Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.
Oft muss sich die zeitgenössische Schweizer Filmszene Farblosigkeit
und Eintönigkeit vorwerfen lassen. Dem schrillen Mary &
Johnny, der innovativsten hiesigen Produktion seit Jahren, ist es
nun gelungen, dieses Klischee aufzubrechen. Doch das Projekt wird von
seiner Selbstgefälligkeit zu Fall gebracht.
Irgendwo in einer dunklen Gefängniszelle sitzt Mischa (Marcus
Signer, der als Erzähler seine beste Pedro-Lenz-Imitation zum Besten
gibt), wettert gegen die dumpfe Gesellschaft aus "iPhönlern,
Twitterern und Blögglern" und schickt sich an, eine Geschichte zu
erzählen, die ganz besonders werden soll. Die Hauptrolle sollte "einer mit Augen wie Tobey Maguire" spielen – Johnny: Philippe
Graber; die oberflächliche Mary wäre für eine "Ex-Schwizermeischterin im Usgseh" geeignet – Mary: die
chargierende Ex-Miss Nadine Vinzens. Was folgt, ist eine wilde,
verwirrende, katastrophale Sommer-Partynacht am Zürifäscht 2010,
frei nach Ödön von Horváths Stück Kasimir und Karoline –
die Wirtschaftskrise 1929 wird zum Finanzdesaster 2008, das
Oktoberfest zur Zürcher Sause. Johnny hat seine Arbeit verloren und
verkracht sich beim abendlichen Feiern mit seiner Freundin Mary. Sie
sucht Trost beim Aufreisser Hofstettler (Nils Althaus in seiner
besten Rolle) und dem Fussballfunktionär Sepp (Andrea Zogg), findet
aber nur Alkohol und Drogen. Er wiederum lässt sich von Mischa für
eine Diebstahltour einspannen und kommt dabei Mischas Freundin (Gina
Gurtner) näher. Doch die Wege des ehemaligen Paars kreuzen sich
andauernd.
Das auffallendste Charakteristikum von Samuel Schwarz' erstem
Kinofilm ist der Umstand, dass sich Mary & Johnny als Film
begreift; Mischa fantasiert über eine Verfilmung seiner Erzählung,
distanziert sich von einem "Gewackel wie bei den Dänen" und
redet von einem einführenden Voiceover à la Robert De Niro; es
müsse einfach etwas philosophischer sein. Diese Anfangsminuten sind
trotz der stellenweise etwas aufdringlichen Meta-Kommentaren recht
gelungen, erfassen sie doch punktgenau das Gefühl von überbordendem
Party-Chaos, auch dank Marcus Signers stimmigen "Sommer
2010"-Monologs. Es wird schnell ersichtlich, dass Schwarz daran
gelegen ist, seinen Film buchstäblich aus allen Nähten platzen zu
lassen, um so die Atmosphäre des Zürifäschts möglichst
realistisch einzufangen. Dazu gehören nicht nur die Wackelkamera und
das brillante Sounddesign – häufig die grosse technische Schwäche
neuerer deutschsprachiger Produktionen –, sondern auch die poppige
Inszenierung mit ihren schrillen Farben, der erdrückenden
Musikbeschallung und der Betonung des Unvollendeten, des Billigen.
Ästhetisch funktioniert Mary & Johnny.
Glücklichere Zeiten: Mary (Nadine Vinzens) und Johnny (Philippe
Graber) besuchen zunächst noch als Paar das Zürifäscht 2010.
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Doch das gerade wegen seiner Dissonanz plausible Potpourri aus
Geräuschen, Blinklichtern und Gefühlen scheitert leider an Schwarz'
selbstverliebtem Drehbuch. Der wütende, zynische Rundumschlag gegen
Konsumgesellschaft, Profitgier, Oberflächlichkeit, Korruption und
Zürich – hier bewohnt von desillusionierten Wallisern, Bündnern
und Luzernern – falliert; er verliert sich in pseudophilosophischen
Platitüden und unlustigen Witzen – Anspielungen auf Carl
Hirschmann und die Fifa, deren Name mit einem Piepston anonymisiert
wird, generieren nicht automatisch Subtext. So versinkt der Film in
der eigenen Bedeutungslosigkeit. Und selbst seinem Anspruch auf
Realismus wird Schwarz nicht gerecht: Die Fussball-WM 2010 als
zusätzliche Szenerie wird fehlerhaft bemüht; das Viertelfinale
Holland-Brasilien (2. Juli) findet plötzlich am gleichen Tag wie das
Finale Spanien-Holland (11. Juli) statt.
Innovation garantiert keinen Erfolg; Schwarz' Debüt belegt dies
anschaulich. Es mag sich über Konventionen helvetischen
Filmschaffens hinwegsetzen, tut dies aber mit einer unausstehlichen
Selbstzufriedenheit. Mary & Johnny ist ein Film wie ein
One-Night-Stand: Er ist wild, aufregend, oberflächlich, schnell
vorüber und er gaukelt einem eine Bedeutsamkeit vor, die er
eigentlich gar nicht hat.
★★
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