Dass die religiöse Prägung der amerikanischen Bevölkerung weitaus
stärker ist als etwa in europäischen Staaten, ist längst zum
kulturellen Klischee geworden. Anders als in den meisten westlichen
Ländern wächst sogar die Einflussnahme religiöser
Interessengruppen auf Staat und Kultur in den Vereinigten Staaten.
Eine der Ausprägungen dieses Trends ist das christlich-konservative
New Purity Movement, dem die Dokumentation Virgin Tales auf
den Grund zu gehen versucht. Worum es dem Film eigentlich geht,
bleibt unklar.
Ein Schelm, wen die Wilsons aus Colorado Springs an die nicht
verhütende Katholiken-Familie in Monty Python's The Meaning of
Life mit ihren Dutzenden, wenn nicht Hunderten, von Kindern
erinnert. Randy und Lisa heissen die Eltern, sie haben sieben Kinder
mit eigenwilligen Namen wie Colten, Jordyn, Khrystian, Kameryn oder
Kaalyn – eine nette Familie aus dem Herzen Amerikas.
Gastfreundschaft wird gross geschrieben; der üppige Sonntagsbrunch
ist fast ebenso heilig wie der wöchentliche Kirchgang. Die Wilsons
gehören zu jenen 25% der US-Bevölkerung, welche der religiösen
Strömung des Evangelikalismus zugeordnet werden. Abtreibung, Homo-Ehe
und vorehelicher Geschlechtsverkehr gehört nicht zu deren
Vorstellung einer perfekten Welt. Vor einigen Jahren hat Randy Wilson
den sogenannten "Purity Ball" ins Leben gerufen, ein
jährliches Fest, bei dem junge Mädchen ein Gelübde ablegen, ihre
Jungfräulichkeit bis zur Eheschliessung zu bewahren, und ihre Väter
versprechen, sie auf diesem Weg zu unterstützen. Die Verantstaltung
hat inzwischen in 48 Bundestaaten Fuss gefasst und expandiert auch
schon ins Ausland.
Die Wilsons sind eine seltsame Familie, eine, die in ihrer
Widersprüchlichkeit wohl symbolisch für den Evangelikalismus steht.
Zum einen entsprechen sie so gar nicht dem Bild des bibeltreuen und
intoleranten Wehr-Christen, welches sich in Europa etabliert hat.
Lisa und Randy geben Regisseurin Mirjam von Arx freundlich Auskunft,
überlegen sich ihre Antworten auf hypothetische Fragen sehr genau.
Was sie sagen würden, wenn ihre Tochter einen Freund hätte, der
nicht bis zur Hochzeit "rein" bleiben wollte? "I'd
like to meet the guy", so Randys Antwort. Denn wenn sein eigenes
Kind etwas an diesem Jungen findet, dann könne er so schlecht ja
nicht sein. Wie sie reagieren würden, wenn sie herausfänden, dass
ihre Tochter ihr Reinheitsgelübde gebrochen hat? "Forgiveness
is the greatest gift. We'd say: 'No matter how much you screw up, you
can do nothing that would make us love you less'", sagt Lisa. Es
ist nur schwer vorstellbar, dass diese Leute, deren jüngster Sohn
Oscar Wilde (!) zitiert, einen Homosexuellen oder einen Sozialisten
aus ihrem Haus jagen würden.
Küssen erlaubt: Die verheirateten Wilson-Kinder. |
Zum anderen ist da das politische Engagement von Randy. Zwar beteuert
er: "It's not about politics". Doch als Vollzeit-Mitglied
des Family Research Council, eines konservativen Thinktanks, geht es
ihm dennoch darum, die "Entscheidungsmacher zu beeinflussen"
und Pfarrer zu politischem Engagement zu animieren. Auch ist er ein
Mitglied der Watchmen on the Walls, einer internationalen
evangelikalen Vereinigung, deren Ziel es ist, die Interessen ihrer
Religion in der Politik durchzusetzen. Und hier zeigt sich die
hässliche Fratze politisch engagierter Religion und dem klischierten
Bible-Belt-Bild der Europäer wird plötzlich mehr entsprochen.
Randy, welcher der festen Überzeugung ist, dass ein nicht an Jesus
Christus glaubender Mensch, der ein Leben lang Gutes tue, trotzdem in
die Hölle komme, wettert in einer Rede gegen die Regierung, die seit
den frühen Sechzigerjahren systematisch gegen das "wahre"
Christentum vorgehe: Die biblische Schöpfungsgeschichte wurde aus
den Biologie-Zimmern verbannt, die einvernehmliche Scheidung wurde
eingeführt – dass er sich hier gegen die puritanische Tradition
stellt, scheint ihm entgangen zu sein –, amerikanische
Bundesstaaten erlauben das Vermählen gleichgeschlechtlicher Paare.
Es überrascht nicht, dass eine kurze Recherche ergibt, dass die
Watchmen on the Walls von diversen Organisationen als "Hassgruppe"
gebrandmarkt wird. Aus dem Film
ist dies nicht ersichtlich.
Der politische Arm Gottes: Randy Wilson in Washington. |
Mit mehr Konsequenz hätte Virgin
Tales ein subtiles
Anschauungsbeispiel dafür sein können, dass die Trennung von Kirche
und Staat ein Segen ist, wie gefährlich der Monopolanspruch der
Religion ist ("The Bible shouldn't change to the culture, the
culture should change to the Bible") – so ist unter
Evangelikalen etwa die Meinung, nicht religiös lebende Menschen
würden Unmoral und die Misshandlung von Frauen propagieren, weit
verbreitet. Auch dies ist einer jener Themenbereiche, der Randy
Wilson Mühe zu bereiten scheint: Er führt in einer Diskussion an,
dass die USA nicht als christliche Nation gegründet wurde,
argumentiert später aber damit, dass in Washington kein Säkularismus
herrsche. Eine kurze Recherche ergibt: Doch. Von Arx' Film ist eine
heikle Mischung aus Home Story und politischer und kultureller
Dokumentation. Es gibt Momente, in denen beide Seiten aufeinander
treffen. Während eines "Home Schooling"-Kongresses
tauschen Ehefrauen Rezepte aus und verkaufen sich gegenseitig ihre
Erziehungsratgeber, derweil in einem Konferenzraum nebenan ein Sprecher predigt,
Satan wäre der erste "Evolutionist" gewesen.
Die New-Purity-Bewegung dient als verbindendes Element der allzu
zahlreichen Themen. Dass hinter der Kamera ein kritischer Geist
steht, ist spürbar, doch die sich aufdrängenden Fragen wollen
einfach nicht kommen. Diverse Äusserungen aus dem Mund des
Wilson-Nachwuchses klingen etwas zu hölzern, um spontan zu sein;
Jordyn betont einfach zu oft, wie leicht ihr die Abstinenz falle; die
Hinterfragung der mit dem Reinheitsgelübde verbundenen Geschenke
bleibt aus – amerikanischer Walmart-Materialismus trifft auf
Suburbia-Religiosität; niemand fragt, was den Purity-Ball-Vätern
das Recht gibt, über die sexuelle Entwicklung ihrer Kinder zu
entscheiden, bevor diese überhaupt aufgeklärt sind. Echte Kritik
stellt sich erst in den letzten Sekunden des Films mittels Texttafel
ein. Diese lässt wissen, dass 40% der Amerikaner an den
Kreationismus glauben; dass unter jenen Jugendlichen, die sich der
Jungfräulichkeit verschrieben haben, vorehelicher Sex ebenso
wahrscheinlich ist wie unter "unreinen" Gleichaltrigen;
dass das Risiko von sexuell übertragbaren Krankheiten und
Teenager-Schwangerschaften unter Ersteren aufgrund der religiösen
Tabuisierung von Verhütungsmitteln sogar höher ist.
Alles für Jesus: Junge Mädchen während eines Purity Balls. |
Appliziert man als Zuschauer
einen angemessen kritischen Blick, ist Virgin
Tales eine durchaus
interessante Dokumentation über das New Purity Movement. Aus
diversen Äusserungen der – trotz allem leidlich sympathischen –
Protagonisten lassen sich so Belege für grundsätzliche Probleme von
Religion herauslesen, ganz nach dem Nietzsche-Zitat "'Glaube'
heisst Nicht-wissen-wollen, was wahr ist". Doch das Ganze ist
auf seine Weise auch frustrierend, da der Film mit seiner radikalen
Beobachtung zu vage bleibt. Von Arx versucht, den Mittelweg zwischen
Kritik und dokumentarischer Neutralität zu gehen. Das Resultat ist
ein kaum nachhallender Film, der sich seiner selbst nicht so richtig
sicher zu sein scheint – kein attraktiver Wesenszug.
★★
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