Donnerstag, 30. August 2012

Das Missen Massaker

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Würde Michael Steiners neuestem Film nur der Bindestrich im Titel fehlen, könnte man sich als Zuschauer glücklich schätzen. Doch leider erkundet Das Missen Massaker Tiefen, die selbst dem angeschlagenen Schweizer Kino bis anhin mehrheitlich fremd waren. Ein filmischer Tauchgang.

Als die eigentliche Siegerin von einem Scheinwerfer enthauptet wird, rückt die zweitplatzierte Jasmin (Meryl Valerie) als Miss Zürich nach und darf somit am Missen-Camp auf einer Pazifik-Insel teilnehmen. Nach kurzer Zeit wird den anwesenden Schönheiten klar, dass sich unter ihnen ein Mörder befindet – den Beteuerungen des Betreuers Pino (Mike Müller) zum Trotz. Derweil verliebt sich Jasmin in den "schönen Serge" (Patrick Rapold) – ob es sich hierbei um eine Anspielung auf Claude Chabrols Film handelt, darf bezweifelt werden –, mit dem sie vor dem Mörder fliehen will.

Seit dem 15. April 2012 herrscht Gewissheit darüber, dass es dieses Jahr keine Miss-Schweiz-Wahl geben wird. Michael Steiners – verständlicher – Abneigung gegenüber dem Schönheitswettbewerb war damit aber offenbar nicht Genüge getan. In der vorliegenden Horrorkomödie – eine "Parodie" soll es sein – rechnet er auf blutige Art und Weise mit dem Mister- und Missen-Wahn ab und führt gleichzeitig das Horrorgenre und seine Klischees atmosphärisch ad absurdum. So jedenfalls ist Das Missen Massaker angelegt. In Wahrheit jedoch ist der Streifen weder das eine noch das andere: zu lächerlich, um gruselig zu sein, zu kindisch und hasserfüllt, um lustig zu sein. Wieder einmal beweist Steiner, ohnehin ein massiv überschätzter Schweizer Filmschaffender, dass seine Werke nur dann erträglich sind, wenn sie auf einer ansprechenden Vorlage basieren (Mein Name ist Eugen, Sennentuntschi). Ist dies nicht der Fall, erhält man Filme wie Grounding oder eben Das Missen Massaker.

Gefahr im Anmarsch: Die nervtötenden Protagonisten besichtigen die verhängnisvolle Insel. Rette sich, wer kann!
Tatsächlich wirkt Letzterer stellenweise wie die bewusste Steigerung der schlechtesten Aspekte des Swissair-Dokudramas. Zwar lassen sich Elemente wie Stereotypen und nervende Charaktere dem Versuch ankreiden, den gängigen Horrorfilm parodieren zu wollen. Doch so sehr der Film dies auch versucht, es gelingt ihm nicht. Die Überzeichnungen sind nicht lustig, sondern schmerzhaft; die aufdringlichen Zitate – von Halloween bis Saw wird nichts ausgelassen – wirken selbstherrlich; die Meuchelmorde sind einfallslos und abgedroschen; die Autoren Steiner und Michael Sauter (Achtung, Fertig, Charlie!) schrecken auf ihrer verzweifelten Suche nach Lachern selbst vor latentem Rassismus nicht zurück – der tollpatschige, nach Frauen lechzende Afrikaner könnte einer Minstrel Show des frühen 20. Jahrhunderts entsprungen sein.

Komplettiert wird das Desaster durch einen Cast, der kollektiv beschlossen zu haben scheint, die Arbeit zu verweigern. Mike Müllers Talent mag sich in einigen spärlichen Momenten andeuten, doch ansonsten beschränkt er seine Darbietung darauf, eine missglückte Imitation von Viktor Giacobbos Roger-Schawinski-Nummer zum Besten zu geben. Die Leistung der Missen wiederum, ein Sammelsurium an peinlichen und nervtötenden Kantonsstereotypen – Nadine Vinzens' Miss Ostschweiz/Simpsons-Fetischistin ist ein trauriger Tiefpunkt –, reicht von unrealistisch monoton bis grauenvoll chargierend. Talentfrei scheinen sie alle zu sein.

Primitive Witze, unwürdige Performances, keine rettende Eigenschaft – wenn dereinst eine Liste der schlechtesten Schweizer Filme erstellt wird, wäre es keine Überraschung, Das Missen Massaker ganz oben vorzufinden. Tiefer kann das hiesige Kino wohl kaum mehr sinken. Herr Steiner, musste das sein?

Sonntag, 26. August 2012

Virgin Tales

Dass die religiöse Prägung der amerikanischen Bevölkerung weitaus stärker ist als etwa in europäischen Staaten, ist längst zum kulturellen Klischee geworden. Anders als in den meisten westlichen Ländern wächst sogar die Einflussnahme religiöser Interessengruppen auf Staat und Kultur in den Vereinigten Staaten. Eine der Ausprägungen dieses Trends ist das christlich-konservative New Purity Movement, dem die Dokumentation Virgin Tales auf den Grund zu gehen versucht. Worum es dem Film eigentlich geht, bleibt unklar.

Ein Schelm, wen die Wilsons aus Colorado Springs an die nicht verhütende Katholiken-Familie in Monty Python's The Meaning of Life mit ihren Dutzenden, wenn nicht Hunderten, von Kindern erinnert. Randy und Lisa heissen die Eltern, sie haben sieben Kinder mit eigenwilligen Namen wie Colten, Jordyn, Khrystian, Kameryn oder Kaalyn – eine nette Familie aus dem Herzen Amerikas. Gastfreundschaft wird gross geschrieben; der üppige Sonntagsbrunch ist fast ebenso heilig wie der wöchentliche Kirchgang. Die Wilsons gehören zu jenen 25% der US-Bevölkerung, welche der religiösen Strömung des Evangelikalismus zugeordnet werden. Abtreibung, Homo-Ehe und vorehelicher Geschlechtsverkehr gehört nicht zu deren Vorstellung einer perfekten Welt. Vor einigen Jahren hat Randy Wilson den sogenannten "Purity Ball" ins Leben gerufen, ein jährliches Fest, bei dem junge Mädchen ein Gelübde ablegen, ihre Jungfräulichkeit bis zur Eheschliessung zu bewahren, und ihre Väter versprechen, sie auf diesem Weg zu unterstützen. Die Verantstaltung hat inzwischen in 48 Bundestaaten Fuss gefasst und expandiert auch schon ins Ausland.

Die Wilsons sind eine seltsame Familie, eine, die in ihrer Widersprüchlichkeit wohl symbolisch für den Evangelikalismus steht. Zum einen entsprechen sie so gar nicht dem Bild des bibeltreuen und intoleranten Wehr-Christen, welches sich in Europa etabliert hat. Lisa und Randy geben Regisseurin Mirjam von Arx freundlich Auskunft, überlegen sich ihre Antworten auf hypothetische Fragen sehr genau. Was sie sagen würden, wenn ihre Tochter einen Freund hätte, der nicht bis zur Hochzeit "rein" bleiben wollte? "I'd like to meet the guy", so Randys Antwort. Denn wenn sein eigenes Kind etwas an diesem Jungen findet, dann könne er so schlecht ja nicht sein. Wie sie reagieren würden, wenn sie herausfänden, dass ihre Tochter ihr Reinheitsgelübde gebrochen hat? "Forgiveness is the greatest gift. We'd say: 'No matter how much you screw up, you can do nothing that would make us love you less'", sagt Lisa. Es ist nur schwer vorstellbar, dass diese Leute, deren jüngster Sohn Oscar Wilde (!) zitiert, einen Homosexuellen oder einen Sozialisten aus ihrem Haus jagen würden.

Küssen erlaubt: Die verheirateten Wilson-Kinder.
Zum anderen ist da das politische Engagement von Randy. Zwar beteuert er: "It's not about politics". Doch als Vollzeit-Mitglied des Family Research Council, eines konservativen Thinktanks, geht es ihm dennoch darum, die "Entscheidungsmacher zu beeinflussen" und Pfarrer zu politischem Engagement zu animieren. Auch ist er ein Mitglied der Watchmen on the Walls, einer internationalen evangelikalen Vereinigung, deren Ziel es ist, die Interessen ihrer Religion in der Politik durchzusetzen. Und hier zeigt sich die hässliche Fratze politisch engagierter Religion und dem klischierten Bible-Belt-Bild der Europäer wird plötzlich mehr entsprochen. Randy, welcher der festen Überzeugung ist, dass ein nicht an Jesus Christus glaubender Mensch, der ein Leben lang Gutes tue, trotzdem in die Hölle komme, wettert in einer Rede gegen die Regierung, die seit den frühen Sechzigerjahren systematisch gegen das "wahre" Christentum vorgehe: Die biblische Schöpfungsgeschichte wurde aus den Biologie-Zimmern verbannt, die einvernehmliche Scheidung wurde eingeführt – dass er sich hier gegen die puritanische Tradition stellt, scheint ihm entgangen zu sein –, amerikanische Bundesstaaten erlauben das Vermählen gleichgeschlechtlicher Paare. Es überrascht nicht, dass eine kurze Recherche ergibt, dass die Watchmen on the Walls von diversen Organisationen als "Hassgruppe" gebrandmarkt wird. Aus dem Film ist dies nicht ersichtlich.

Der politische Arm Gottes: Randy Wilson in Washington.
Mit mehr Konsequenz hätte Virgin Tales ein subtiles Anschauungsbeispiel dafür sein können, dass die Trennung von Kirche und Staat ein Segen ist, wie gefährlich der Monopolanspruch der Religion ist ("The Bible shouldn't change to the culture, the culture should change to the Bible") – so ist unter Evangelikalen etwa die Meinung, nicht religiös lebende Menschen würden Unmoral und die Misshandlung von Frauen propagieren, weit verbreitet. Auch dies ist einer jener Themenbereiche, der Randy Wilson Mühe zu bereiten scheint: Er führt in einer Diskussion an, dass die USA nicht als christliche Nation gegründet wurde, argumentiert später aber damit, dass in Washington kein Säkularismus herrsche. Eine kurze Recherche ergibt: Doch. Von Arx' Film ist eine heikle Mischung aus Home Story und politischer und kultureller Dokumentation. Es gibt Momente, in denen beide Seiten aufeinander treffen. Während eines "Home Schooling"-Kongresses tauschen Ehefrauen Rezepte aus und verkaufen sich gegenseitig ihre Erziehungsratgeber, derweil in einem Konferenzraum nebenan ein Sprecher predigt, Satan wäre der erste "Evolutionist" gewesen.

Die New-Purity-Bewegung dient als verbindendes Element der allzu zahlreichen Themen. Dass hinter der Kamera ein kritischer Geist steht, ist spürbar, doch die sich aufdrängenden Fragen wollen einfach nicht kommen. Diverse Äusserungen aus dem Mund des Wilson-Nachwuchses klingen etwas zu hölzern, um spontan zu sein; Jordyn betont einfach zu oft, wie leicht ihr die Abstinenz falle; die Hinterfragung der mit dem Reinheitsgelübde verbundenen Geschenke bleibt aus – amerikanischer Walmart-Materialismus trifft auf Suburbia-Religiosität; niemand fragt, was den Purity-Ball-Vätern das Recht gibt, über die sexuelle Entwicklung ihrer Kinder zu entscheiden, bevor diese überhaupt aufgeklärt sind. Echte Kritik stellt sich erst in den letzten Sekunden des Films mittels Texttafel ein. Diese lässt wissen, dass 40% der Amerikaner an den Kreationismus glauben; dass unter jenen Jugendlichen, die sich der Jungfräulichkeit verschrieben haben, vorehelicher Sex ebenso wahrscheinlich ist wie unter "unreinen" Gleichaltrigen; dass das Risiko von sexuell übertragbaren Krankheiten und Teenager-Schwangerschaften unter Ersteren aufgrund der religiösen Tabuisierung von Verhütungsmitteln sogar höher ist.

Alles für Jesus: Junge Mädchen während eines Purity Balls.
Appliziert man als Zuschauer einen angemessen kritischen Blick, ist Virgin Tales eine durchaus interessante Dokumentation über das New Purity Movement. Aus diversen Äusserungen der – trotz allem leidlich sympathischen – Protagonisten lassen sich so Belege für grundsätzliche Probleme von Religion herauslesen, ganz nach dem Nietzsche-Zitat "'Glaube' heisst Nicht-wissen-wollen, was wahr ist". Doch das Ganze ist auf seine Weise auch frustrierend, da der Film mit seiner radikalen Beobachtung zu vage bleibt. Von Arx versucht, den Mittelweg zwischen Kritik und dokumentarischer Neutralität zu gehen. Das Resultat ist ein kaum nachhallender Film, der sich seiner selbst nicht so richtig sicher zu sein scheint – kein attraktiver Wesenszug.

★★

Donnerstag, 23. August 2012

Le prénom

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.


Nur wenige Monate nach Roman Polanskis viel beachtetem Carnage erscheint mit Le prénom eine weitere Kinoadaption eines französischen Bühnen-Kammerspiels. Anders als Polanskis provokant-sardonische Farce ist dieser ein Film im Stil der klassischen gallischen Gesellschaftskomödie.

In einer schicken Pariser Stadtwohnung wollen gehobene Mittelständler gemeinsam ein gemütliches Abendessen einnehmen. Hier die Gastgeber, der streitbare Linksintellektuelle, Uniprofessor Pierre (Charles Berling), und seine Frau Élisabeth (Valérie Benguigui), genannt Babou, selber Banlieue-Primarlehrerin; dort das Yuppie-Ehepaar Vincent (Patrick Bruel), Babous Bruder, und Anna (Judith El Zein), schwanger im fünften Monat. Der Fünfte im Bunde ist Claude (Guillaume de Tonquédec), ein kultivierter, stets ausgeglichener Posaunist und seit Jahren treuer Freund von Élisabeth. Nacheinander trudeln die Gäste ein, wobei Anna wegen einer Sitzung noch auf sich warten lässt. Auf das Drängen der Anwesenden rückt Vincent aber bereits mit dem Namen für seinen ungeborenen Sohn heraus: Mit einem "A" fängt der verhängnisvolle Vorname an und weckt die Erinnerung an einen berüchtigten Diktator des Zweiten Weltkriegs. Natürlich geht der Sozialist Pierre sogleich auf die Barrikaden und versucht, seinem Schwager die Idee auszutreiben. Doch das Thema lässt sich nicht aus der Welt schaffen und schon bald öffnen sich weitere Gräben zwischen den Dîner-Gästen.

In Frankreich, dem Heimatland der Bourgeoisie, gehören filmische, häufig satirische Analysen jener Gesellschaftsschicht schon seit Jahrzehnten zum Standard-Repertoire der nationalen Kinoindustrie. Die Werke grosser Cineasten wie Jean Renoir (La règle du jeu, 1939) oder Luis Buñuel (Le charme discret de la bourgeoisie, 1972) sind in die Annalen der Filmgeschichte eingegangen; die Darstellung und Charakterisierung der Bourgeoisie markierte jeweils den gegenwärtigen Zustand der sich immer wieder neu ausdrückenden Klasse. In der Tradition dieser Gesellschaftskomödien ist denn auch Le prénom gehalten, der auf dem gleichnamigen Theaterstück der Regisseure Matthieu Delaporte und Alexandre de la Patellière basiert.

Noch herrscht Heiterkeit: Claude (Guillaume de Tonquédec, links) und Pierre (Charles Berling, rechts) scherzen mit Vincent (Patrick Bruel).
Dass das Duo de la Patellière (ein Regie-Debütant)-Delaporte (ein Sophomore) niemals die Höhen Renoirs und Buñuels erreicht, muss als gegeben betrachtet werden. Ihr Film arbeitet zwar gut mit der unausweichlichen Theaterhaftigkeit des Stoffes – das Geschehen ist dramaturgisch solide aufgezogen und inszeniert –, doch dem Ganzen fehlt ein stringenter Rhythmus. Le prénom ist ein recht unstetes Erlebnis; flaue Passagen wechseln sich ab mit feurigen Rededuellen, köstlichen Einzeilern, sogar berührenden Geständnissen. Das Auf und Ab mag äusserst realistisch wirken, aber dennoch wünschte man sich im einen oder anderen Moment etwas mehr Überhöhung, etwas mehr Dynamik. Dies wäre den minimen Verlust an Realismus allemal wert.

Doch im Ganzen vermag Le prénom durchaus zu gefallen. Dem Film gelingt es, den Begriff der Bourgeoisie zu differenzieren, indem er ihre Ausprägungen im 21. Jahrhundert amüsant unter die Lupe nimmt: Er lässt das linke Bildungsbürgertum, den habilitierten Alt-68er Pierre, auf den reichen Weinkenner Vincent – wunderbar gespielt von Patrick Bruel, dessen Selbstbeweihräucherung Züge von Zero Mostels Pseudolus in A Funny Thing Happened on the Way to the Forum trägt – treffen, die frustrierte Akademikerin Babou auf die Karrieristin Anna. Doch bei allem Zwist endet der Abend auf einer versöhnlichen Note, ganz nach dem Motto: Es braucht schon mehr als das Aufbrechen familiärer Abgründe, um das Familiengefüge zu zerstören. Richtig französisch eben.

★★★

Mittwoch, 22. August 2012

L'exercice de l'État

Die italienische Demokratie mit ihren mafiösen Verhältnissen und ihrem Hang zu zwielichtigen Personalien ist zweifellos die kurioseste Westeuropas. Doch auch Frankreichs Staatsgeschäfte sorgen regelmässig für Erstaunen. Anders als ihre südöstlichen Nachbarn aber zeichnet sich die Politik der Grande Nation weniger durch lächerlich anmutende Kapriolen, sondern durch fast schon groteske Züge aus: Hier stellen Rechts- und Linksextreme etablierte Parteien, es herrschen ausgeprägter Zentralismus und ausufernde Bürokratie. Dieses Chaos satirisch-dramatisch aufzuarbeiten, das war die Absicht der französisch-belgischen Koproduktion L'exercice de l'État. Herausgekommen ist dabei leider nicht mehr als ein mühseliges künstlerisches Experiment.

Vor gerade einmal sechs Monaten wurde der französische Politiker Bertrand Saint-Jean (Olivier Gourmet) als Transportminister ins Kabinett des Präsidenten (Stefan Wojtowicz) berufen. Nun gehört er bereits zu den beliebtesten Staatsmännern des Landes, auch weil er sich gerne als fürsorglicher Bürgerfreund inszeniert. Verunfallt nachts in den verschneiten Ardennen ein Reisebus voller Jugendlicher, setzt er sich umgehend in den Hubschrauber, besucht die Unfallstelle und lässt sich im Nachhinein die positiven Schlagzeilen vorlesen. So kommt denn die grösste Herausforderung seiner Amtszeit nicht von aussen, sondern von innen: Finanzminister Peralta (François Vincentelli) will die SNCF-Bahnhöfe privatisieren lassen, um die Staatsschulden abzubauen. Vom Konsens des Kabinetts überstimmt, müssen der Privatisierungsgegner Bertrand und sein Team, allen voran der gerissene Gilles (Michel Blanc), einlenken. Denn die eigene Karriere hat in der Politik Vorrang gegenüber der Integrität.

Hinter L'exercice de l'État, der in einigen Ländern den simpleren Titel Le ministre trägt, steht ein waschechter Auteur: Pierre Schoeller, Franzose, 51 Jahre alt, Regisseur, Verfasser des Drehbuchs und Komponist der Filmmusik. Ein derartiger Alleingang kann durchaus gelingen, wenn es sich beim Urheber um ein ausgesprochenes Talent handelt und darüber hinaus die einzelnen Elemente organisch ineinander greifen. Bei Schoeller aber ist beides nur begrenzt der Fall; sein sphärischer Score ist in vielerlei Hinsicht symptomatisch dafür, warum sein dritter Film nicht funktioniert. Mystische, manchmal sogar unheimliche Klänge umwummern die Szenen, ihre Dichte nimmt mit fortlaufender Filmdauer zu. Ihr Zweck bleibt ebenso rätselhaft wie die Atmosphäre, welche sie simulieren. Man kann sie als überirdischen Kontrast zum kühlen, profanen Polit-Geschehen interpretieren; sie könnten ein weiterer Ausdruck von Bertrands bizarren sexuellen Fantasien sein, die irgendwo zwischen Kubricks Eyes Wide Shut und Jodorowskys La montaña sagrada anzusiedeln sind.

Bürgerfreund in Aktion: Transportminister Bertrand Saint-Jean (Olivier Gourmet) setzt sich mit Demonstranten auseinander.
Der Musik folgt das Drehbuch, dessen Dialoge zwar – im Rahmen, den die Thematik erlaubt – einigermassen geradlinig verlaufen, mitunter aber von enervierend kryptischen, ja geradezu selbstherrlich enigmatischen Linien durchsetzt sind. Schoeller versucht, mittels Verwirrung und Exzentrik das Gefühl von Subtext herzustellen, den Zuschauer glauben zu lassen, er wohne einer ungemein raffinierten Dekonstruktion des Homo Politicus bei. Hin und wieder sind durchaus interessante Ansätze erkennbar – etwa bei den Kabinettssitzungen, wenn "le père", der Präsident, anwesend ist; zuweilen ist man sogar geneigt, die undurchdringliche, von ästhetischen Ablenkungen geprägte Fassade als satirische Imitation politischer Ränkespiele zu lesen. Doch bei genauerer Betrachtung erweist sich das Ganze als eher billige Scharade, Rauch und Spiegel. Schoeller ertränkt die zweifelsfrei vorhandenen Qualitäten seines Films – den bis in die Nebenrollen (Laurent Stocker, Sylvain Deblé, Anne Azoulay) hervorragend aufspielenden Cast, allen voran Olivier Gourmet, Julien Hirschs harte Bilderwelten eines kriselnden Frankreichs – in übertriebenem Formalismus, das Wesentliche wird von unnötigen Schnörkeln und Schlenkern verschleiert.

So reüssiert der stellenweise arg bemühende Film weder auf politischer noch auf menschlicher Ebene. Die an die unglücklichen Bemühungen Alice Rohrwachers in Corpo celeste erinnernde Ästhetik verhindert jegliche Form von emotionaler Anbindung; die kleinen und grossen Katastrophen, welche Bertrand Saint-Jean auf seiner psychischen und physischen Odyssee widerfahren, hinterlassen nicht den geringsten Eindruck. L'exercice de l'État wirkt bestenfalls wie eine zahn- und humorlose Variation der beliebten britischen Sitcoms Yes Minister und Yes, Prime Minister aus den Achtzigerjahren. Das Pantheon der Film-Auteurs liegt für Pierre Schoeller derzeit noch in weiter Ferne.

★★

Samstag, 18. August 2012

Ted

Mit nur 38 Jahren gehört Seth MacFarlane bereits zu den erfolg- und einflussreichsten Vertretern der amerikanischen Comedy-Szene. Aus seiner Feder stammen die drei Hit-Serien Family Guy, American Dad! und The Cleveland Show, er geniesst einen hervorragenden Ruf als Sänger, Texter und Synchronsprecher und mit seiner Liebe zum derben Humor hat er sich zugleich eine riesige Fanbasis und ein beträchtliches Heer an Gegnern erarbeitet. Mit Ted wagt er nun den Schritt ins Spielfilmregie-Fach. Wer etwas anderes als MacFarlanes typische Mischung aus kruder Hit-and-Miss-Komik und harschen popkulturellen Anspielungen erwartet, ist im falschen Film.

Im Boston der Achtzigerjahre lebte einst ein kleiner Junge namens John Bennett, der einfach keine Freunde fand. Doch am Weihnachtsmorgen 1985 sollte sich das Leben des einsamen Kindes für immer verändern, denn unter dem Baum lag ein ganz besonderes Geschenk: ein grosser Teddybär, den John sogleich fest ins Herz schloss. Und weil gerade die magische Zeit des Jahres herrschte, ging sein Wunsch, der Bär solle lebendig werden, in Erfüllung; "Ted" (Stimme: Seth MacFarlane) wurde über Nacht zur Mediensensation. Seither sind 27 Jahre vergangen und John (Mark Wahlberg) und Ted sind immer noch beste Freunde. Allerdings wird die Freundschaft immer mehr zur Belastung für Johns Beziehung mit seiner Freundin Lori (Mila Kunis). Also bittet er Ted, sich eine eigene Wohnung und einen Job zu suchen. Dies erweist sich aber für einen Plüschbären ohne jeden Anstand als grosse Herausforderung.

Seth MacFarlanes Humor ist bissig, kompromisslos und verhält sich den Grenzen des guten Geschmacks gegenüber vollkommen gleichgültig. In der Unterhaltungsindustrie führen seine Serien einen erbitterten, wenn auch nicht ganz ernst gemeinten Kleinkrieg mit South Park und den Simpsons; politisch wollen ihm rechte – der Parents Television Council oder Sarah Palin – wie linke – die Gay and Lesbian Alliance Against Defamation – Exponenten ans Leder. Unanständigkeit, Antireligiosität, Jugendgefährdung, Rassismus und Sexismus, so lauten die Anklagen. Kümmern tut ihn das freilich wenig. Überragende Einschaltquoten für seine Fernsehserien geben ihm Recht. Und die Erfolgsgeschichte wird in Ted fortgesetzt: MacFarlanes vulgärer Klamauk vermag auch im Kino die Massen zu begeistern. Obwohl der Film in den USA erst ab 17 Jahren freigegeben ist – eigentlich eine kommerzielle Katastrophe –, gehört er zu den Kassenschlagern des Sommers.

Freunde fürs Leben: Der 35-jährige John Bennett (Mark Wahlberg) und sein zum Leben erwachter, unflätiger Teddybär Ted (Stimme: Seth MacFarlane).
Zwar ist die Mischung aus Liebes- und Buddy-Komödie, ein nicht eben neues Konzept, lange nicht so gewagt wie gewisse Werke aus dem TV-Œuvre des Regisserus, doch sein primäres Ziel erreicht der Film mühelos: Ted ist lustig. Manche Witze laufen ins Leere, manche wirken geschrieben wohl unterhaltender als sie gesprochen tatsächlich sind, die Geschichte, welche wider Erwarten mehr als nur ein Alibi ist, verläuft in allzu konventionellen Bahnen – allerdings ist die Beziehung zwischen John und Lori überraschend gut gelungen. Doch MacFarlane wäre nicht MacFarlane, wenn sich in seinen Erzeugnissen neben den weniger gelungenen Humorversuchen nicht auch Unmengen an köstlichem Komödienmaterial finden würde. Und dieses nimmt, wie man es sich aus Family Guy gewohnt, die unterschiedlichsten Formen an.

Die Wegwerf-Verweise auf die Popkultur – Justin Bieber, Katy Perry, Jack and Jill ("Adam Sandler plays a guy and a girl and... it's awful. It's... unwatchable"), das herrlich willkürliche Schlussbild – bemühen sich gar nicht erst um Langlebigkeit; die vereinzelten Gastauftritte, deren Höhepunkt sicherlich Patrick Stewarts Erzähler ist, verfehlen ihre Wirkung nicht; die Selbstreflexion funktioniert ("I do not sound that much like Peter Griffin!"); bei MacFarlanes Lieblingsthemen werden keine Gefangenen gemacht ("Look what Jesus did!"); und der Film reüssiert sogar dort, wo Sacha Baron Cohen drei Filme lang gescheitert ist: Ted zeigt, dass es möglich ist, gute Witze über menschliche Fäkalien zu machen. Grossen Anteil am Gelingen haben auch die Hauptdarsteller. MacFarlane und insbesondere Mila Kunis (Meg Griffin in Family Guy) laufen zu komödiantischer Höchstform auf. Mark Wahlberg hingegen, obwohl auch er seinen Anteil an Lachern beisteuert, wirkt in seiner Zurückhaltung fast peinlich berührt ob der zum Besten gegebenen Zoten.

Die Freundschaft gefährdet Johns Beziehung mit seiner Freundin Lori (Mila Kunis).
Neue Freunde wird sich Regiedebütant MacFarlane mit Ted kaum machen. Der Film ist unverschämt, beleidigend, vulgär, derb und macht jede Menge Spass – wenn man sich denn mit dem Humor der Macher anzufreunden weiss. Von den diversen Einzeilern abgesehen, wird kaum etwas davon über längere Zeit hängen bleiben. Beste Voraussetzungen eigentlich für MacFarlanes nächstes Kinoprojekt.

★★★

Freitag, 17. August 2012

Prometheus

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Kaum ein Regisseur ist in so vielen Genres ähnlich erfolgreich wie Ridley Scott. In seinem neuesten Film greift der Brite auf einen seiner grössten Triumphe, den stilbildenden Schocker Alien, zurück: Prometheus ist ein ansprechender, wenn auch allzu löchriger Science-Fiction-Blockbuster.

Im Jahr 2089 stösst das Archäologenpaar Elizabeth (die hölzerne Noomi Rapace) und Charlie (Logan Marshall-Green) auf der schottischen Insel Skye auf Höhlenmalereien – der französischen Chauvet-Höhle entlehnt –, welche, wie zahlreiche andere Funde, auf einen weit entfernten Riesenplaneten hinweisen, dessen Mond LV-223 möglicherweise bewohnbar ist. Charlie und Elizabeth interpretieren diesen als Ursprungsort des menschlichen Lebens. Gesponsert von der milliardenschweren Firma des im Sterben liegenden Peter Weyland (Guy Pearce mit lächerlichem Alters-Makeup), startet das Raumschiff "Prometheus" in Richtung LV-223. Mit an Bord sind neben den Archäologen Geologen, Ingenieure, Biologen, die Weyland-Mitarbeiterin Vickers (Charlize Theron) und der treue Roboter David (Michael Fassbender), der ein Flair für Sport, Philosophie und Lawrence of Arabia hat. 2093 erreicht die Crew den geheimnisvollen Mond, wo sie tatsächlich Antworten auf einige der grossen Fragen der Menschheit finden. Doch die scheinbar nicht mehr bewohnte ausserirdische Welt gibt den Erdpionieren auch neue, beängstigende Rätsel auf.

Eine der wichtigsten Fragen, die Prometheus aufwirft, ist die, warum die Aliens von LV-223 die Menschen geschaffen haben sollen. Vor allem Elizabeth wird durchgehend von dieser Ungewissheit verfolgt; ihre nicht zu stillende Neugier dient letzten Endes sogar dazu, ein mögliches Sequel anzudeuten. Ob dies wirklich nötig ist, steht zu bezweifeln, denn das Quasi-Prequel zu Alien beantwortet diese im Universum des Films so grundlegende Frage eigentlich schon in seiner allerersten Szene: Ein menschenähnliches Alien wird von einem offenbar nicht von seiner Rasse gebauten UFO auf einem Planeten ausgesetzt, es trinkt eine Flüssigkeit, seine DNA löst sich auf, es stürzt einen Wasserfall hinunter, die DNA-Stränge formieren sich neu und lösen eine biochemische Reaktion aus. Fazit: Die Entstehung der Menschheit war ein glücklicher (?) Zufall – Problem gelöst.

Antworten auf die grossen Fragen: Archäologin Elizabeth (Noomi Rapace) untersucht den Kopf eines toten Ausserirdischen.
Tatsächlich ist diese eindrückliche Anfangssequenz bei weitem die befriedigendste des ganzen Films. Nicht nur wird darin, in Anlehnung an die populären Theorien Erich von Dänikens, der Ursprung allen irdischen Lebens im Alien-Universum gezeigt; auch das Prometheus-Motiv wird gerechtfertigt: Wie der mythische Titan, welcher den Menschen erschuf und ihm das Feuer brachte, wird der ausgesetzte Ausserirdische nach seiner gotteslästerlichen Tat seiner Macht beraubt. Die Fragen, die nach dem Prolog aufgeworfen werden, sind weit weniger schlüssig, dafür um einiges frustrierender. Theologische Anklänge wechseln sich ab mit Vorstellungen von einem zynischen Schöpfer (David: "Why did you create me?" – Charlie: "Because we can"). Doch auch von der konfusen ethischen Dimension abgesehen, generiert Prometheus mehr Fragen als Antworten. Kaum eine Szene endet, ohne Stirnrunzeln zu hinterlassen: Warum wird dieses bedeutungslose Detail zur überraschenden Wendung erhoben? Wieso ist dieses Alien auf die giftige Substanz zugerannt? Weshalb ekelt sich der Biologe vor toten Ausserirdischen, aber nicht vor lebenden Schleimmonstern?

Je länger man über Prometheus nachdenkt, desto mehr fällt das Ganze in sich zusammen. Und doch vermag der Streifen zu unterhalten. Nach dem missglückten Robin Hood scheint Ridley Scott seine Regie-Qualitäten wiederentdeckt zu haben: Besonders die erste Stunde des Films begeistert mit einem brillanten Zusammenspiel von Bildern, Musik, Effekten und düsterer Atmosphäre; die spannende Einführung ins obligate Crew-Massensterben ist optimal gelungen. So ist es ratsam, der effekthascherischen "philosophischen" Komponente nicht allzu viel Bedeutung beizumessen, sondern sich an den exzellenten Schauwerten zu erfreuen. Der Lohn ist kein guter, aber immerhin ein akzeptabler Film mit etlichen ärgerlichen Löchern und einer Schlussszene ohne Hand und Fuss.

★★★

Freitag, 10. August 2012

Coriolanus


★★★★

One would be hard-pressed to find a contemporary actor below the age of fifty who is as accomplished, as experienced, and as renowned as Ralph Fiennes. Over the years, the Englishman has appeared in numerous award-winning films – he himself was nominated twice for an Academy Award (Schindler’s List, The English Patient) –, made his mark in mainstream cinema – particularly with his iconic performance as Lord Voldemort in the Harry Potter franchise –, and, as a Shakespearean actor, his record on stage is remarkable. In 2011, he took his first ever stab at directing; his first feature could not have been a more ambitious one. Coriolanus, the adaptation of one of William Shakespeare’s lesser-known plays, is flawed but fascinating. 

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).

Donnerstag, 9. August 2012

Brave

17 Jahre und zwölf Filme mussten vergehen, bevor Pixar, das zur Zeit beste und bekannteste Animationsstudio der Welt, seinen reichen Figurenkanon um eine weibliche Hauptfigur erweiterte. Doch das Warten hat sich gelohnt: Obwohl sich die Irrungen und Wirrungen um Drehbuch und Regie unmissverständlich bemerkbar machen, ist Brave eine mitreissende Mittelalterfabel mit erfrischend feministischen Motiven.

In den von Legenden umrankten schottischen Highlands leben die Clans der Macintoshs, der Dingwalls und der MacGuffins unter der Führung von König Fergus (Stimme: Billy Connolly), Anführer der DunBrochs. Dessen Tochter, die junge Prinzessin Merida (Kelly Macdonald), ist zu einem temperamentvollen Teenager herangewachsen. Ihre Mutter, Königin Elinor (Emma Thompson), erfüllt dies mit Sorge, denn diese versucht schon seit einiger Zeit, ihre Tochter in eine feine Dame des Hochadels zu verwandeln. Doch Merida kann die engen Kleider und die "frauengerechten" Aktivitäten nicht ausstehen. Der rothaarige Wildfang verbringt seine Zeit viel lieber damit, auf seinem Pferd Angus durch Wälder und über Wiesen zu reiten und seine Fähigkeiten als Bogenschützin unter Beweis zu stellen – sehr zu Fergus' Stolz. Der Konflikt erreicht einen kritischen Punkt, als sich die Prinzen Macintosh, MacGuffin und Dingwall in einem Wettstreit im Bogenschiessen messen sollen, um zu entscheiden, welcher der drei der Hand der holden Prinzessin von DunBroch würdig ist. Von der ihr aufgezwungenen Passivität frustriert, nimmt Merida selber am Wettbewerb teil und gewinnt ihn souverän. Elinor platzt darob vollends der Kragen, woraufhin Merida in den Wald flüchtet und auf eine Hexe (Julie Walters) trifft, die verspricht, ihr Schicksal verändern zu können.

2011 war kein gutes Jahr für Pixar. Cars 2 spielte an den Kinokassen zwar eine ansehnliche Summe ein, doch das Studio machte erstmals Bekanntschaft mit einem überwiegend negativen Kritikerecho; das als zu kindisch verschrieene Sequel war dann auch der erste Pixar-Langspielfilm, der für keinen einzigen Oscar nominiert wurde. Daher sollte das Folgewerk Brave nicht nur ein kritischer Erfolg werden, sondern auch eine kleine Revolution innerhalb der Firma einläuten: Ein Mädchen fungiert als Heldin, eine Frau sitzt auf dem Regiestuhl. Schliesslich sollte jedoch nur eine der angestrebten progressiven Premieren gelingen. Regisseurin Brenda Chapman (The Prince of Egypt) wurde ihres Amtes enthoben und durch Mark Andrews, der zuvor als Berater in Mittelalterdingen am Projekt beteiligt war, ersetzt. Auch das Drehbuch sorgte unter den Produzenten nicht für Einigkeit: Vier Leute, darunter Chapman und Andrews, arbeiteten daran.

Keine Lust auf "frauengerechte" Aktivitäten: Prinzessin Merida (Stimme: Kelly Macdonald) ist eine meisterhafte Bogenschützin.
Entsprechend ist Brave etwas unstet ausgefallen. Streitet sich Merida mit Elinor, lässt sich die Handschrift einer Mutter dahinter erkennen – so entstand die Idee für den Film; kämpft das Mädchen mit Bären, glaubt man, den Kilt tragenden Hobby-Schwertkämpfer Andrews ausmachen zu können. Trotz der scheinbaren Diskrepanz sind jedoch beide Wesenszüge der Protagonistin optimal umgesetzt. Ihre Beziehung zu Elinor und Fergus wird wunderbar eingefangen, die Dialoge, in denen sich so mancher jüngere Kinogänger wiedererkennen dürfte, wirken absolut lebensecht – "Mom! I'm not going to be like you!". Und wenn Merida zur emanzipierten Actionheldin mutiert, dann vermag ihr Abenteuer zu packen; ihre schiere Energie wirkt mithilfe von Patrick Doyles authentischer Musik, der – wie immer – fabelhaften Animation und der atemberaubend schönen Szenerie ansteckend.

Gravierender sind die Diskrepanzen in Sachen Humor. Der Film wurde von diversen Kritikern als "mehr DreamWorks als Pixar" abgestempelt, was vielleicht ein wenig harsch ist. Selbst in seinen schwächsten Momenten greift Brave nicht nach den offensichtlichen Filmanspielungen, welche mitunter die Werke der Konkurrenz – Shrek, Madagascar – zu überfluten drohen. Vielmehr scheinen sich die Autoren an den jüngeren Erzeugnissen Disneys zu orientieren; man vergisst oft, dass Pixar seit 2006 Teil des Disney-Imperiums ist. Besonders der zweite Akt enthält einfache, ja fast schon banale Witze, die man eher in einem Film wie Meet the Robinsons oder Tangled erwarten würde. Die viel gelobte Mühelosigkeit des Pixar-Humors macht sich in gewissen Szenen des Mittelteils tatsächlich rar. Auch hätte auf die drei aufmüpfigen kleinen Brüder Meridas verzichtet werden können, da diese kaum etwas zur Geschichte beitragen und – obwohl sie kein Wort von sich geben – für einen nicht unerheblichen Teil der allzu billigen Lacher verantwortlich sind.

Besorgte Eltern: König Fergus (Billy Connolly) und Königin Elinor (Emma Thompson) versuchen vergeblich, ihre Tochter in eine feine Dame zu verwandeln.
Brave ist wahrlich kein Film von der meisterlichen Qualität von Toy Story, The Incredibles, Ratatouille, WALL-E oder Up. Und doch ist er ein weiterer Beweis für die Klasse des Studios mit der Lampe. Wenn die Witze treffen, dann bleibt beim Zuschauer kein Auge trocken – nicht zuletzt dank grossartiger Stimmleistungen von Seiten Kelly Macdonalds (No Country for Old Men), Billy Connollys oder Julie Walters'. Reitet Merida in halsbrecherischem Tempo durch die mittelalterlichen Highlands oder nimmt sie den Kampf gegen den sagenumwobenen Monsterbären Mor'du auf, dann fasziniert und begeistert dies. Erinnert sie sich an eine Zeit, in der ihre Kommunikation mit Elinor noch nicht hauptsächlich aus genervtem Stöhnen und wütenden Anschuldigungen bestand, berührt dies.

So ist Brave eben doch viel mehr als bloss ein Abenteuerfilm, nämlich eine wunderschöne Coming-of-Age-Parabel, die sich ebenso ernsthaft mit den Tücken des Erwachsenwerdens auseinandersetzt wie mit dem Entdecken der eigenen Identität. Kein Wunder, dass die Hauptfigur in mehrfacher Hinsicht an Katniss Everdeen aus dem Hunger Games-Universum erinnert. Merida verwehrt sich nicht nur dagegen, dass sie kein Mitspracherecht bei der Auswahl ihres künftigen Ehemannes hat; sie entscheidet sich auch dafür, vorerst gar keinen auszuwählen. Damit zieht sie die Rebellion gegen das klassische weibliche Rollenmuster noch einen Schritt weiter als üblich: Eine Frau kann sich ihren Partner selber aussuchen, muss aber nicht. Sie muss sich nicht durch ihre Beziehung zu einem Mann definieren. Ein Märchenfilm ohne Liebesgeschichte. Brave indeed.

★★★★

SuperClásico

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.


2011 gewann ein dänischer Film den Oscar für den besten fremdsprachigen Film. Dieses Jahr schaffte es ein eher ungewöhnlicher Kandidat aus demselben Land unter die letzten neun Anwärter: SuperClásico ist eine charmante Komödie, welche die unverwechselbare argentinische Leichtigkeit zu imitieren versucht.

Christians (Anders W. Berthelsen) Leben ist an einem Tiefpunkt angelangt: Seine einst so erfolgreiche Vinothek steht kurz vor dem Bankrott; sein Sohn Oscar (Jamie Morton) distanziert sich von ihm und verbringt seine Zeit damit, alles Mögliche zu fotografieren und die Werke Camus' und Kierkegaards zu lesen; und seine Frau Anna (Paprika Steen) arbeitet schon seit fast einem Jahr als Fussballmanagerin in Buenos Aires. Als diese plötzlich per Post die Scheidung verlangt, hält es Christian nicht mehr aus. Mit Oscar im Schlepptau verlässt er Kopenhagen und reist in die argentinische Hauptstadt, um Anna zurückzuholen. Im von heissblütigen Fussballfans bewohnten Südamerika angekommen, lernt Christian den neuen Liebhaber seiner Frau kennen: Juan Diaz (Sebastián Estevanez), den etwas einfach gestrickten Starkicker und Rekordtorschützen des Stadtvereins Boca Juniors. Auf diesem ihm fremden Terrain versucht Christian, Anna umzustimmen, während Oscar auf eigene Faust die Liebe entdeckt.

SuperClásico mag die dänische Einsendung zu den diesjährigen Oscars gewesen sein, doch mit dem Land verbindet ihn nicht mehr als die Herkunft seiner Protagonisten und ein paar vereinzelte Anlehnungen ans nationale Kino, darunter Wilbur Wants to Kill Himself. Dänemark figuriert in den ersten Minuten des Films als grauer, freudloser Moloch, welcher dem von Anders Berthelsen famos gespielte Christian den letzten Nerv kostet. Und obwohl ihm Argentinien überhaupt nicht zusagen will – zu heiss, zu laut, zu fussballverrückt, schlechter Wein –, weiss Regisseur Ole Christian Madsen die Metropole äusserst verlockend zu inszenieren: Die Farben, nach denen man in Madsens Dänemark vergeblich sucht, sind in Argentinien im Überfluss vorhanden. Blauer Himmel, goldene Sonnenuntergänge, romantisch vergilbte Hausfassaden; Smog und Staub tauchen Buenos Aires in einen verführerischen Sepia-Ton.

Schwieriger Scheidungsprozess: Christian (Anders W. Berthelsen) besucht seine Noch-Frau Anna (Paprika Steen) in Buenos Aires.
So wie der Film die Stadt verklärt – mehrfach auch auf absurd-komische Weise; sogar die Strassenräuber sind höflich hier –, so orientiert er sich stilistisch am argentinischen Kino, welches seit der Wirtschaftskrise um 2000 internationales Interesse geweckt hat, an seiner lakonischen, aber dennoch warmherzigen Art, seinem Sinn für optimistische Melancholie – El perro, Diarios de motocicleta, Un cuento chino. Die Exzentrik jener Filme vermag Madsen, der gemeinsam mit Anders Frithiof August für das Skript zeichnet, nicht bis ins kleinste Detail einzufangen; die tanzenden Kakerlaken oder der märchenhaft-entrückte Erzähler – trotz hervorragendem Text – können nicht restlos überzeugen. Auch hat SuperClásico mit gewissen Glaubwürdigkeitsproblemen zu kämpfen, was wohl primär auf die fehlbesetzte Paprika Steen zurückzuführen ist. Aber trotzdem kann das sympathisch unvollkommene Konstrukt letztlich überzeugen. Die Reifung Christians und die Liebesgeschichte Oscars werden gekonnt aufgezogen und durch zahlreiche wahrhaft inspirierte komödiantische Momente ergänzt.

Höhepunkte des Weltkinos sehen definitiv anders aus als Ole Christian Madsens neuer Film, doch wem der Sinn nach einer sommerlich leichten Komödie mit südländischem Einschlag steht, der ist mit SuperClásico bestens bedient.

★★★

Mittwoch, 8. August 2012

To Rome with Love

Nach einer Reihe nicht sonderlich erfolgreicher Filme konnte Woody Allen 2011 mit Midnight in Paris die Gunst von Kritik und Publikum zurückerobern. Die genüsslich intellektuelle Verklärung der Stadt der Liebe avancierte zu Allens kommerziell erfolgreichstem Projekt und wurde mit dem Oscar für das beste Drehbuch ausgezeichnet. In seinem neuen Film fühlt sich der Kult-Regisseur nun in keinster Weise dazu verpflichtet, im gleichen Stil fortzufahren: To Rome with Love ist ein vergnüglicher, kaum getarnter Rückgriff auf sein komödiantisches Frühwerk.

Die Europatournee des Woody Allen erreicht ihre nächste Station. London (Match Point, Scoop, Cassandra's Dream, You Will Meet a Tall Dark Stranger), Barcelona (Vicky Cristina Barcelona) und Paris liegen hinter ihm; Rom darf auf einer derartigen Reise nicht fehlen. Vor allem, da in der ewigen Stadt alles eine Geschichte ist, die sich zu erzählen lohnt – zumindest wenn es nach dem Verkehrspolizisten auf der Piazza Venezia geht. Da wäre etwa das amerikanische Ehepaar Phyllis (Judy Davis), scharfzüngige Psychoanalytikerin, und Jerry (Woody Allen, der erstmals seit Scoop von 2006 wieder vor der Kamera zu sehen ist), griesgrämiger Opernproduzent im Ruhestand, welche in Rom den Verlobten ihrer Tochter Hayley (Alison Pill) kennen lernen sollen. Doch Jerrys Interesse gilt bald schon dem Vater seines zukünftigen Schwiegersohns. Der Bestatter Giancarlo (Fabio Armiliato) schmettert unter der Dusche – und nur unter der Dusche – nämlich grandiose Arien. In einem anderen Teil der Stadt plagen den jungen Architekten Jack (Jesse Eisenberg) ganz andere Sorgen. Zwar redet er sich ein, nur Augen für seine Freundin Sally (Greta Gerwig) zu haben, doch als deren Freundin Monica (Ellen Page) zu Besuch kommt, ist er sich dessen nicht mehr so sicher. Als besonders hilfreich erweisen sich dabei die imaginären Ratschläge des Stararchitekten John (Alec Baldwin) nicht. Doch auch Einheimische sind vor den Tücken Roms nicht gefeit: Das langweilige Leben des Durchschnittsbürgers Leopoldo (Roberto Benigni) erweckt plötzlich unerklärliches Interesse; er wird fortan von Fernsehteams, Autogrammjägern und gut aussehenden Verehrerinnen verfolgt. Derweil verliert sich das frisch gebackene, gerade aus der Provinz angekommene Ehepaar Milly (Alessandra Mastronardi) und Antonio (Alessandro Tiberi) durch eine Reihe unglücklicher Zufälle aus den Augen. Milly trifft dabei auf ihren Lieblingsschauspieler (Antonio Albanese), während Antonio unverhofft Besuch von der Prostituierten Anna (Penélope Cruz) erhält, welche er seinen konservativen Onkeln als seine neue Frau vorstellen muss.

Imaginäre Hilfe fürs Gewissen: Jack (Jesse Eisenberg) erhält Liebesratschläge vom Stararchitekten John (Alec Baldwin).
Oscars und andere Preise waren noch nie in der Lage, Woody Allens Arbeit zu beeinflussen. Nachdem er mit Annie Hall – der die sprechende Line "They're always giving out awards. Best Fascist Dictator: Adolf Hitler" enthält – die amerikanische Komödie praktisch revolutioniert hatte und von der Academy entsprechend geehrt worden war, drehte er mit Interiors ein Drama. Dem durchschlagenden Erfolg der Tragikomödie Hannah and Her Sisters – drei Oscars, einschliesslich Drehbuch – liess er September folgen, eine Tragödie. Und nun, ein Jahr nach dem Überraschungshit Midnight in Paris, liess er auch dieses Erfolgsrezept links liegen und drehte seinen ersten aus unzusammenhängenden Einzelgeschichten aufgebauten Film seit Everything You Always Wanted to Know About Sex But Were Afraid to Ask (1972). Überhaupt wirkt To Rome with Love wie eine Reminiszenz an Allens Schaffen in den frühen Siebzigerjahren, die überwiegend auf Vignetten basierenden Farcen, die Hit-and-Miss-Komödien, in denen sich zahllose gute Ideen fanden, aber nur manche richtig ausgeführt wurden.

In diesen Kontext gestellt, befindet sich To Rome with Love mit Bananas, Sleeper oder eben Everything You Always Wanted to Know About Sex in bester Gesellschaft. Es funktioniert bei weitem nicht alles: Die Geschichte um Milly und Antonio wirkt gleichzeitig unsorgfältig ausgearbeitet und skizzenhaft und zu überladen. Allzu unwahrscheinlicher Zufall reiht sich an allzu unwahrscheinlichen Zufall, die Schauspielleistungen reichen von blass – auch wenn dies bei Alessandro Tiberi und Alessandra Mastronardi Teil der Charakterisierung ist – bis, im Falle von Penélope Cruz' ungelenker Selbstkarikierung, übertrieben. Doch selbst in dieser qualitativ abfallenden Episode finden sich Allen'sche Reize: gute Dialoge, unverwüstliche Elemente des klassischen Verwirrspiels, komische Überhöhung. Authentisch wirkt der ganz auf den gewohnt beseelt aufspielenden Roberto Benigni zugeschnittene Teil des Films – eine absurdistische Variation von George Cukors It Should Happen to You: Es spielen Italiener, es wird im Römer Dialekt gesprochen, die aufgegriffenen Stereotypen stammen aus dem italienischen Kino; die einheimischen Geschichten verzichten auf die touristische Dimension.

Der Durchschnittsrömer: Leopoldo Pisanello (Roberto Benigni) ahnt noch nichts von seiner plötzlichen Berühmtheit.
Überhaupt steht hier Rom weniger im Mittelpunkt als Paris in seinem Vorgänger. Die ewige Stadt ist die Leinwand, auf der Allen seiner Fantasie der fortwährenden menschlichen Komödie freien Lauf lässt. Nicht mehr und nicht weniger. Dabei überrascht es nicht, dass diese Komödie hauptsächlich von Inkarnationen des Regisseurs selber bevölkert wird: Da wäre natürlich Jerry, dessen Name kaum mehr als ein Pseudonym für den Darsteller dahinter ist. Allen vollendet das Experiment, welches er mit Larry David in Whatever Works begann, und erweitert den Archetypen des Stadtneurotikers um die Tücken des Alterns; das Resultat sind hochklassige Einzeiler, wie sie nur ein ehemaliger Stand-Up-Komiker zustande bringt. Doch auch die anderen zentralen Figuren, inklusive Tiberi und Benigni, tragen die Züge Alvy Singers, Miles Monroes, Fielding Mellishs oder Allen Felix'. Jesse Eisenberg blüht auf in der Rolle des mit zwei Objekten der Begierde überforderten Intellektuellen. Ihm gegenüber steht Ellen Page, die mit fünf Psychotherapiesitzungen pro Woche selber ein wenig Woody Allen ist. Sie beide unterhalten sich, oft sogar im gleichen Moment, mit dem die Grenzen seiner eigenen Inexistenz sprengenden Alec Baldwin – ein Rückgriff auf ähnliche Konstrukte wie Humphrey Bogart in Play It Again, Sam oder den griechischen Chor in Mighty Aphrodite.

Die philosophischen Dilemmas, die Allen immer wieder aufgreift, figurieren auch in To Rome with Love – die Antwort auf Leopoldos Frage, weshalb er "hier" (im Fernsehstudio) sitzt, lautet knapp: "Um unsere Fragen zu beantworten" –, sind aber nicht mehr als Teil der unverwechselbaren Handschrift des Regisseurs. Letzten Endes aber zählt der Unterhaltungswert. Dies ist ein Film, dem der Sinn nach nichts steht, ausser dem Zuschauer kurzweilige 110 Minuten zu bieten, was ihm zweifellos auch gelingt. Einen Oscar wird Woody Allen dafür nicht gewinnen; schmerzen wird ihn dies nicht.

★★★

Freitag, 3. August 2012

Mientras duermes

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Einmal mehr bestätigt Spanien seinen Ruf, gehalt- und anspruchsvolle Horrorfilme zu produzieren. Mientras duermes ist ein raffiniertes Kammerspiel, ein packender Psychothriller, der mit subtilen Anspielungen auf Klassiker und einem herausragenden Hauptdarsteller auftrumpfen kann.

Niemand achtet auf César (Luis Tosar), den Portier und Hausmeister eines Appartementkomplexes in Barcelona. Doch der Mann hinter dem Empfangstisch in der Lobby kennt die Geheimnisse der Bewohner und merkt sich ganz genau, wessen Wohnung zu welcher Tageszeit leer steht. Besonders interessiert ihn das Leben der hübschen Carla (Marta Etura), welcher er jeden Morgen die Lifttüre öffnet und einen schönen Tag wünscht. Doch das nicht von ihrem Gesicht weichende Lächeln und ihre optimistische Lebenseinstellung stürzen ihn in tiefste Depressionen. Ist sie glücklich, kann er nicht glücklich sein. Als Hausmeister hat César die Möglichkeit, in alle Wohnungen einzudringen. Er schickt sich an, Carla Schaden zuzufügen und ihr Leben zu zerstören, um sich endlich besser zu fühlen. Die einzige Gefahr für seinen perfiden Plan stellt ein kleines Mädchen (Iris Almeida) dar.

Dass sich die spanische Filmindustrie über die letzten zehn Jahre zur führenden europäischen Produzentin von Horrorfilmen gemausert hat, ist zu einem schönen Teil das Verdienst des katalanischen Genre-Experten Jaume Balagueró. 1999 feierte sein Langspielfilm-Debüt Los sin nombre Premiere; es folgten Projekte wie Frágiles (2005) oder die international beachtete [Rec]-Serie (2007, 2009, 2012); einzig die amerikanisch-spanische Koproduktion Darkness (2002) erwies sich als Schlag ins Wasser. Mit Mientras duermes, der international unter dem Titel Sleep Tight und mit der etwas unglücklichen Tagline "Don't let the bedbugs bite" vertrieben wird, entfernt sich Balagueró wieder vom physischen Schrecken, dem er etwa in [Rec] frönte, und widmet sich dem feineren, um ein Vielfaches wirksameren psychologischen Grauen. Dabei beweist er, dass er sich nicht nur der hehren Geschichte dieser Disziplin bewusst ist – während des ganzen Films schwingt Alfred Hitchcock mit, vom fast vereitelten Wohnungseinbruch (Rear Window) bis zum Bösewicht mit Mutterkomplex (Psycho) –, sondern auch der Filmhistorie im Allgemeinen; Anklänge an den Film Noir finden ebenso ihren Platz wie Rückbesinnungen auf das Insektenmotiv des klassischen spanischen Surrealismus nach Luis Buñuel und Salvador Dalí (Un chien andalou).

Hinterhältiger Hausmeister: César (Luis Tosar) begutachtet den Kakerlakenbefall in Carlas (Marta Etura) Wohnung. Woher die Krabbler wohl kommen?
Auch umgehen Balagueró und Autor Alberto Marini, der am Ende zwar ein paar Handlungsstränge baumeln lässt, in Mientras duermes eine der Fallen des zeitgenössischen Horrorfilms: Niemals ergeben sie sich der Versuchung, von billiger Sensationslust Gebrauch zu machen. Der Film greift nicht nach den einfachen "Jump Scares", sondern erzielt Wirkung durch seine klaustrophobische Atmosphäre, Lucas Vidals effektiven Musikscore, eine prägnante Bildsprache und die imposante Leinwandpräsenz Luis Tosars. Tosar, der zuvor schon in exzellenten Filmen wie Icíar Bollaíns proletarischem Drama También la lluiva oder Jim Jarmuschs enigmatisch-existenzalistischem The Limits of Control zu sehen war, beherrscht als Bösewicht-Protagonist das Geschehen des Films; seine hasserfüllten Monologe evozieren Edward Norton in Spike Lees 25th Hour; er funktioniert sowohl als eigenständiger Charakter, als auch als Symbol für das Böse im Menschen – ein unheimlicher, aber gelungener Balanceakt.

★★★★

Donnerstag, 2. August 2012

The Dark Knight Rises

Als 2005 die Welt dem Kinostart von Batman Begins entgegenfieberte, dem ersten Wiederbelebungsversuch der Batman-Franchise seit Joel Schumachers katastrophalem Batman & Robin, machte unter Kritikern eine Nachricht von Warner Bros. die Runde. Das Studio verbat sich jeglichen Versuch, Christopher Nolans Neuanfang inhaltlich mit den früheren Einträgen Schumachers und Tim Burtons in Verbindung zu bringen; die Vision des Engländers sollte unabhängig und einzigartig sein. Und nun, sieben Jahre, drei Filme, zwei Oscars und fast zwei Milliarden Dollar Umsatz später, zeigt sich, dass diesem Anspruch Genüge getan wurde. Der chaotische, in jederlei Hinsicht überbordende The Dark Knight Rises, obwohl der schwächste Teil der Trilogie, ist ein Serienabschluss nach Lehrbuch.

Acht Jahre sind vergangen, seit der geachtete Staatsanwalt Harvey Dent ob des Todes seiner Freundin Rachel den Verstand verlor und als Bösewicht Two Face mehrere Menschen ermordete. Der "dunkle Ritter" Batman (Christian Bale) konnte ihn stoppen, indem er ihn tötete. Doch da Gotham City nach den Verbrechen des Jokers einen "weissen Ritter" wie Harvey nötiger hatte als einen maskierten Rächer, übernahm Batman die Verantwortung für die Dent-Morde und verschwand im Untergrund. Die Wahrheit kennen lediglich er selbst und Polizei-Commissioner James Gordon (Gary Oldman). Seitdem lebt Bruce Wayne alias Batman ein zurückgezogenes Leben in seiner einsamen Villa; er überlässt seine Firma ihrem Schicksal; er zelebriert sein Playboy-Image nicht mehr; seine Superhelden-Ausrüstung lagert unangetastet in seiner unterirdischen Höhle; und sein treuer Butler Alfred (Michael Caine) weist jeden Besucher ab. Bruce trauert immer noch um seine geliebte Rachel, was ihm jeglichen Ansporn raubt. Doch als Gotham City plötzlich vom maskierten Terroristen Bane (der beeindruckend aufspielende Tom Hardy, dessen ursprünglich nur schwer verständliche Grummelstimme ein wenig unbeholfen nachvertont wurde) attackiert wird, scheint die Zeit für die Rückkehr des dunklen Ritters gekommen. Unterstützung erhält Batman dabei von der eigensinnigen Meisterdiebin Selina Kyle alias Catwoman (Anne Hathaway) und dem jungen Polizisten John Blake (Joseph Gordon-Levitt).

Das Kreuz, welches der letzte Teil von Christopher Nolans Batman-Trilogie zu tragen hat, ist von beträchtlichem Gewicht. The Dark Knight Rises – der Filmtitel wird noch lange an den 20. Juli 2012 gekettet sein, an das Massaker in Aurora bei Denver, als bei einer Mitternachtspremiere des Films zwölf Kinogänger den Tod fanden. "Die Unschuld ist weg", schloss der SPIEGEL. Hat Nolans Leitmotiv des Chaos, welches auch schon durch Batman Begins und The Dark Knight geisterte und nun im Serienfinale vollendet wird, seinen Weg von der Leinwand in die Realität gefunden? Im Batman-Universum vergiftet ein fatalistischer Sektenführer den Wasservorrat einer parabelhaften Stadt, ein hochintelligenter Irrer mit Clownschminke hetzt die Bewohner jener Stadt gegeneinander auf, ein hünenhafter Terrorist will sie mittels nuklearem Sprengkopf dem Erdboden gleichmachen, um der wild wuchernden Dekadenz endlich ein Ende zu setzen. Ein 24-jähriger Neurowissenschaftler ohne Vorstrafen färbt sich die Haare orange, besorgt sich ein kleines Waffenarsenal, betritt einen Kinosaal in einem Einkaufszentrum nahe der Hauptstadt Colorados und schiesst wild um sich. The Dark Knight Rises erhält dadurch eine Tagesaktualität, die beunruhigender und unmittelbarer ist als die politische Debatte, die sich unlängst an den Motiven des Antagonisten Bane entzündet hat.

Die Rückkehr des dunklen Ritters: Bruce Wayne (Christian Bale) schlüpft nach acht Jahren Abstinenz wieder ins Batman-Kostüm.
Film und Attentat sind miteinander insofern verbunden, als letzteres die grausame, traurige, unnötige Bestätigung des düsteren Weltbildes ist, welches in den drei Filmen kolportiert wurde: Die Welt ist verrückt geworden. Nirgends ist dies so offensichtlich wie in The Dark Knight Rises. Bane tritt vor die Massen Gothams und ruft sie zur Revolution gegen die Reichen und Schönen auf, gegen den kapitalistischen Zynismus, dessen Existenz Nolan keinesfalls leugnet – im Gegenteil –, gegen die Entmündigung der kleinen Leute. Vertreter der Hochfinanz, der Industrie, der Polizei werden vor ein Tribunal gestellt – in einem feinen Rückgriff auf Batman Begins wird dieses von Dr. Jonathan Crane alias Scarecrow (Cillian Murphy) geführt – und im Schnellverfahren verurteilt. Banes Umsturz trägt Züge der Occupy-Bewegung, doch der echte historische Präzedenzfall ist die die französische Revolution; der proletarische Freiheitsgedanke wird korrumpiert, pervertiert und in Tyrannei uminterpretiert – Bane ist Gothams Robespierre. Der Niedergang der imposanten Metropole, schon immer ein amerikanischer Mikrokosmos, beginnt aber nicht mit Banes Machtergreifung, die von 9/11-Metaphorik durchsetzt ist: Häuser- und Strassenzüge explodieren, ein Footballfeld – nicht aber die Tribünen – sackt während eines Spiels in sich zusammen. Gotham wirkt in diesem dritten Teil wie eine vom Joker erträumte Welt: Das organisierte Verbrechen wurde durch den "Dent Act" quasi ausgerottet, doch das friedliche Miteinander ist mehr Schein als Sein – immerhin gründet es auf der Lüge von Harveys Unschuld –; es herrscht eine Zweiklassengesellschaft, angeführt von korrupten Offiziellen und mit dem Bösen paktierenden Opportunisten. Gotham ist ein Chaos aus Wucher-Kapitalisten, Terroristen, heillos überforderten Gesetzeshütern und apathischen Bürgern.

Terrorist Bane (Tom Hardy) droht, Gotham City zu zerstören.
Helden sind in dieser Welt rar. Es sind die Rollenmuster des klassisch amerikanischen Heroismus, die hier den optimistischen Kontrapunkt zum pessimistischen Welt- und Menschenbild setzen: Jim Gordon der prinzipientreue Sheriff, Alfred die Vaterfigur, John der junge Idealist, Selina der Outlaw, Bruces Freund Lucius Fox (Morgan Freeman) der verschmitzte Mitwisser. In diesem Raster sind sogar Batmans Auftritte eher spärlich – wohl auch, weil er von der Fülle an neuen Charakteren etwas an den Rand gedrängt wird und seine Figur an sich fast wie ein Fremdkörper in der auf hyperrealistisch getrimmten Geschichte wirkt. Tatsächlich macht sich in The Dark Knight Rises erstmals bei Nolan das Gefühl bemerkbar, Batman sei das Produkt einer Reihe von Bildergeschichten für Kinder, auch weil das Drehbuch, verfasst von den Nolan-Brüdern Christopher und Jonathan, ungewohnte Schwächen aufweist. Die relativ geradlinige, aber deutlich zu lang ausgefallene Geschichte ist durchsetzt von kitschigen Momenten, allzu offenkundiger Exposition, skizzenhaften Liebesgeschichten und hölzernen Dialogen. Zugleich aber erweisen sich die Nolans einmal mehr als talentierte Geschichtenerzähler mit einem Flair für Charakterentwicklung. So reüssieren sie etwa dabei, Alfred zusätzliche Tiefe zu verleihen – ein Versuch, der für Joel Schumacher kein gutes Ende nahm.

Zudem zeigt Nolan auch hier, dass er ein Regisseur mit einer ausgeprägten und substantiellen Vision ist. Es gelingt ihm, das Loch, welches Heath Ledgers charistmatischer Joker hinterlassen hat, mit Tom Hardys Bane zu füllen, selbst wenn dieser seinem Vorgänger nicht das Wasser reichen kann. Hardys intensive Darbietung wird durch Kamera, Musik und Inszenierung ergänzt; Bane wird in Untersicht gefilmt, er taucht plötzlich auf, er ist kein "wilder Hund" wie der Joker, sondern eine stets gefasste, würdevolle, brandgefährliche Präsenz. Und obwohl der ganze Film mit herausragenden Momenten gespickt ist, erreicht Nolans Regie ihren Höhepunkt im dritten Akt. Dann nämlich springt der Funke endgültig über. Das letzte Gefecht, nicht nur des Films, sondern der Trilogie, ist dann auch zweifellos der stärkste Teil des Films. Hier verschmelzen das brillante Sounddesign, Hans Zimmers wie gewohnt packender Score, Wally Pfisters famos geführte Kamera und die von panischer Dringlichkeit angetriebene Geschichte zu einem Musterbeispiel meisterhaften Filmemachens.

Zwielichtige Gehilfin: Die Juwelendiedin Selina Kyle (Anne Hathaway) alias Catwoman steht Batman in seinem Kampf bei.
The Dark Knight Rises ist ein Actionspektakel epischen Ausmasses. Dass dabei nicht alles gelingt, nicht alle Aspekte so wunderbar ineinandergreifen wie bei den beiden Vorgängern, war im Grunde abzusehen, muss der Film doch einen Schlussstrich unter eine von Fans auf aller Welt sieben Jahre lang fieberhaft mitverfolgte Serie ziehen. Diese Aufgabe löst er bravourös: Rückblenden, Anspielungen und Rückgriffe schlagen die Brücken zu Batman Begins und The Dark Knight; das kompromisslos inszenierte, apokalyptische Chaos in Gotham City schliesst den kraftvollen Subtext der Trilogie würdig ab. Dass in der Realität diesem Chaos nicht wie im Film mit einer "simplen" Heldentat Einhalt geboten werden kann, hat sich am 20. Juli 2012 in Aurora in furchtbarer Art und Weise gezeigt. Doch auf dem vorsichtigen Optimismus, der am Ende von The Dark Knight Rises anklingt, lässt sich aufbauen.

★★★