Als der amerikanische Autor Don DeLillo, der ewige Geheimfavorit auf
den Literaturnobelpreis, 2003 seinen dystopischen Roman
Cosmopolis
als Reaktion auf die wenige Jahre zuvor geplatzte
Technologie-Blase veröffentlichte, schlugen ihm teils herablassende,
teils wütende Kritiken entgegen. Die einen werteten seine
apokalyptische Vorstellung eines dem Untergang geweihten New Yorks
als literarische Aufarbeitung des 9/11-Traumas; die anderen sahen
darin einen ungelenken und blauäugigen Versuch, den Kapitalismus
anzugreifen. Börsencrash und Occupy-Bewegung haben nun jedoch zu
einer Reevaluierung des Werkes geführt, wozu auch David Cronenbergs
ambitionierte Verfilmung zählt. Die werkgetreue Adaption ist nicht
nur der mit Abstand politischste Film des kanadischen Regisseurs, sie
darf ohne weiteres zu den radikalsten und wichtigsten Beiträgen zur
finanziellen Weltlage gezählt werden.
Eric Packer (Robert Pattinson) ist 28 Jahre alt und nennt ein mehrere
Milliarden schweres Finanzimperium sein Eigen. An einem Apriltag aber
steht ihm der Sinn nach etwas ganz Banalem: Er will sich bei einem
spezifischen Coiffeur die Haare schneiden lassen. Dessen Salon liegt am
anderen Ende der Stadt, doch Eric interessiert das nicht. Er setzt
sich in eine hochmoderne Stretchlimousine und lässt sich durch die
Stadt chauffieren. Doch die Reise zieht sich, denn New York befindet
sich im Ausnahmezustand: Infolge eines Besuchs des Präsidenten sind
zahlreiche Strassen abgeriegelt, der Verkehr steht still.
Gleichzeitig findet ein zur Massenveranstaltung gewordener
Beerdigungszug für einen berühmten Musiker statt und in Manhattan
ist eine antikapitalistische Demonstration im Gange. Die Sache wird
zusätzlich verkompliziert, als Erics Sicherheitschef Torval (Kevin
Durand) die Nachricht erhält, das Leben seines Schützlings sei
durch zwei "ernstzunehmende Bedrohungen" in Gefahr. Das
hält Eric aber nicht davon ab, sich auf seiner Odyssee mit seiner
neuen Frau (Sarah Gadon), seiner Geliebten (Juliette Binoche), seinem
Geschäftspartner (Jay Baruchel), seinem Hausarzt, der ihm mitteilt,
er habe eine asymmetrische Prostata – was bedeutet das? –, und
seiner Finanzberaterin (Samantha Morton) zu treffen und sein ganzes
Vermögen mit einer riskanten Spekulation aufs Spiel zu setzen.
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Der Kapitalist, eingesargt in der Stretchlimousine: Der Multimilliardär Eric Packer (Robert Pattinson) lässt sich im Schritttempo durch New York chauffieren. |
New York gehört zu den lautesten Städten der Welt. In den von
Wolkenkratzern gesäumten Strassenschluchten sammeln sich Baulärm,
Verkehrsgeräusche, das Treiben von Hunderttausenden von Menschen.
Doch Eric Packers Limousine ist immun dagegen: Sie ist
"proustifiziert", mit Kork ausgekleidet wie das
Studierzimmer des französischen Autors, völlig schalldicht; jede
Form von Aussenlärm wird geschluckt. Das opulente, mit Computern,
Panzerverkleidung, einem Sicherheitssystem, sogar einer Toilette
ausgestattete Luxusvehikel ist mehr als ein Refugium des superreichen
Magnaten. Es ist eine Gegenwelt, ein Vakuum; die Existenz der sie
umgebenden Stadt ist unwichtig, ja kaum bemerkbar. Mit einem die
Filme der Neunzigerjahre evozierenden Weitwinkelobjektiv wird die
Weite des eingeengten Raumes angedeutet. Es herrscht eine klinische,
gespenstische Stille, das einzig wirklich Hörbare sind die
Gespräche, die Eric mit seinen Besuchern führt. Diese drehen sich
um Geld, um Firewalls, um riskante Börsengeschäfte, um Statistiken
und Zahlen, bedeutungslosen Sex – die Limousine ist, wie Eric
selber, frei von Gefühlen (einzig der Tod eines von ihm verehrten
Rappers entlockt ihm eine menschliche Regung), also flüchtet er sich
in zynische Exzesse. Er, der archetypische Kapitalist, sieht zu, wie
sein Imperium in sich zusammenfällt, zuckt dabei aber nicht mit der
Wimper. Er spielt mit dem Gedanken, sich ungeheure Schmerzen
zuzufügen, nur um endlich etwas zu spüren. Gleichzeitig aber ist er
getrieben von einer arroganten Egozentrik und einer unstillbaren
Gier: Ihm wird ein Bild von Mark Rothko angeboten, Eric will die
ganze – unverkäufliche – Rothko-Kapelle. Er wacht mit dem Gefühl
auf, seine Haare schneiden zu müssen, also muss er sie sich von
seinem Hauscoiffeur schneiden lassen, ungeachtet der gegebenen
Bedingungen des Tages.
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Auf der Suche nach neuen Gefühlen: Eric im Haus des mysteriösen Benno (Paul Giamatti). |
Cronenberg übernimmt DeLillos Dialoge oft Wort für Wort, um die
Tragödie und die Irrationalität des Finanzkapitalismus zu
illustrieren. Dies führt zwar mehrfach zu irritierend gestelzten,
ausgedehnten Austauschen, die durch die unterkühlten
schauspielerischen Darbietungen noch unterstützt werden; doch das
Gefühl, dass es sich dabei um eiskaltes Kalkül des Regisseurs
handelt, lässt sich nicht abschütteln. Cronenberg erweitert
DeLillos Vision einer entmenschlichten Geschäftswelt durch
distanzierte Dialoge und "leere" Gesichtsausdrücke. Der
Kapitalismus wird gnadenlos zerlegt und seziert. In der Limousine
wird fast beiläufig über Geld und seine Wertlosigkeit
philosophiert; die von Samantha Morton gespielte Finanztheoretikerin
(!) wiederholt fortwährend den Satz "I understand none of this"
und weist darauf hin, dass auch eine Ratte ein valables
Zahlungsmittel sein könnte, solange sich nur genug Menschen darauf
einlassen würden. Die anarchistischen Demonstranten berauben Erics
Karosse ihres oberflächlichen Glanzes, während sie in Anlehnung an
Marx'
Kommunistisches Manifest die Parole "A specter is
haunting the world. The specter of capitalism." verbreiten.
Cronenberg enttarnt das System aus Daten, Devisen, Dividenden als
eine einzige grosse Illusion, ein Nichts, dessen wahnwitzige
Wankelmütigkeit jeglichen Fortschritt lähmt – die amerikanische
Börse stockt wegen einer einzelnen Pause in einer Rede des
Finanzministers; er beruft sich auf das marxistische Postulat des
sich selber übersättigenden Kapitalismus – "wealth for its
own sake"; und als Eric schlussendlich seinem potenziellen
Mörder gegenübersteht, zieht er die logische Konsequenz. "I
wanted you to save me" sind die letzten Worte des Films. Paul
Giamatti spricht sie, während er Eric eine Waffe an den Kopf hält.
Die Heilsverkündung des Kapitalismus ist die Aussicht, allen zu
finanziellem Wohlstand zu verhelfen, sie ist seine einzige
Existenzberechtigung. Hält er sein Versprechen nicht, ist sein
Anspruch, das allgemein gültige System zu sein, verwirkt; er muss
zerstört werden.
Cosmopolis
ist ein wuchtiges Stück
politisches Kino. David Cronenberg verfolgt seine – und Don
DeLillos – Mission kompromisslos; er liefert keine
Psychologisierung der parabelhaften Hauptfigur; er verzichtet auf
versöhnliche Töne. Es ist ein überaus parteiischer Film, der auf
hochgradig komplexe Art und Weise die globale antikapitalistische
Revolution ausruft. Predigt er das Offensichtliche? Gut möglich,
doch wie die gegen ihn vorgebrachten Vorwürfe, er sei "hohl",
"oberflächlich" und "pseudointellektuell"
zeigen, haben allzu viele Menschen das Offensichtliche noch nicht
verstanden.
★★★★
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