Donnerstag, 29. November 2012

Kyss mig

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.


Von der wachsenden gesellschaftlichen Akzeptanz Homosexueller profitiert auch das schwul-lesbische Kino. Manchmal werden sogar alte Formeln neu ausgelegt: Kyss mig ist eine bekömmliche Mischung aus nordischem Arthouse-Drama und klassischer Sehnsuchtsschnulze.

Feierstimmung bei Sundströms: Während das geschiedene Familienoberhaupt Lasse (Krister Henriksson – Kommissar Wallander in der schwedischen Krimi-Hitserie) an seinem 60. Geburtstagsfest verkündet, er werde seine neue Lebensgefährtin Elisabeth (Lena Endre) heiraten, verlobt sich seine Tochter Mia (Ruth Vega Fernandez) mit ihrem langjährigen Freund Tim (Joakim Nätterqvist). Auf der Feier trifft Mia erstmals Frida (Liv Mjönes), ihre neue Stiefschwester. Diese erscheint ihr sogleich suspekt, da sie in ihren Augen mit ihrem jüngeren Bruder Oskar (Tom Ljungman) und ihrem Zukünftigen flirtet. Nach dem Fest beschliesst Mia, noch ein wenig in Malmö zu bleiben, um Zeit mit ihrem Vater zu verbringen und ihm bei der Planung eines Ferienhaus-Anbaus zu helfen. Dort angekommen, stellt sie aber fest, dass Lasse geschäftlich verreist ist und sie nun einige Tage mit Elisabeth und Frida unter einem Dach verbringen muss. Dabei kommen sie und ihre "Schwester" sich wider Erwarten näher.

Anders als das schwedische Original lässt der internationale Titel von Kyss mig keine Zweifel aufkommen, welches Genre der Film primär bedient: With Every Heartbeat evoziert Herzschmerz; die "einzig wahre Liebe" muss sich gegen harte Prüfungen und die missbilligenden Blicke der Gesellschaft behaupten. Tatsächlich ist Alexandra-Therese Keinings zweite Regiearbeit in ihrem Kern eine Romanze alter Schule. Ein Rührstück über ein verbotenes Verhältnis, dessen Handlung allzu konstruiert wirkt, dessen Figurenzeichnung zu wünschen übrig lässt, in dem Motivation und Beweggründe der Charaktere oft unklar bleiben, in dem ernsthaftes Nachdenken über Homosexualität überästhetisierten Bettszenen untergeordnet wird. Immerhin bleibt die positive Erkenntnis, dass diese Seite des Kinos inzwischen nicht mehr ausschliesslich heterosexuellen Paaren offen steht.

Verbotenes Verhältnis: Frida (Liv Mjönes, links) verliebt sich in die vermeintlich heterosexuelle Mia (Ruth Vega Fernandez).
Doch Kyss mig hat auch eine andere Seite, welche nur bedingt mit der sexuellen Orientierung der beiden Hauptfiguren zusammenhängt. Keining lässt nämlich nicht nur Mias tränenreichen Kampf mit sich selbst und den Erwartungen ihres Umfelds zu seinem Recht kommen, sondern auch die dem Ganzen zugrunde liegenden Familiendynamiken. Sitzt die ganze Sippe einmal beisammen, machen sich die schwelenden Konflikte bemerkbar, welche, vor allem dank eines grossartig aufspielenden Krister Henrikssons, im Gegensatz zur zentralen Liebesgeschichte nicht aufgesetzt, sondern gewichtig und glaubwürdig wirken. Vergleiche mit Lynn Sheltons Mumblecore-Perle Your Sister's Sister – Liv Mjönes' Ähnlichkeit mit Emily Blunt trägt das Ihre dazu bei – wären berechtigt. Auch die LGBT-Tragikomödie The Kids Are All Right schwingt mit – bis hin zur lieblosen Entledigung des männlichen "Störfaktors". Wie Mark Ruffalo in Lisa Cholodenkos Film wird hier der gute Joakim Nätterqvist erbarmungslos aus der Erzählung bugsiert.

Sei es wegen der soliden bis herausragenden Darsteller, der sympathischen Frida oder der überraschend eleganten Kombination von Familien- und Beziehungskrisen (die im Film vorherrschenden hellen skandinavischen Nächte verstärken die Assoziationen mit Shakespeares Midsummer Night's Dream) – Kyss mig schafft es irgendwie, die Aufmerksamkeit des Zuschauers aufrechtzuerhalten. Ist der Film aber einmal vorbei, verwandelt sich der Sturm der Gefühle im Rückblick rasch in ein laues Lüftchen: angenehm, aber ohne besondere Wirkung.

★★★

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