Von der wachsenden gesellschaftlichen Akzeptanz Homosexueller
profitiert auch das schwul-lesbische Kino. Manchmal werden sogar alte
Formeln neu ausgelegt: Kyss mig ist eine bekömmliche Mischung
aus nordischem Arthouse-Drama und klassischer Sehnsuchtsschnulze.
Feierstimmung bei Sundströms: Während das geschiedene
Familienoberhaupt Lasse (Krister Henriksson – Kommissar Wallander
in der schwedischen Krimi-Hitserie) an seinem 60. Geburtstagsfest
verkündet, er werde seine neue Lebensgefährtin Elisabeth (Lena
Endre) heiraten, verlobt sich seine Tochter Mia (Ruth Vega Fernandez)
mit ihrem langjährigen Freund Tim (Joakim Nätterqvist). Auf der
Feier trifft Mia erstmals Frida (Liv Mjönes), ihre neue
Stiefschwester. Diese erscheint ihr sogleich suspekt, da sie in ihren
Augen mit ihrem jüngeren Bruder Oskar (Tom Ljungman) und ihrem
Zukünftigen flirtet. Nach dem Fest beschliesst Mia, noch ein wenig
in Malmö zu bleiben, um Zeit mit ihrem Vater zu verbringen und ihm
bei der Planung eines Ferienhaus-Anbaus zu helfen. Dort angekommen,
stellt sie aber fest, dass Lasse geschäftlich verreist ist und sie
nun einige Tage mit Elisabeth und Frida unter einem Dach verbringen
muss. Dabei kommen sie und ihre "Schwester" sich wider Erwarten
näher.
Anders als das schwedische Original lässt der internationale Titel
von Kyss mig keine Zweifel aufkommen, welches Genre der Film
primär bedient: With Every Heartbeat evoziert Herzschmerz; die "einzig wahre Liebe" muss sich gegen harte Prüfungen und die
missbilligenden Blicke der Gesellschaft behaupten. Tatsächlich ist
Alexandra-Therese Keinings zweite Regiearbeit in ihrem Kern eine
Romanze alter Schule. Ein Rührstück über ein verbotenes
Verhältnis, dessen Handlung allzu konstruiert wirkt, dessen
Figurenzeichnung zu wünschen übrig lässt, in dem Motivation und
Beweggründe der Charaktere oft unklar bleiben, in dem ernsthaftes
Nachdenken über Homosexualität überästhetisierten Bettszenen
untergeordnet wird. Immerhin bleibt die positive Erkenntnis, dass
diese Seite des Kinos inzwischen nicht mehr ausschliesslich
heterosexuellen Paaren offen steht.
Verbotenes Verhältnis: Frida (Liv Mjönes, links) verliebt sich in
die vermeintlich heterosexuelle Mia (Ruth Vega Fernandez).
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Doch Kyss mig hat auch eine andere Seite, welche nur bedingt
mit der sexuellen Orientierung der beiden Hauptfiguren zusammenhängt.
Keining lässt nämlich nicht nur Mias tränenreichen Kampf mit sich
selbst und den Erwartungen ihres Umfelds zu seinem Recht kommen,
sondern auch die dem Ganzen zugrunde liegenden Familiendynamiken.
Sitzt die ganze Sippe einmal beisammen, machen sich die schwelenden
Konflikte bemerkbar, welche, vor allem dank eines grossartig
aufspielenden Krister Henrikssons, im Gegensatz zur zentralen
Liebesgeschichte nicht aufgesetzt, sondern gewichtig und glaubwürdig
wirken. Vergleiche mit Lynn Sheltons Mumblecore-Perle Your
Sister's Sister – Liv Mjönes' Ähnlichkeit mit Emily Blunt
trägt das Ihre dazu bei – wären berechtigt. Auch die
LGBT-Tragikomödie The Kids Are All Right schwingt mit – bis
hin zur lieblosen Entledigung des männlichen "Störfaktors". Wie
Mark Ruffalo in Lisa Cholodenkos Film wird hier der gute Joakim
Nätterqvist erbarmungslos aus der Erzählung bugsiert.
Sei es wegen der soliden bis herausragenden Darsteller, der
sympathischen Frida oder der überraschend eleganten Kombination von
Familien- und Beziehungskrisen (die im Film vorherrschenden hellen
skandinavischen Nächte verstärken die Assoziationen mit
Shakespeares Midsummer Night's Dream) – Kyss mig schafft es irgendwie, die Aufmerksamkeit des Zuschauers
aufrechtzuerhalten. Ist der Film aber einmal vorbei, verwandelt sich
der Sturm der Gefühle im Rückblick rasch in ein laues Lüftchen:
angenehm, aber ohne besondere Wirkung.
★★★