Zwei BAFTA-Awards, 2006 und 2010 der haushohe Sieger bei den Césars, begeisterte Kritiker – Jacques Audiard gehört zweifellos zu den erfolgreichsten zeitgenössischen Regisseuren Frankreichs. Nun kehrt der Drama-Spezialist nach drei Jahren Pause mit De rouille et d'os triumphal zurück.
Ohne Arbeit, Geld und Perspektive hält es den Ex-Boxer Alain,
genannt Ali (Matthias Schoenaerts), nicht mehr im französischen
Norden. Also schnappt er sich seinen fünfjährigen Sohn und fährt
per Zug gen Süden, um dort sein Glück zu versuchen. An der Côte
d'Azur zieht er bei seiner Schwester (Corinne Masiero) und deren Mann
ein und findet bald schon einen Job als Türsteher in einem
Nachtklub. Eines Nachts kommt es vor dem Eingang zu einer Schlägerei,
bei der die Waldompteurin Stéphanie (Marion Cotillard) leichte
Verletzungen davonträgt. Ali fährt die Frau nach Hause, wo ihr
launischer Freund auf sie wartet; er lässt ihr zur Sicherheit seine
Telefonnummer da. Einige Monate später klingelt dann tatsächlich
sein Handy: Stéphanie hat bei einem Arbeitsunfall beide Beine
verloren und versinkt in Depressionen. Ali hilft ihr, wieder ins
Leben zurückzufinden, doch vor einer Liebesbeziehung schreckt er
zurück. Viel lieber konzentriert er sich auf seine neue Karriere als
Boxer in geheimen Strassenkämpfen.
Wenn Jacques Audiards oscarnominierter Grosserfolg Un prophète
einen Makel hatte, dann der, dass man sich als Zuschauer oft ein
wenig distanziert vorkam, dass sich auf der Leinwand eine brillant
gemachte, hochinteressante Milieustudie abspielte, der aber das
menschliche Element abzugehen schien. In dieser Hinsicht ist De
rouille et d'os die willkommene Umkehr von Audiards
Gefängnisdrama: Auch hier geht es um eine Parallelgesellschaft,
deren Alltag in der Grauzone der Legalität verläuft und in der
kleinkriminelle Handlungen die Tagesordnung bestimmen. Der
Unterschied jedoch ist, dass hier die Schwerpunkte der Geschichte
vertauscht wurden: Die Beziehung zwischen Ali und Stéphanie bildet
das emotionale Zentrum, das Rückgrat des Films, während der
gesellschaftliche Aspekt ein Nebenschauplatz ist, spannend, aber
nicht dominant.
Der bodenständige Ali (Matthias Schoenaerts) bringt Stéphanie
(Marion Cotillard) nach ihrem Unfall dazu, wieder am Leben
teilzunehmen.
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Diesbezüglich profitiert der Film von seinem Hauptdarstellerpaar.
Marion Cotillard, die überwiegend mit per CGI wegretouchierten
Unterschenkeln agiert – der Effekt ist beeindruckend –, beweist
erneut, dass sie ihr ganzes Potenzial nur in ihrer Muttersprache
abzurufen vermag, und steuert souverän auf einen möglichen zweiten
Oscar (nach La Môme) zu. Ihr zur Seite steht Matthias
Schoenaerts, der hier direkt an seine intensive Darbietung im
belgischen Drama Bullhead anknüpft und eine veritable Tour de
Force, in der sich Einfühlsamkeit und Aggression die Waage halten,
abliefert.
Beide werden von Audiard souverän durch einen assoziativen,
vielschichtigen Plot geführt – der Film basiert auf einer
Kurzgeschichtensammlung des Kanadiers Craig Davidson –, dem es
gelingt, die Spannung auf allen Ebenen zwei Stunden lang
durchzuhalten. Und Audiard wäre nicht er selber, wenn er es nicht
auch verstünde, die ganze Angelegenheit hervorragend zu inszenieren.
Alexandre Desplats wie gewohnt hochklassiger Musikscore wechselt sich
mit eklektischen Einspielern (Bon Iver, Katy Perry, Bruce
Springsteen) ab; Kameramann Stéphane Fontaine, der mit dem
renommierten Briten Barry Ackroyd zusammengespannt hat, ist ganz nah
am Geschehen dran, was zusammen mit der stimmig eingesetzten
Überbelichtung ein ungemein intensives Kinoerlebnis zur Folge hat. De rouille et d'os erschüttert, berührt und fasziniert. Keine
leichte Kost, dafür umso lohnenswerter.
★★★★