Donnerstag, 5. Juli 2012

Shame

Sex. Der phyische Akt der Liebe. Coitus. Vor kaum einem anderen Thema schreckt das Mainstream-Kino noch immer so sehr zurück. Hollywoods "Production Code" mag längst Geschichte sein, doch die Hemmungen bestehen nach wie vor. Nacktheit figuriert nur in Extremfällen und wenn, dann ist in der Regel nur die obere Körperhälfte zu sehen. Dieses Prinzip der Scham – manche mögen es für vernünftig, andere für verklemmt halten – wird nun vom britischen Künstler Steve McQueen radikal aufgebrochen. McQueen, "von Haus aus" der Provokation zugetan – sein Debüt drehte sich um Bobby Sands, die umstrittene Ikone der militanten nordirischen Republikaner –, porträtiert in Shame den inneren und äusseren Zerfall eines Sexsüchtigen ohne jede Furcht vor der heiklen Thematik.

Brandon (Michael Fassbender), so scheint es, ist ein selbstsicherer und erfolgreicher Mittdreissiger – man könnte ihn beneiden. Er bewohnt ein schickes New Yorker Appartement, geht einer gut bezahlten Arbeit nach, er ist attraktiv und bekundet keinerlei Probleme, Frauen zu verführen. Niemand aber ahnt, dass sich hinter der geordneten Fassade ein vom Sex Besessener verbirgt. Der Mann konsumiert Pornos, wann immer möglich; während der Arbeit nutzt er seine Toilettenpausen zum Masturbieren; abends bestellt er sich Prostituierte in seine Wohnung. Eine längere Beziehung konnte er noch nie unterhalten und inzwischen hat er auch jegliches Interesse an einer solchen verloren. Seine krankhafte Routine wird jäh gestört, als sich seine jüngere Schwester, die talentierte, aber höchst sensible Nachtclubsängerin Sissy (Carey Mulligan), bei ihm einquartiert. Er versucht nun erstmals, seine Dämonen zu besiegen, etwa indem er mit seiner hübschen Arbeitskollegin Marianne (Nicole Beharie) ausgeht. Doch diese sind nicht einfach zu überwinden.

Brandon liegt im Bett, von der Hüfte abwärts von der Decke verhüllt, und starrt ein Loch in die Luft. Brandon starrt eine junge Frau in der U-Bahn so lange an, bis ihr die Tränen kommen und sie nicht mehr ruhig an ihrem Platz sitzen kann. Brandons Tagesablauf wird durch Sissys Männerbesuch – ausgerechnet sein Chef – gestört, also rennt er auf einer kontinuierlichen Geraden durch das nächtliche New York, parallel zu Sean Bobbitts Kamera. Wer Hunger, Steve McQueens Erstling aus dem Jahr 2008, gesehen hat, hat schon eine vage Ahnung von der künstlerischen Vision des Regisseurs: Karge, meist symmetrische Bilder, lange Einstellungen, die Kamera bewegt sich kaum, die Figuren oft noch weniger. Shame führt diesen Stil konsequent weiter und erzielt mit der Verbindung von schnurgeraden Linien, steril-spartanischer Einrichtung, in die sich das kantige Gesicht des sich häufig am Rand der Einstellung befindenden Michael Fassbender hervorragend einfügt, und klinisch-kühler Inszenierung eine ureigene Ästhetik, die einen faszinierenden Kontrast zu den zahlreichen Sexszenen bildet. Bobbitts Kamera wird zum entrückten Beobachter, frei von jeglichem Voyeurismus; es ist nicht der Sex, der im Mittelpunkt steht, auch nicht die Partnerinnen, deren Gesichter, wenn sie denn einmal zu sehen sind, schnell wieder vergessen sind, sondern einzig und allein Brandons Situation.

Angeschlagene Geschwisterliebe: Der sexsüchtige Brandon (Michael Fassbender) muss seine von Depressionen geplagte Schwester Sissy (Carey Mulligan) bei sich aufnehmen.
Die Geschichte, die McQueen und Co-Autorin Abi Morgan (The Iron Lady) rund um ihre Grundidee aufziehen, mag an sich nicht ausreichen, um 100 Minuten Film auszufüllen, doch mit den langen Sequenzen, von denen einige mit grossartigen, weil lebensnahen, Dialogen angereichert sind, öffnen sich für den Zuschauer spannende, abgrundtief tragische Gefühlswelten. Die Ursachen für Brandons Abhängigkeit bleiben ebenso im Dunkeln wie die weitere Entwicklung; Shame ist eine nach allen Seiten hin offene Charakterstudie, ein Psychogramm, welches primär aus feinsten Andeutungen besteht. Brandons Bemühungen, seine Sucht zu besiegen, versprechen keinen bleibenden Erfolg und obwohl Sissys Anwesenheit ihn dazu veranlasst, sein Leben zu überdenken, obwohl sie familiäre Wärme mit sich zu bringen scheint – sie ist die einzige Figur, welche in der Lage ist, die im Film herrschende Kühle zu überwinden –, garantiert auch dieser Weg keine Erlösung, ist sie doch ebenso geschädigt vom Leben wie ihr Bruder – "We're not bad people, we just come from a bad place." Shame ähnelt in seiner kompromisslosen Haltung und seiner Beschreibung zweier im Grunde kaputter Menschen sehr Paddy Considines Tyrannosaur, dem anderen grossen britischen Arthouse-Film des Jahrgangs 2011.

Wie bereits Hunger ist auch Steve McQueens Zweitwerk ein vielschichtiges Kunstwerk. Der Film über Bobby Sands' berühmt-berüchtigten Hungerstreik fand ungeahnte Schönheit im Elend, in den mit Exkrementen verschmierten Wänden des Maze-Gefängnisses, während er gleichzeitig die Debatte um den Status der IRA-Kämpfer streifte; Shame wiederum hinterfragt mit seiner schonungslosen Offenheit und strikten Neutralität die Einstellung der Menschen zur medialen Darstellung von Sexualität und stellt mit der Rekonstruktion des Zusammenbruchs seines Hauptcharakters gleichzeitig die soziokulturelle Frage, welchen Wert Sex in einer desensibilisierten Gesellschaft hat – oder überhaupt haben kann. Letztendlich aber könnte McQueen mit Shame vor allem eines ermöglicht haben: einen erwachsenen Umgang des Kinos mit Sex – dem urmenschlichsten aller Triebe und Tabus.

★★★★

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen