Sonntag, 30. September 2012

Early Oscar Talk


Summer is gone, the big blockbusters’ cinema runs are gradually coming to an end, and American critics are gearing up for the season of highbrow movie entertainment, which will find its culmination 24 February, 2013, with the 85th Academy Awards. So why would one want to take a look at possible contenders as early as late September? Even the reviewing body’s awards aren’t due for another two months. Well, the beginning of the year’s fourth quarter is always a highly interesting period for people following the Oscar race because there are important decisions being made, essential questions asked around this time of year. So if you want to keep abreast of the most hopeful candidates – and, come winter time, make an informed choice at the box office –, this rough and by no means definitive article is for you. But beware: there is no guarantee for anything because a) it’s only September after all, and b) it’s the Academy, stupid. 

Ganzer Artikel auf The Zurich English Student (online einsehbar).

Donnerstag, 27. September 2012

Ai Weiwei: Never Sorry

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.


Es lässt sich darüber streiten, ob alle Kunst tatsächlich politisch ist, wie es der Dramatiker August Wilson einmal postulierte. Über das Werk des chinesischen Installationskünstlers Ai Weiwei besteht diesbezüglich aber kein Zweifel. Alison Klaymans Dokumentation liefert spannende Einblicke in seine Arbeit.

Seine Kunst provoziert, amüsiert und fasziniert die Massen, während sie der chinesischen Regierung arges Kopfzerbrechen bereitet. Ai Weiwei, geboren 1957, Sohn des bei Mao in Ungnade gefallenen kommunistischen Dichters Ai Qing, lässt den Boden eines Londoner Austellungsraumes mit rund 100 Millionen handbemalten Sonnenblumenkernen aus Porzellan bedecken; er veröffentlicht Fotos von sich, wie er dem Tiananmen-Platz den Stinkefinger zeigt; er stellt Videos ins Internet, in denen er und seine Kollegen in ihren jeweiligen Dialekten "Fuck You, Motherland" sagen; er zerstört neolithische Vasen; immer wieder bedient er sich der stark auf Aussprache beruhenden chinesischen Sprache. Diese Ideen schmiedet er in seinem Pekinger Heimatelier "258 Fake", das er mit seiner Frau, einigen Hunden und rund 40 Katzen teilt. Hier befand sich auch das Hauptquartier seines Projekts, die Namen der bei einem Erdbeben in Sichuan im Jahr 2008 umgekommenen Schulkinder herauszufinden. Für dieses Engagement bezog er polizeiliche Prügel, woraufhin er den Kampf mit der Bürokratie aufnahm und versuchte, den Schläger anzuzeigen. Doch trotz aller internationaler Berühmtheit lebt Ai gefährlich: 2011 verschwand er spurlos und wurde erst zweieinhalb Monate später von den Behörden wieder frei gelassen.

Der Reiz der Person Ai Weiwei ähnelt dem Reiz seiner Installationen: Der Mann versteht es hervorragend, die Balance zwischen Enfant terrible und Unschuldslamm zu halten und so mit den Erwartungen seiner Fans zu spielen. Macht er ein Wortspiel mit "Grass mud horse covering the middle", was auf Chinesisch fast gleich klingt wie "Fuck your mother, the Communist party central committee", dann kann man ihm eine böse Absicht nicht schlüssig nachweisen. Auch seine Mission, den Polizeibeamten, der ihm einen lebensgefährlichen Schlag an den Kopf versetzte, zur Rechenschaft zu ziehen, ist überraschend gesetzeskonform: Ai will nicht gegen die Polizeigewalt vorgehen, denn die gibt es ja überall, sondern die Behörden dazu bringen, den Vorfall wenigstens zuzugeben.

In seinem Atelier schafft Ai Weiwei nicht nur Kunst, sondern nutzt auch ausgiebig die Möglichkeiten des Informationszeitalters.
Alison Klayman, die dem Künstler erstmals 2008 begegnete und bis kurz vor dessen Festnahme wiederholt Interviews mit ihm führte, interessiert sich in Ai Weiwei: Never Sorry weniger für den Privat- und Familienmenschen Ai – seine etwas verlegenen Kommentare zum Kind, das aus einer ehelichen Untreue entstanden ist, ausgenommen – und mehr für den Aktivisten und Kulturschaffenden. Ist das Ganze enorm parteiisch? Ja, aber im allerbesten Sinne. Der – trotz seines allzu hastigen und deprimierenden, der frechen Frohnatur nur wenig entsprechenden Schlusses – höchst unterhaltsame, hoch spannende und rebellische Film lebt von Ais Michael Moore'scher Liebe für die zu derben Gesten und Worte, seine markigen, von sardonischem Humor durchsetzten Kommentare zur chinesischen Politik, mit der er sich in einem Schachspiel begreift – Zug für Zug wird das Gegenüber zermürbt. Die Rolle Ais im modernen China bringt der Film indes bereits in seinen ersten Momenten unmissverständlich zum Ausdruck. Eine seiner vielen Katzen spielt mit einer Miniatur aus Holzstäbchen, doch der Meister hindert seinen Assistenten daran, sie zu verjagen. "Ist schon gut", sagt er sanft, "sie wird es nicht kaputtmachen."

★★★★

Sonntag, 23. September 2012

Der Himmel über Berlin

Wim Wenders, der Schöngeist, der Lyriker des Neuen Deutschen Films, hat in seiner Karriere einige bemerkenswerte Projekte realisiert. So war er mit Werken wie Alice in den Städten, Im Lauf der Zeit oder Paris, Texas einer der Pioniere des europäischen Roadmovies; mit Ry Cooders Buena Vista Social Club-Projekt-Dok verhalf er der kubanischen Musik zu internationaler Popularität und in Pina verband er – wie im selben Jahr auch sein JDF-Kollege Werner Herzog – den Dokumentarfilm mit der 3-D-Technik. Seinen wohl grössten Erfolg feierte der Düsseldorfer aber mit dem Fantasydrama Der Himmel über Berlin, der vor 25 Jahren, am 23. September 1987, in die Kinos kam. Zeit für einen Rückblick.

Das geteilte Berlin in den Achtzigerjahren. Schon seit Äonen beobachten und belauschen die beiden Engel Damiel (Bruno Ganz) und Cassiel (Otto Sander) das irdische Leben. Hie und da stehen sie – unsichtbar – Menschen in Notsituationen bei, legen ihnen eine tröstende Hand auf die Schulter und versuchen, ihnen neuen Mut zu geben. Doch Damiel reicht dies nicht: Sein Traum ist es, sich unter die Menschen zu mischen, ein echtes Leben zu leben, ein "Teil der Geschichte" zu werden. Er will "ahnen, statt immer nur zu wissen". Den Entschluss, sterblich zu werden, fasst er schliesslich, als er sich in die französische Trapezkünstlerin Marion (Solveig Dommartin) verliebt. Hin und wieder trifft er auf einen amerikanischen Filmstar (Peter Falk als er selbst), der in einem Holocaust-Streifen einen Detektiv verkörpern soll. Derweil folgt Cassiel einem alten Poeten (Curt Bois, der seiner acht Jahrzehnte währenden Karriere hier einen würdigen Schlusspunkt setzte), der sich auf seiner Suche nach dem Potsdamer Platz seiner Kindheit nicht nur durch das moderne Berlin, sondern im Geiste auch durch fast neunzig Jahre Stadtgeschichte wandert.

Um sich Wenders' so komplexem wie poetischem Werks zu widmen, ist es das Beste, ganz am Schluss anzusetzen. Dort steht nämlich: "Gewidmet allen ehemaligen Engeln, vor allem aber Yasujiro, François und Andrej". Gemeint sind drei grosse Filmemacher aus drei verschiedenen Kulturen: der Japaner Ozu, der Franzose Truffaut und der Russe Tarkovsky, Vorbilder Wenders', deren Einfluss sich in Der Himmel über Berlin niederschlägt. Einer der wenigen "richtigen" Dialoge des Films erinnert mit den sich an die Kamera wendenen Protagonisten an Late Spring oder Tokyo Story; Damiel trägt in seinem Finden der eigenen Identität Züge Antoine Doinels; Henri Alekans (La Belle et la Bête) lange, oft nur mit menschlichen Gedankenfetzen auf der Tonspur auskommende Kamerafahrten evozieren Stalker.

Himmlischer Besuch: Engel Damiel (Bruno Ganz) blickt von der Berliner Gedächtniskirche auf die Stadt und ihre Menschen hinab.
Durch das Vermischen dieser Stilmittel erzeugt Wenders eine hypnotische, durch und durch faszinierende Atmosphäre, die einer Meditation über das Leben an sich gleich kommt. Mithilfe der grösstenteils von Peter Handke verfassten Gesprächen, welche ihrerseits häufig aus Sprachbildern und Metaphern bestehen, verwandelt er das Berlin des Films in eine Synecdoche: Es entstehen Kontraste zwischen der Anonymität der hektischen deutsch-deutschen Metropole und der von Damiel so ersehnten Schönheit des Augenblicks, in einer Szene wunderbar beschrieben vom grossartig subtile Otto Sander. Die Sorgen einzelner Menschen – ein lakonischer Selbstmörder, eine gebärende Frau, ein abgewiesener Verehrer, eine Amateur-Prostituierte, eine Rentnerin in Geldnot – wechseln sich ab mit Archivaufnahmen aus dem Zweiten Weltkrieg – fallende Bomben, tote Kinder, aber auch Aufbau und Hoffnung – und Vogelperspektiven des geteilten Nachkriegs-Berlins. Zusammen ergeben diese Impressionen die ultimative Sinfonie der Grossstadt, die Werner Ruttmann 1927 in seiner gleichnamigen Dokumentation zelebrierte.

Doch trotz seiner getragenen, melancholischen Stimmung ist Der Himmel über Berlin ein ungemein lebensbejahender Film, der metaphorisch wie buchstäblich das Licht am Ende des Tunnels beschwört. Die menschliche Tragödie, das Wissen um die Unausweichlichkeit des Todes, wird vom kindlichen Erstaunen über das Wunder des Lebens übertrumpft; immer wieder zitiert Damiel, dessen naive Begeisterung für alles Irdisch-Profane von Bruno Ganz vorzüglich vermittelt wird, das "Lied vom Kindsein", verfasst von Handke, inspiriert von Rilke. Der Engel zieht den Akt des Kaffeetrinkens an einem kalten Tag der Unsterblichkeit vor; der brillante Peter Falk nimmt sich eigentlich viel zu viel Zeit, den passenden Hut auszuwählen; und selbst der täglich mit der eigenen Vergänglichkeit konfrontierte Poet findet letztendlich seinen Frieden.

Die Schönheit des Augenblicks: Damiel teilt seine Erlebnisse mit seinem Freund Cassiel (Otto Sander).
"Nous sommes embarqués" sind die letzten Worte des sechssprachigen Films, bevor durch das antiklimaktische "Forsetzung folgt" das Sequel (In weiter Ferne, so nah!, 1993) angekündigt wird. Im Kontext von Der Himmel über Berlin sind beide Schlusspunkte stimmig. Denn kaum ein anderer Film als Wim Wenders' Meisterstück begreift das Leben derart poetisch und meditativ als wundersames und fortwährendes Abenteuer. Trauer und Schmerz sind feste Bestandteile dieses Abenteuers, doch wie die eingeflochtene Historiographie der Titel gebenden Weltstadt zeigt, ist es gerade die Überwindung dieser Bestandteile, die das Leben lebenswert machen. 25 Jahre sind seit seinem Erscheinen vergangen, doch auch nach Glasnost, Perestroika und Mauerfall ist Der Himmel über Berlin eine aktuelle, universell anwendbare, wunderschöne philosophische Etüde und ein Höhepunkt des deutschsprachigen Kinos.

★★★★★

Donnerstag, 20. September 2012

Your Sister's Sister

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Minimalistische Kammerspiele sind die Spezialität der amerikanischen Indie-Regisseurin Lynn Shelton. Auch in ihrem jüngsten Film stellt sie ihr diesbezügliches Talent unter Beweis: Your Sister's Sister ist ein fesselndes wie berührendes Porträt dreier ungleicher Menschen.

Jack (Mark Duplass) steckt seit rund einem Jahr in einer Krise. Seit dem Tod seines Bruders Tom sieht er sich ausser Stande, einer geregelten Arbeit nachzugehen, geschweige denn sich richtig des Lebens zu erfreuen. Auf Anraten seiner besten Freundin Iris (Emily Blunt), zeitweise Toms Partnerin, verzieht er sich ins abgelegene Ferienhaus ihres Vaters, um sein Leben in den Griff zu bekommen. Dort angekommen, stösst er aber nicht nur auf fernseh- und internetlose Abgeschiedenheit, sondern auch auf Hannah (Rosemarie DeWitt), Iris' Schwester, die sich gerade von ihrer langjährigen Freundin Pam getrennt hat. Beim gemeinsamen Tequila-Trinken bietet die homosexuelle Hannah Jack Sex an; nach einigem Zögern geht er auf das Angebot ein. Als am nächsten Morgen Iris dem Haus einen Überraschungsbesuch abstattet, herrscht zunächst Freude, doch nach und nach drohen Fragen und Missverständnisse das gemütliche Beisammensein zu zerstören.

Eigentlich gehört das Inszenieren eines Langspielfilms, der überwiegend aus alltäglich anmutenden Gesprächen zwischen seinen Protagonisten besteht, zu den grössten Herausforderungen für einen Drehbuchautoren. Doch Lynn Shelton scheint dies nicht die geringste Mühe zu bereiten; lebensnahe Dialoge liegen ihr im Blut. Dies zeigte sie bei ihrem Durchbruch, der Mumblecore-Komödie Humpday, deren Dialog gänzlich improvisiert war, und nun auch in ihrem Nachfolgewerk. Your Sister's Sister dauert 90 Minuten und beinhaltet nichts als die verbalen Austausche und Auseinandersetzungen zwischen Jack, Iris und Hannah. Shelton steigert den Stil eines Mike Leigh in sein Extrem und verschmischt ihn mit der subtilen, urmenschlichen Komik von Filmen wie 50/50, Dan in Real Life oder (500) Days of Summer.

Auf die Freundschaft: Jack (Mark Duplass) erhält Besuch von seiner besten Freundin Iris (Emily Blunt).
Die Charaktere, um die Shelton dabei ihre Geschichte eines eher ungewöhnlichen Ménage à trois aufzieht, wirken dreidimensional, bekannt, aber doch irgendwie neu. Es sind Thirtysomethings aus dem liberalen Seattle; Jack lebt in den Tag hinein, Iris ist Designerin, Hannah lebt vegan. Sie sind späte Vertreter der Generation X, sie sind in den Achtziger- und Neunzigerjahren aufgewachsen, mit Grunge, Hip Hop und Indie, in der Zeit von MTV, als das Gefühl ewiger Jugend vorherrschte. Und nun sieht sich das Trio mit rein erwachsenen Konflikten konfrontiert: Beziehung, Vertrauen, Liebe und den damit verbundenden, stets einkalkulierten Risiken. Alle drei sind unvollkommene, auf eine oder andere Weise angeschlagene und eben deshalb nachvollziehbare und überaus sympathische Menschen; öffnen sich Gräben, offenbaren sich emotionale Tiefen, dann lässt das den Zuschauer nicht kalt.

Grosses vollbringen auch die Darsteller. Mark Duplass, der sich zuletzt als Regisseur (mit Bruder Jay: Cyrus, Jeff, Who Lives at Home) und Schauspieler (Humpday, Greenberg, Safety Not Guaranteed) in kleineren Produktionen einen Namen gemacht hat, brilliert als Jack – grossartig sein finaler selbstkritischer Monolog. Doch auch Rosemarie DeWitt und Emily Blunt, die sich hier nach ihrer eher peinlichen Darbietung in Salmon Fishing in the Yemen vollauf rehabilitiert, überzeugen als grundverschiedene Schwestern, welche sich gezwungen sehen, ihre Beziehung zu evaluieren und neu zu definieren. Your Sister's Sister ist grosses Kino im kleinen Rahmen.

★★★★

Sonntag, 16. September 2012

The Rum Diary

Zum zweiten Mal nach Terry Gilliams grossartigem, von der Kritik zu Unrecht gescholtenen Fear and Loathing in Las Vegas aus dem Jahr 1998, schlüpft Johnny Depp in die Rolle eines Alter Egos von Kultautor Hunter S. Thompson. Doch in Bruce Robinsons gleichnamiger Verfilmung von dessen Roman The Rum Diary kommen sich allzu polierte Nostalgie und der für den Schriftsteller so typische dreckige Zynismus empfindlich in die Quere.

Puerto Rico, 1960: Der freischaffende Journalist Paul Kemp (Johnny Depp) soll bei einer heruntergekommenen Zeitung der Inselhauptstadt anfangen, auch wenn dem Chefredaktor (Richard Jenkins) Kemps Lebensstil – wenig Schreibarbeit, viel Alkohol – gar nicht behagt. Gemeinsam mit dem Fotografen Bob Sala (Michael Rispoli) durchzecht der junge, mit viel Talent gesegnete Schreiberling die Nächte. Bald trifft er den erfolgreichen Geschäftsmann Sanderson (Aaron Eckhart), welcher mit zwielichtigen Immobilienhaien zusammenarbeitet und Kemp als Hofjournalist anzuheuern versucht. Dieser interessiert sich aber vor allem für Sandersons Freundin Chenault (Amber Heard) – bis er mit Bob in Polizeigewahrsam kommt und nur dank des Einflusses des Geschäftsmannes wieder freigelassen wird.

Der Tod des amerikanischen Traums durch Gier, Arroganz und Dekadenz war schon immer ein Lieblingsthema Hunter S. Thompsons, der seinem Leben 2005 selber ein Ende setzte. In Fear and Loathing in Las Vegas demonstrierte er dies mit Raoul Duke, der mit seinem Freund, dem "Gonzo Doctor", durch die Retortenstadt in der Wüste Nevadas streift und unter schwerem Drogeneinfluss zusieht, wie der gemeine Bürger bereitwillig seine Taschen leert, um so reich zu werden wie diejenigen, welche von diesem Paradox profitieren. In Gilliams kongenialer, weil unangenehmer, dreckiger, überstilisierter Kinoadaption verlieh Johnny Depp in einer seiner besten Rollen dem wütenden Outlaw-Journalisten eine kraftvolle, nachhallende Stimme.

Schwierige Beziehung: Paul Kemp (Johnny Depp, rechts) mit seinem neuen Chef (Richard Jenkins).
Diese Stimme greift Depp nun in The Rum Diary, bei dem er auch als Co-Produzent fungierte, wieder auf, im übertragenen wie auch im eigentlichen Sinne. Paul Kemp ist eine frühe Kreation Thompsons und wirkt vielleicht deshalb wie eine sauberere, gesündere und weniger fatalistische Version Dukes. Die scharfen Kommentare sind zwar auch hier vorhanden – etwa wenn er gegen den imperialistischen Tourismus der amerikanischen Mittelklasse wettert, gegen masslos überfütterte Trampeltiere, welche in Puerto Rico zwischen Bowlingbahn und Hotel pendeln –, doch sie werden von Regisseur Robinson (Autor von The Killing Fields) verwässert. Die absurden Eskapaden, auf die sich Kemp und Bob Sala einlassen, mögen stellenweise tatsächlich ansprechend und unterhaltsam sein, ebenso die skurrilen Einschübe – die von einer Rede Adolf Hitlers unterbrochene Sexszene ist ein Höhepunkt –, doch mit der von zynischem Surrealismus geprägten Prosa eines Hunter Thompson vertragen sich diese Elemente nur schwer.

Man könnte The Rum Diary als Versuch bezeichnen, den hinter der Geschichte steckenden Zorn einem Mainstream-Publikum anzupreisen. Dafür sprechen die von Dariusz Wolski (Pirates of the Caribbean, Prometheus) wunderbar eingefangene, schwärmerisch-entrückte Karibik-Szenerie, die allzu geradlinige Beziehung zwischen Paul und Chenault, die auch in ihrem Schmutz noch poliert wirkenden Sets sowie der einfach zu vermarktende Cast, der, insebsondere Richard Jenkins und Michael Rispoli, ganze Arbeit leistet. Es ist spürbar, dass es sich hierbei um eine Herzensangelegenheit des engagiert aufspielenden Johnny Depp handelt. Zwar modelliert er seinen Tonfall nach Raoul Duke, doch seine Tiraden wirken weniger nervös, weniger radikal, besonnener und leider auch braver. Fear and Loathing in Las Vegas hatte etwas zu sagen, The Rum Diary verzettelt sich beim Versuch, das Gesagte massentauglich zu verpacken.

Paul in seinem Element.
Trotz einiger echt inspirierter Momente und eines soliden Erzählflusses ist Bruce Robinsons jüngstes Projekt keines von allzu grosser Bedeutung. Zu vage bleiben die Anliegen der Buchvorlage, zu inkonsequent wirken die Assozitationen und Abschweifungen. Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass es wohl unmöglich ist, Hunter S. Thompson mit dem Geschmack der Massen zu vereinen. Thompson ist kompromisslos und radikal, unbequem und mitunter sogar abstossend. Eine Adaption muss polarisieren. Leider aber scheint The Rum Diary alles daran zu setzen, gerade dies zu vermeiden.

★★★

Donnerstag, 13. September 2012

The Cabin in the Woods

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.


Perverse Sensationslust und stets wiederkehrende Klischees scheinen den zeitgenössischen Horrofilm zu lähmen, neue Ansätze sind Mangelware. Das soll sich nun ändern: Der revisionistische Schocker The Cabin in the Woods stellt das Genre auf den Kopf. Das Resultat: Ganz grosses Kino.

Irgendwo in den USA: Fünf College-Studenten verabreden sich zu einem spassigen Wochenende in einer abgelegenen Waldhütte. Manch ein Kinogänger mag bereits jetzt ob der Prämisse die Augen verdrehen. Sie, oder zumindest Variationen davon, wird inflationär genutzt und ist dank nicht enden wollenden Franchisen wie Wrong Turn oder The Hills Have Eyes sattsam bekannt. Tatsächlich folgt, was folgen muss: Als sich der sportliche Curt (Chris Hemsworth, bekannt als Marvel-Superheld Thor), seine sexuell äusserst aktive Freundin Jules (Anna Hutchison), die etwas keuschere Dana (Kristen Connolly), der kluge Holden (Jesse Williams) sowie der Kiffer Marty (der herrliche Fran Kranz) in der gruseligen Waldhütte, ausgestattet mit knarrenden Fussböden und skurrilen Gemälden, eingerichtet haben, springt plötzlich die Kellertür auf, woraufhin das Grauen für die jungen Urlauber seinen Lauf nimmt. Vor einem allzu frühen Urteil sei aber gewarnt, denn hinter den scheinbar eindimensionalen Charakteren und den vermeintlich abgedroschenen Horrorelementen steckt viel mehr, als man erwarten könnte.

Jede Inhaltsangabe von The Cabin in the Woods, dem Regiedebüt von Cloverfield-Autor Drew Goddard, muss vage und unbefriedigend sein, denn praktisch jedes verratene Detail ist dem Filmgenuss abträglich. Goddard und Co-Autor Joss Whedon (The Avengers, Firefly, Buffy the Vampire Slayer) steuern das Publikum in die Sicherheit, das weitere Geschehen erahnen zu können, nur um wieder einen Haken zu schlagen und die Geschichte in eine ganz andere Richtung laufen zu lassen. Das ungemein effektive Schauervehikel ist ein veritabler Kastenteufel, dem die Überraschungen niemals auszugehen scheinen. Dies gilt auch für die grandios konstruierte Atmosphäre – grosse Komplimente an Musik (David Julyan) und Kamera (Peter Deming): Goddard inszeniert die Schockeffekte optimal, lässt aber auch den morbid-lakonischen Humor nicht ausser Acht. So ist der Film die ideale, von Alfred Hitchcock so wunderbar beschriebene Horror-Achterbahn: Während der Fahrt wird vor Angst geschrien; hinterher wird gelacht und eine zweite Runde erwogen.

Dem Schrecken hilflos ausgeliefert: Studentin Dana (Kristen Connolly) schwebt in Lebensgefahr.
Doch das Duo Goddard und Whedon belässt es nicht dabei, der Welt einen Horrorfilm zu bieten, der die gängigen Genre-Stereotypen subversiert, der einen gefühl- und gehaltvollen Kontrapunkt zu Folterpornos wie The Human Centipede oder Saw setzt – ohne dabei allerdings auf spritzendes Blut und abgerissene Gliedmassen zu verzichten. The Cabin in the Woods ist, ähnlich wie Wes Cravens wegweisender Scream von 1996, eine raffinierte Art von On-Screen-Filmkritik. Doch während Scream eine Reaktion auf 15 Jahre Slasher-Kino à la Friday the 13th oder Halloween war, seziert Goddards Erstling das Horrorgenre in seiner Gesamtheit. Das augenzwinkernde Aufgreifen der bekanntesten Klischees sowie die zahlreichen Anspielungen – von The Shining über The Texas Chainsaw Massacre und Hellraiser bis hin zu It wird nichts ausgelassen – erfüllt letztendlich einen Zweck, den zu verraten schlicht unmöglich ist.

Anders als Scream wird dieser bahnbrechende Schocker auch nicht in die Sequel-Falle stolpern, da das brillante Ende jede Fortsetzung ausschliesst. The Cabin in the Woods ist nicht nur ein nicht zu bändigender Horrorfilm, der sein Genre auf den Kopf stellt, es gleichzeitig bestätigt und neu erfindet, sondern auch, ganz nebenbei, ein Höhepunkt des Kinojahres 2012.

★★★★★

Donnerstag, 6. September 2012

Nachtlärm

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.


Drei Jahre sind seit Giulias Verschwinden vergangen, der von Erfolg gesegneten ersten Kollaboration von Regisseur Christoph Schaub und Romancier Martin Suter, zwei der populärsten Schweizer Kulturschaffenden. In ihrem Zweitwerk Nachtlärm geht die Zauberformel leider nicht mehr auf.

Dass Schlaf für frisch gebackene Eltern ein Luxus ist, müssen Livia (Alexandra Maria Lara) und Marco (Sebastian Blomberg) auf äusserst unsanfte Art und Weise erfahren. Denn Baby Tim kostet ihnen mit seinem unentwegten Geschrei den letzten Nerv. Das einzige Mittel, den kleinen Schreihals zum Schlafen zu bewegen, ist eine rasante Autofahrt über die Autobahn: 130 Stundenkilometer, dann fallen Tim die Augen zu. Bei einer derartigen nächtlichen Exkursion führt eine Reihe unglücklicher Zufälle dazu, dass der klapprige VW Golf von Livia und Marco mitsamt Baby geklaut wird. Ohne lange nachzudenken, schnappt sich das Paar einen bei derselben Raststätte geparkten Mercedes und jagt den Autodieben nach. Diese wiederum – der Kleinkriminelle Jorge (Georg Friedrich) und seine Begleiterin Claire (Carol Schuler) – ahnen vorerst noch nichts vom Säugling im Rücksitz. Und auch der zwielichtige Mercedes-Besitzer (Andreas Matti) setzt alles daran, sein Gefährt zurückzuholen.

Ein bisschen liest sich der Plot von Nachtlärm ja wie Buster Keatons Abenteuerkomödie The General: Ein Fahrzeugdiebstahl und mehrere unglückliche Fügungen führen zu einer wilden Jagd, einer hektischen Irrfahrt, bei der die Unterscheidung zwischen Jägern und Gejagten je länger je schwerer fällt. Tatsächlich gelingt es Christoph Schaub (Sternenberg, Jeune Homme, Happy New Year), diese Art des überhöhten Chaos atmosphärisch einzufangen, ein leiser Hauch von Keaton ist zu spüren. Die Nacht wird hier zum reinen Kunstprodukt: Wenn die Sonne untergeht, bevölkern Kriminelle und Psychopathen die Strassen; nur die Morgendämmerung ist im Stande, sie wieder verschwinden zu lassen; auch Anklänge an Martin Scorseses After Hours sind nicht von der Hand zu weisen.

Eine Nacht zum Vergessen: Livia (Alexandra Maria Lara) und Marco (Sebastian Blomberg) suchen nach ihrem Baby.
Doch Schaubs abgeklärte Regie wird von Martin Suters unstimmigem Drehbuch untergraben – die Tatsache, dass selbst in der Schweiz Hochdeutsch die Standardsprache zu sein scheint, ist sprechend. Nachtlärm wird als Tragikomödie angepriesen, doch die beiden Genres fliessen niemals so schön ineinander, wie es der Begriff suggeriert. Im Grunde hat Suter ein ernstes Beziehungsdrama zwischen Marco und Livia geschrieben, welches sich unter erschwerten Umständen abspielt. Alles andere wirkt wie allzu hastig hinzugedichtete komische Auflockerung. Letzten Endes fallieren aber beide Ansätze. Die Komödie erschöpft sich in geschmackvoll gemeinten, aber humorlosen, Possen und Idiosynkrasien sowie überraschend unwürdigen Reizdarm-Witzen. Das Drama wiederum scheitert an den wenig durchdachten Hauptfiguren; Livia ist eine undankbare, nervige Nörglerin, Marco ein Langweiler. Diverse Szenen bestehen daraus, diesen beiden mal faden, mal unsympathischen Charakteren beim Streiten zuzusehen. Und solange der Autor dahinter nicht Edward Albee oder Yasmina Reza heisst, ist dies nicht sonderlich spannend.

Nachtlärm weiss nicht, was er sein will. Schaubs Inszenierung bewahrt den Streifen davor, gänzlich ins Ermüdende und Mühselige abzudriften, obwohl Suters blutleeres Skript jegliches Mitgefühl und jegliche emotionale Beteiligung verhindert. Eine reale nächtliche Autofahrt wäre wohl befriedigender.

★★