Donnerstag, 12. Juli 2012

Mary & Johnny

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Oft muss sich die zeitgenössische Schweizer Filmszene Farblosigkeit und Eintönigkeit vorwerfen lassen. Dem schrillen Mary & Johnny, der innovativsten hiesigen Produktion seit Jahren, ist es nun gelungen, dieses Klischee aufzubrechen. Doch das Projekt wird von seiner Selbstgefälligkeit zu Fall gebracht.

Irgendwo in einer dunklen Gefängniszelle sitzt Mischa (Marcus Signer, der als Erzähler seine beste Pedro-Lenz-Imitation zum Besten gibt), wettert gegen die dumpfe Gesellschaft aus "iPhönlern, Twitterern und Blögglern" und schickt sich an, eine Geschichte zu erzählen, die ganz besonders werden soll. Die Hauptrolle sollte "einer mit Augen wie Tobey Maguire" spielen – Johnny: Philippe Graber; die oberflächliche Mary wäre für eine "Ex-Schwizermeischterin im Usgseh" geeignet – Mary: die chargierende Ex-Miss Nadine Vinzens. Was folgt, ist eine wilde, verwirrende, katastrophale Sommer-Partynacht am Zürifäscht 2010, frei nach Ödön von Horváths Stück Kasimir und Karoline – die Wirtschaftskrise 1929 wird zum Finanzdesaster 2008, das Oktoberfest zur Zürcher Sause. Johnny hat seine Arbeit verloren und verkracht sich beim abendlichen Feiern mit seiner Freundin Mary. Sie sucht Trost beim Aufreisser Hofstettler (Nils Althaus in seiner besten Rolle) und dem Fussballfunktionär Sepp (Andrea Zogg), findet aber nur Alkohol und Drogen. Er wiederum lässt sich von Mischa für eine Diebstahltour einspannen und kommt dabei Mischas Freundin (Gina Gurtner) näher. Doch die Wege des ehemaligen Paars kreuzen sich andauernd.

Das auffallendste Charakteristikum von Samuel Schwarz' erstem Kinofilm ist der Umstand, dass sich Mary & Johnny als Film begreift; Mischa fantasiert über eine Verfilmung seiner Erzählung, distanziert sich von einem "Gewackel wie bei den Dänen" und redet von einem einführenden Voiceover à la Robert De Niro; es müsse einfach etwas philosophischer sein. Diese Anfangsminuten sind trotz der stellenweise etwas aufdringlichen Meta-Kommentaren recht gelungen, erfassen sie doch punktgenau das Gefühl von überbordendem Party-Chaos, auch dank Marcus Signers stimmigen "Sommer 2010"-Monologs. Es wird schnell ersichtlich, dass Schwarz daran gelegen ist, seinen Film buchstäblich aus allen Nähten platzen zu lassen, um so die Atmosphäre des Zürifäschts möglichst realistisch einzufangen. Dazu gehören nicht nur die Wackelkamera und das brillante Sounddesign – häufig die grosse technische Schwäche neuerer deutschsprachiger Produktionen –, sondern auch die poppige Inszenierung mit ihren schrillen Farben, der erdrückenden Musikbeschallung und der Betonung des Unvollendeten, des Billigen. Ästhetisch funktioniert Mary & Johnny.

Glücklichere Zeiten: Mary (Nadine Vinzens) und Johnny (Philippe Graber) besuchen zunächst noch als Paar das Zürifäscht 2010.
Doch das gerade wegen seiner Dissonanz plausible Potpourri aus Geräuschen, Blinklichtern und Gefühlen scheitert leider an Schwarz' selbstverliebtem Drehbuch. Der wütende, zynische Rundumschlag gegen Konsumgesellschaft, Profitgier, Oberflächlichkeit, Korruption und Zürich – hier bewohnt von desillusionierten Wallisern, Bündnern und Luzernern – falliert; er verliert sich in pseudophilosophischen Platitüden und unlustigen Witzen – Anspielungen auf Carl Hirschmann und die Fifa, deren Name mit einem Piepston anonymisiert wird, generieren nicht automatisch Subtext. So versinkt der Film in der eigenen Bedeutungslosigkeit. Und selbst seinem Anspruch auf Realismus wird Schwarz nicht gerecht: Die Fussball-WM 2010 als zusätzliche Szenerie wird fehlerhaft bemüht; das Viertelfinale Holland-Brasilien (2. Juli) findet plötzlich am gleichen Tag wie das Finale Spanien-Holland (11. Juli) statt.

Innovation garantiert keinen Erfolg; Schwarz' Debüt belegt dies anschaulich. Es mag sich über Konventionen helvetischen Filmschaffens hinwegsetzen, tut dies aber mit einer unausstehlichen Selbstzufriedenheit. Mary & Johnny ist ein Film wie ein One-Night-Stand: Er ist wild, aufregend, oberflächlich, schnell vorüber und er gaukelt einem eine Bedeutsamkeit vor, die er eigentlich gar nicht hat.

★★

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