Samstag, 7. Juli 2012

Et si on vivait tous ensemble?

Eine soziologische Tatsache, welche in den letzten Jahren immer wieder mit Besorgnis festgestellt wird, ist die der Überalterung. Westlichen Industriestaaten, besonders in Europa, wie Deutschland oder Frankreich, droht in nur wenigen Jahrzehnten ein Übergewicht an Menschen jenseits von 65 Jahren, wobei sich schon jetzt die Frage stellt, wie angesichts dieser Aussichten ein Altern in Würde überhaupt möglich ist und ob das Bild des pensionierten Mittsechzigers nicht ausgedient hat. Rund um die Problematik der Parallelgesellschaft der alten Leute baut Stéphane Robelin Et si on vivait tous ensemble?, eine Komödie, die sich mit Jean Becker'scher Leichtigkeit an ein ernstes Thema heranwagt und sich dabei übernimmt – allerdings auf charmante Art und Weise.

Das Rentner-Quintett, alle 70 und älter, bestehend aus Claude (Claude Rich, 83), den Eheleuten Albert (Pierre Richard, 77) und Jeanne (Jane Fonda, 74) sowie Annie (Geraldine Chaplin, 67) und Jean (Guy Bedos, 78), kennt sich schon seit Jahrzehnten; ihre Freundschaft dauert an, auch wenn mittlerweile alle den Beschwerden des Alters ausgesetzt sind. Frauenheld Claude muss nach einem Herzinfarkt kürzer treten und auf Schäferstündchen mit Prostituierten verzichten; andernfalls droht ihm der Gang ins Altersheim. Gourmet Albert leidet zunehmend an Alzheimer, die offene Akademikerin Jeanne erholt sich von einem Krebsleiden, Annie erträgt ihr Alter nicht und Politaktivist Jean sieht sich gezwungen, seinen geliebten Demonstrationen fortan fern zu bleiben, da ihm sonst die Lebensversicherung gekündigt wird. Nach einem Schwächeanfall von Claude steckt dessen Sohn ihn tatsächlich in ein Pflegeheim, woraufhin ihn seine Freunde "befreien". Gemeinsam wird beschlossen, dass das Leben einfacher ist, wenn sie alle unter einem Dach leben – unter demjenigen von Annie und Jean. Zusätzlich quartiert sich auch der deutsche Ethnologie-Student Dirk (Daniel Brühl) ein; er schreibt seine Dissertation über die Rolle der Alten im modernen Frankreich.

Et si on vivait tous ensemble? mag auf einem Originaldrehbuch, geschrieben von Regisseur Stéphane Robelin, beruhen; prominente filmische und literarische Bezugspunkte lassen sich aber mühelos erkennen. Das Untersuchen von Dynamiken unter alten Freunden scheint sich auf Cécile Telermans Tout pour plaire zu berufen, auch wenn hier die Protagonisten mehr als 30 Jahre älter sind; die Idee, eine Gruppe von Rentnern und einen jungen Mann, dem die Funktion eines Beobachters zukommt, zusammen in ein Haus ziehen zu lassen, erinnert schwer an Deborah Moggbachs Roman These Foolish Things, der Anfang 2012 von John Madden unter dem Titel The Best Exotic Marigold Hotel – wie Robelins Film mit schauspielerischem Hochadel besetzt – verfilmt wurde. Doch am augenfälligsten scheint der Einfluss der Filme Jean Beckers hervor. Becker, seit 1961 im Geschäft, Regisseur von kleinen Wunderwerken wie Dialogue avec mon jardinier oder La tête en friche, ist zurzeit der unbestrittene Meister des französischen Understatements; seine Filme sind herzliche, oft komische Oden ans Einfache und Menschliche voller philosophischer Anklänge. Diesem Ideal eifert Robelin in seinem zweiten Langspielfilm beflissen nach, trifft aber die richtigen Töne nicht immer.

Heiterkeit herrscht, auch im Alter: Die Freunde Jean (Guy Bedos, vorne), Albert (Pierre Richard, Mitte) und Claude (Claude Rich).
Eine der grossen Stärken Beckers ist das Aufrechterhalten von Interesse, selbst wenn im Film selber nur wenig passiert; Robelin bekundet Mühe damit. Et si on vivais tous ensemble? plätschert während des ersten Akts recht gemächlich vor sich hin. Langeweile stellt sich keine ein, doch es fehlt der Geschichte die Dringlichkeit, die Charaktere werden nicht konzis genug eingeführt. An dieser holprigen, allzu langen Exposition leiden auch Motiv und Subtext; hölzerne Linien, zumeist von Seiten der ohnehin durchschnittlich geschriebenen Annie, etablieren den Grundton. Erst durch das Erreichen der Prämisse – die Wohngemeinschaft – bekommt der Film einen fliessenden, schlüssigen Rhythmus; das definitive Zusammenführen der Protagonisten hilft dem Erzählfluss. Dass gewisse Elemente des Films vorhersehbar sind – in einem Freundeskreis von Mittsiebzigern ist mindestens eine Person dem Tode geweiht –, tut diesem keinen Abbruch. Robelin gelingt es ausgezeichnet, die Schmerzen, aber auch die Freuden seiner Figuren zu artikulieren. Nicht zuletzt ist dies einem Becker'schen Minimalismus zu verdanken: Alberts Alzheimererkrankung wird nie als solche benannt, Jeannes Krebs ebensowenig; wie die Erhaltung der eigenen Sexualität oder die Rückbesinnung auf längst vergessene Wünsche werden die Beschwerden werden zu natürlichen Begleiterscheinungen des Alters.

Interessant an Robelins Film ist die fast vollständige Auslassung der "normalen" Gesellschaft. Et si on vivait tous ensemble? ist ein Milieu-Kammerspiel; jüngere Akteure, Dirk ausgenommen, spielen Nebenrollen: Ärzte, Umzugsmänner, Pfleger, Claudes besorgter Sohn. Unter den WG-Bewohnern spielen sich aber auch ohne ein sich einmischendes Umfeld Szenen von grosser emotionaler Kraft ab – die lange letzte Einstellung ist ebenso rührend wie tragisch. Grossen Anteil daran hat der Cast: Jane Fonda und Geraldine Chaplin gefallen wie gewohnt; Claude Rich und Guy Bedos mögen die meisten Lacher auf ihrer Seite haben, doch Komiker Pierre Richard behält auch als Alzheimerkranker seinen typischen Schalk bei, spielt aber, wenn es darauf ankommt, gross auf; in Alberts verwirrtesten Momenten scheint er sich an Nigel Hawthornes Darbietung in The Madness of King George zu orientieren. Als grösste Überraschung erweist sich Daniel Brühl. Zwar fällt seine Rolle vergleichsweise klein aus, doch mit seiner Darbietung – wohl seiner besten seit Good Bye Lenin! – vermag er ihr eine ungeahnte Tiefe zu verleihen.

Vereint in der Rentner-WG (v.l.): Annie (Geraldine Chaplin), Jean, Claude, Student Dirk (Daniel Brühl), Albert und Jeanne (Jane Fonda).
Wäre Robelins Tragikomödie zehn bis zwanzig Minuten kürzer, könnte man sie wahrscheinlich als kleine französische Kinoperle verbuchen. Eigentlich ist Et si on vivait tous ensemble? eine emotional kraftvolle, vorzüglich gespielte, nachdenkliche Dramödie um das viel diskutierte Thema des Alterns in Würde und Zufriedenheit – allemal ein gehaltvollerer Beitrag als The Best Exotic Marigold Hotel. Leider aber wird der Gesamteindruck durch eine eher träge, nicht sonderlich inspiriert geschriebene und inszenierte erste halbe Stunde getrübt; gerettet wird das Projekt letztendlich durch die Realisierung seiner Grundidee. Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass Jean Becker immer noch der beste Jean Becker ist.

★★★

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