitalismus anzugreifen. Börsencrash und Occupy-Bewegung haben nun jedoch zu einer Reevaluierung des Werkes geführt, wozu auch David Cronenbergs ambitionierte Verfilmung zählt. Die werkgetreue Adaption ist nicht nur der mit Abstand politischste Film des kanadischen Regisseurs, sie darf ohne weiteres zu den radikalsten und wichtigsten Beiträgen zur finanziellen Weltlage gezählt werden.

Eric Packer (Robert Pattinson) ist 28 Jahre alt und nennt ein mehrere Milliarden schweres Finanzimperium sein Eigen. An einem Apriltag aber steht ihm der Sinn nach etwas ganz Banalem: Er will sich bei einem spezifischen Coiffeur die Haare schneiden lassen. Dessen Salon liegt am anderen Ende der Stadt, doch Eric interessiert das nicht. Er setzt sich in eine hochmoderne Stretchlimousine und lässt sich durch die Stadt chauffieren. Doch die Reise zieht sich, denn New York befindet sich im Ausnahmezustand: Infolge eines Besuchs des Präsidenten sind zahlreiche Strassen abgeriegelt, der Verkehr steht still. Gleichzeitig findet ein zur Massenveranstaltung gewordener Beerdigungszug für einen berühmten Musiker statt und in Manhattan ist eine antikapitalistische Demonstration im Gange. Die Sache wird zusätzlich verkompliziert, als Erics Sicherheitschef Torval (Kevin Durand) die Nachricht erhält, das Leben seines Schützlings sei durch zwei "ernstzunehmende Bedrohungen" in Gefahr. Das hält Eric aber nicht davon ab, sich auf seiner Odyssee mit seiner neuen Frau (Sarah Gadon), seiner Geliebten (Juliette Binoche), seinem Geschäftspartner (Jay Baruchel), seinem Hausarzt, der ihm mitteilt, er habe eine asymmetrische Prostata – was bedeutet das? –, und seiner Finanzberaterin (Samantha Morton) zu treffen und sein ganzes Vermögen mit einer riskanten Spekulation aufs Spiel zu setzen.

Der Kapitalist, eingesargt in der Stretchlimousine: Der Multimilliardär Eric Packer (Robert Pattinson) lässt sich im Schritttempo durch New York chauffieren.
New York gehört zu den lautesten Städten der Welt. In den von Wolkenkratzern gesäumten Strassenschluchten sammeln sich Baulärm, Verkehrsgeräusche, das Treiben von Hunderttausenden von Menschen. Doch Eric Packers Limousine ist immun dagegen: Sie ist "proustifiziert", mit Kork ausgekleidet wie das Studierzimmer des französischen Autors, völlig schalldicht; jede Form von Aussenlärm wird geschluckt. Das opulente, mit Computern, Panzerverkleidung, einem Sicherheitssystem, sogar einer Toilette ausgestattete Luxusvehikel ist mehr als ein Refugium des superreichen Magnaten. Es ist eine Gegenwelt, ein Vakuum; die Existenz der sie umgebenden Stadt ist unwichtig, ja kaum bemerkbar. Mit einem die Filme der Neunzigerjahre evozierenden Weitwinkelobjektiv wird die Weite des eingeengten Raumes angedeutet. Es herrscht eine klinische, gespenstische Stille, das einzig wirklich Hörbare sind die Gespräche, die Eric mit seinen Besuchern führt. Diese drehen sich um Geld, um Firewalls, um riskante Börsengeschäfte, um Statistiken und Zahlen, bedeutungslosen Sex – die Limousine ist, wie Eric selber, frei von Gefühlen (einzig der Tod eines von ihm verehrten Rappers entlockt ihm eine menschliche Regung), also flüchtet er sich in zynische Exzesse. Er, der archetypische Kapitalist, sieht zu, wie sein Imperium in sich zusammenfällt, zuckt dabei aber nicht mit der Wimper. Er spielt mit dem Gedanken, sich ungeheure Schmerzen zuzufügen, nur um endlich etwas zu spüren. Gleichzeitig aber ist er getrieben von einer arroganten Egozentrik und einer unstillbaren Gier: Ihm wird ein Bild von Mark Rothko angeboten, Eric will die ganze – unverkäufliche – Rothko-Kapelle. Er wacht mit dem Gefühl auf, seine Haare schneiden zu müssen, also muss er sie sich von seinem Hauscoiffeur schneiden lassen, ungeachtet der gegebenen Bedingungen des Tages.

Auf der Suche nach neuen Gefühlen: Eric im Haus des mysteriösen Benno (Paul Giamatti).
Cronenberg übernimmt DeLillos Dialoge oft Wort für Wort, um die Tragödie und die Irrationalität des Finanzkapitalismus zu illustrieren. Dies führt zwar mehrfach zu irritierend gestelzten, ausgedehnten Austauschen, die durch die unterkühlten schauspielerischen Darbietungen noch unterstützt werden; doch das Gefühl, dass es sich dabei um eiskaltes Kalkül des Regisseurs handelt, lässt sich nicht abschütteln. Cronenberg erweitert DeLillos Vision einer entmenschlichten Geschäftswelt durch distanzierte Dialoge und "leere" Gesichtsausdrücke. Der Kapitalismus wird gnadenlos zerlegt und seziert. In der Limousine wird fast beiläufig über Geld und seine Wertlosigkeit philosophiert; die von Samantha Morton gespielte Finanztheoretikerin (!) wiederholt fortwährend den Satz "I understand none of this" und weist darauf hin, dass auch eine Ratte ein valables Zahlungsmittel sein könnte, solange sich nur genug Menschen darauf einlassen würden. Die anarchistischen Demonstranten berauben Erics Karosse ihres oberflächlichen Glanzes, während sie in Anlehnung an Marx' Kommunistisches Manifest die Parole "A specter is haunting the world. The specter of capitalism." verbreiten. Cronenberg enttarnt das System aus Daten, Devisen, Dividenden als eine einzige grosse Illusion, ein Nichts, dessen wahnwitzige Wankelmütigkeit jeglichen Fortschritt lähmt – die amerikanische Börse stockt wegen einer einzelnen Pause in einer Rede des Finanzministers; er beruft sich auf das marxistische Postulat des sich selber übersättigenden Kapitalismus – "wealth for its own sake"; und als Eric schlussendlich seinem potenziellen Mörder gegenübersteht, zieht er die logische Konsequenz. "I wanted you to save me" sind die letzten Worte des Films. Paul Giamatti spricht sie, während er Eric eine Waffe an den Kopf hält. Die Heilsverkündung des Kapitalismus ist die Aussicht, allen zu finanziellem Wohlstand zu verhelfen, sie ist seine einzige Existenzberechtigung. Hält er sein Versprechen nicht, ist sein Anspruch, das allgemein gültige System zu sein, verwirkt; er muss zerstört werden.

Cosmopolis ist ein wuchtiges Stück politisches Kino. David Cronenberg verfolgt seine – und Don DeLillos – Mission kompromisslos; er liefert keine Psychologisierung der parabelhaften Hauptfigur; er verzichtet auf versöhnliche Töne. Es ist ein überaus parteiischer Film, der auf hochgradig komplexe Art und Weise die globale antikapitalistische Revolution ausruft. Predigt er das Offensichtliche? Gut möglich, doch wie die gegen ihn vorgebrachten Vorwürfe, er sei "hohl", "oberflächlich" und "pseudointellektuell" zeigen, haben allzu viele Menschen das Offensichtliche noch nicht verstanden.

★★★★

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