Brandon (Michael Fassbender), so scheint es, ist ein selbstsicherer
und erfolgreicher Mittdreissiger – man könnte ihn beneiden. Er
bewohnt ein schickes New Yorker Appartement, geht einer gut bezahlten
Arbeit nach, er ist attraktiv und bekundet keinerlei Probleme, Frauen
zu verführen. Niemand aber ahnt, dass sich hinter der geordneten
Fassade ein vom Sex Besessener verbirgt. Der Mann konsumiert Pornos,
wann immer möglich; während der Arbeit nutzt er seine
Toilettenpausen zum Masturbieren; abends bestellt er sich
Prostituierte in seine Wohnung. Eine längere Beziehung konnte er
noch nie unterhalten und inzwischen hat er auch jegliches Interesse
an einer solchen verloren. Seine krankhafte Routine wird jäh
gestört, als sich seine jüngere Schwester, die talentierte, aber
höchst sensible Nachtclubsängerin Sissy (Carey Mulligan), bei ihm
einquartiert. Er versucht nun erstmals, seine Dämonen zu besiegen,
etwa indem er mit seiner hübschen Arbeitskollegin Marianne (Nicole
Beharie) ausgeht. Doch diese sind nicht einfach zu überwinden.
Brandon liegt im Bett, von der Hüfte abwärts von der Decke
verhüllt, und starrt ein Loch in die Luft. Brandon starrt eine junge
Frau in der U-Bahn so lange an, bis ihr die Tränen kommen und sie
nicht mehr ruhig an ihrem Platz sitzen kann. Brandons Tagesablauf
wird durch Sissys Männerbesuch – ausgerechnet sein Chef –
gestört, also rennt er auf einer kontinuierlichen Geraden durch das
nächtliche New York, parallel zu Sean Bobbitts Kamera. Wer Hunger,
Steve McQueens Erstling aus dem Jahr 2008, gesehen hat, hat schon
eine vage Ahnung von der künstlerischen Vision des Regisseurs:
Karge, meist symmetrische Bilder, lange Einstellungen, die Kamera
bewegt sich kaum, die Figuren oft noch weniger. Shame führt
diesen Stil konsequent weiter und erzielt mit der Verbindung von
schnurgeraden Linien, steril-spartanischer Einrichtung, in die sich
das kantige Gesicht des sich häufig am Rand der Einstellung
befindenden Michael Fassbender hervorragend einfügt, und
klinisch-kühler Inszenierung eine ureigene Ästhetik, die einen
faszinierenden Kontrast zu den zahlreichen Sexszenen bildet. Bobbitts
Kamera wird zum entrückten Beobachter, frei von jeglichem
Voyeurismus; es ist nicht der Sex, der im Mittelpunkt steht, auch
nicht die Partnerinnen, deren Gesichter, wenn sie denn einmal zu
sehen sind, schnell wieder vergessen sind, sondern einzig und allein
Brandons Situation.
Angeschlagene Geschwisterliebe: Der sexsüchtige Brandon (Michael Fassbender) muss seine von Depressionen geplagte Schwester Sissy (Carey Mulligan) bei sich aufnehmen. |
Die Geschichte, die McQueen und Co-Autorin Abi Morgan (The Iron
Lady) rund um ihre Grundidee aufziehen, mag an sich nicht
ausreichen, um 100 Minuten Film auszufüllen, doch mit den langen
Sequenzen, von denen einige mit grossartigen, weil lebensnahen,
Dialogen angereichert sind, öffnen sich für den Zuschauer
spannende, abgrundtief tragische Gefühlswelten. Die Ursachen für
Brandons Abhängigkeit bleiben ebenso im Dunkeln wie die weitere
Entwicklung; Shame ist eine nach allen Seiten hin offene
Charakterstudie, ein Psychogramm, welches primär aus feinsten
Andeutungen besteht. Brandons Bemühungen, seine Sucht zu besiegen,
versprechen keinen bleibenden Erfolg und obwohl Sissys Anwesenheit
ihn dazu veranlasst, sein Leben zu überdenken, obwohl sie familiäre
Wärme mit sich zu bringen scheint – sie ist die einzige Figur,
welche in der Lage ist, die im Film herrschende Kühle zu überwinden
–, garantiert auch dieser Weg keine Erlösung, ist sie doch ebenso
geschädigt vom Leben wie ihr Bruder – "We're not bad people,
we just come from a bad place." Shame ähnelt in seiner
kompromisslosen Haltung und seiner Beschreibung zweier im Grunde
kaputter Menschen sehr Paddy Considines Tyrannosaur, dem
anderen grossen britischen Arthouse-Film des Jahrgangs 2011.
Wie bereits Hunger ist auch Steve McQueens Zweitwerk ein
vielschichtiges Kunstwerk. Der Film über Bobby Sands'
berühmt-berüchtigten Hungerstreik fand ungeahnte Schönheit im
Elend, in den mit Exkrementen verschmierten Wänden des
Maze-Gefängnisses, während er gleichzeitig die Debatte um den
Status der IRA-Kämpfer streifte; Shame wiederum hinterfragt
mit seiner schonungslosen Offenheit und strikten Neutralität die
Einstellung der Menschen zur medialen Darstellung von Sexualität und
stellt mit der Rekonstruktion des Zusammenbruchs seines
Hauptcharakters gleichzeitig die soziokulturelle Frage, welchen Wert
Sex in einer desensibilisierten Gesellschaft hat – oder überhaupt
haben kann. Letztendlich aber könnte McQueen mit Shame vor
allem eines ermöglicht haben: einen erwachsenen Umgang des Kinos mit
Sex – dem urmenschlichsten aller Triebe und Tabus.
★★★★
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