Sonntag, 26. August 2012

Virgin Tales

Dass die religiöse Prägung der amerikanischen Bevölkerung weitaus stärker ist als etwa in europäischen Staaten, ist längst zum kulturellen Klischee geworden. Anders als in den meisten westlichen Ländern wächst sogar die Einflussnahme religiöser Interessengruppen auf Staat und Kultur in den Vereinigten Staaten. Eine der Ausprägungen dieses Trends ist das christlich-konservative New Purity Movement, dem die Dokumentation Virgin Tales auf den Grund zu gehen versucht. Worum es dem Film eigentlich geht, bleibt unklar.

Ein Schelm, wen die Wilsons aus Colorado Springs an die nicht verhütende Katholiken-Familie in Monty Python's The Meaning of Life mit ihren Dutzenden, wenn nicht Hunderten, von Kindern erinnert. Randy und Lisa heissen die Eltern, sie haben sieben Kinder mit eigenwilligen Namen wie Colten, Jordyn, Khrystian, Kameryn oder Kaalyn – eine nette Familie aus dem Herzen Amerikas. Gastfreundschaft wird gross geschrieben; der üppige Sonntagsbrunch ist fast ebenso heilig wie der wöchentliche Kirchgang. Die Wilsons gehören zu jenen 25% der US-Bevölkerung, welche der religiösen Strömung des Evangelikalismus zugeordnet werden. Abtreibung, Homo-Ehe und vorehelicher Geschlechtsverkehr gehört nicht zu deren Vorstellung einer perfekten Welt. Vor einigen Jahren hat Randy Wilson den sogenannten "Purity Ball" ins Leben gerufen, ein jährliches Fest, bei dem junge Mädchen ein Gelübde ablegen, ihre Jungfräulichkeit bis zur Eheschliessung zu bewahren, und ihre Väter versprechen, sie auf diesem Weg zu unterstützen. Die Verantstaltung hat inzwischen in 48 Bundestaaten Fuss gefasst und expandiert auch schon ins Ausland.

Die Wilsons sind eine seltsame Familie, eine, die in ihrer Widersprüchlichkeit wohl symbolisch für den Evangelikalismus steht. Zum einen entsprechen sie so gar nicht dem Bild des bibeltreuen und intoleranten Wehr-Christen, welches sich in Europa etabliert hat. Lisa und Randy geben Regisseurin Mirjam von Arx freundlich Auskunft, überlegen sich ihre Antworten auf hypothetische Fragen sehr genau. Was sie sagen würden, wenn ihre Tochter einen Freund hätte, der nicht bis zur Hochzeit "rein" bleiben wollte? "I'd like to meet the guy", so Randys Antwort. Denn wenn sein eigenes Kind etwas an diesem Jungen findet, dann könne er so schlecht ja nicht sein. Wie sie reagieren würden, wenn sie herausfänden, dass ihre Tochter ihr Reinheitsgelübde gebrochen hat? "Forgiveness is the greatest gift. We'd say: 'No matter how much you screw up, you can do nothing that would make us love you less'", sagt Lisa. Es ist nur schwer vorstellbar, dass diese Leute, deren jüngster Sohn Oscar Wilde (!) zitiert, einen Homosexuellen oder einen Sozialisten aus ihrem Haus jagen würden.

Küssen erlaubt: Die verheirateten Wilson-Kinder.
Zum anderen ist da das politische Engagement von Randy. Zwar beteuert er: "It's not about politics". Doch als Vollzeit-Mitglied des Family Research Council, eines konservativen Thinktanks, geht es ihm dennoch darum, die "Entscheidungsmacher zu beeinflussen" und Pfarrer zu politischem Engagement zu animieren. Auch ist er ein Mitglied der Watchmen on the Walls, einer internationalen evangelikalen Vereinigung, deren Ziel es ist, die Interessen ihrer Religion in der Politik durchzusetzen. Und hier zeigt sich die hässliche Fratze politisch engagierter Religion und dem klischierten Bible-Belt-Bild der Europäer wird plötzlich mehr entsprochen. Randy, welcher der festen Überzeugung ist, dass ein nicht an Jesus Christus glaubender Mensch, der ein Leben lang Gutes tue, trotzdem in die Hölle komme, wettert in einer Rede gegen die Regierung, die seit den frühen Sechzigerjahren systematisch gegen das "wahre" Christentum vorgehe: Die biblische Schöpfungsgeschichte wurde aus den Biologie-Zimmern verbannt, die einvernehmliche Scheidung wurde eingeführt – dass er sich hier gegen die puritanische Tradition stellt, scheint ihm entgangen zu sein –, amerikanische Bundesstaaten erlauben das Vermählen gleichgeschlechtlicher Paare. Es überrascht nicht, dass eine kurze Recherche ergibt, dass die Watchmen on the Walls von diversen Organisationen als "Hassgruppe" gebrandmarkt wird. Aus dem Film ist dies nicht ersichtlich.

Der politische Arm Gottes: Randy Wilson in Washington.
Mit mehr Konsequenz hätte Virgin Tales ein subtiles Anschauungsbeispiel dafür sein können, dass die Trennung von Kirche und Staat ein Segen ist, wie gefährlich der Monopolanspruch der Religion ist ("The Bible shouldn't change to the culture, the culture should change to the Bible") – so ist unter Evangelikalen etwa die Meinung, nicht religiös lebende Menschen würden Unmoral und die Misshandlung von Frauen propagieren, weit verbreitet. Auch dies ist einer jener Themenbereiche, der Randy Wilson Mühe zu bereiten scheint: Er führt in einer Diskussion an, dass die USA nicht als christliche Nation gegründet wurde, argumentiert später aber damit, dass in Washington kein Säkularismus herrsche. Eine kurze Recherche ergibt: Doch. Von Arx' Film ist eine heikle Mischung aus Home Story und politischer und kultureller Dokumentation. Es gibt Momente, in denen beide Seiten aufeinander treffen. Während eines "Home Schooling"-Kongresses tauschen Ehefrauen Rezepte aus und verkaufen sich gegenseitig ihre Erziehungsratgeber, derweil in einem Konferenzraum nebenan ein Sprecher predigt, Satan wäre der erste "Evolutionist" gewesen.

Die New-Purity-Bewegung dient als verbindendes Element der allzu zahlreichen Themen. Dass hinter der Kamera ein kritischer Geist steht, ist spürbar, doch die sich aufdrängenden Fragen wollen einfach nicht kommen. Diverse Äusserungen aus dem Mund des Wilson-Nachwuchses klingen etwas zu hölzern, um spontan zu sein; Jordyn betont einfach zu oft, wie leicht ihr die Abstinenz falle; die Hinterfragung der mit dem Reinheitsgelübde verbundenen Geschenke bleibt aus – amerikanischer Walmart-Materialismus trifft auf Suburbia-Religiosität; niemand fragt, was den Purity-Ball-Vätern das Recht gibt, über die sexuelle Entwicklung ihrer Kinder zu entscheiden, bevor diese überhaupt aufgeklärt sind. Echte Kritik stellt sich erst in den letzten Sekunden des Films mittels Texttafel ein. Diese lässt wissen, dass 40% der Amerikaner an den Kreationismus glauben; dass unter jenen Jugendlichen, die sich der Jungfräulichkeit verschrieben haben, vorehelicher Sex ebenso wahrscheinlich ist wie unter "unreinen" Gleichaltrigen; dass das Risiko von sexuell übertragbaren Krankheiten und Teenager-Schwangerschaften unter Ersteren aufgrund der religiösen Tabuisierung von Verhütungsmitteln sogar höher ist.

Alles für Jesus: Junge Mädchen während eines Purity Balls.
Appliziert man als Zuschauer einen angemessen kritischen Blick, ist Virgin Tales eine durchaus interessante Dokumentation über das New Purity Movement. Aus diversen Äusserungen der – trotz allem leidlich sympathischen – Protagonisten lassen sich so Belege für grundsätzliche Probleme von Religion herauslesen, ganz nach dem Nietzsche-Zitat "'Glaube' heisst Nicht-wissen-wollen, was wahr ist". Doch das Ganze ist auf seine Weise auch frustrierend, da der Film mit seiner radikalen Beobachtung zu vage bleibt. Von Arx versucht, den Mittelweg zwischen Kritik und dokumentarischer Neutralität zu gehen. Das Resultat ist ein kaum nachhallender Film, der sich seiner selbst nicht so richtig sicher zu sein scheint – kein attraktiver Wesenszug.

★★

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