Ken Loach gilt als letzter verbliebener Vertreter des britischen
"Kitchen Sink"-Sozialrealismus, welcher in den
Sechzigerjahren seine Blütezeit erlebte. Als rechtmässiger Erbe von
Schlesinger, Richardson, Anderson und Co. thematisiert der
mittlerweile 76-Jährige auch heute noch die Sorgen der
Arbeiterklasse, selbst wenn dies, wie in The Angels' Share,
mit den komödiantischen Elementen der subversiveren Werken der
Ealing-Ära vermengt wird.
Nur wenige Monate nach seiner Haftentlassung – er hat einen
Studenten wegen einer Bagatelle halb tot geprügelt – steht der
junge Robbie (Paul Brannigan) schon wieder vor Gericht. Doch da seine
Freundin Leonie (Siobhan Reilly) in Kürze ein Kind erwartet und er
sich im Allgemeinen auf dem Weg der Besserung zu befinden scheint,
lässt ihn der Richter mit 300 Stunden gemeinnütziger Arbeit
davonkommen – sehr zum Ärger seiner Widersacher in seinem
Glasgower Arbeiterviertel, die ihn am liebsten hinter Gittern gesehen
hätten. Unter der Aufsicht des Whisky-Enthusiasten Harry (John
Henshaw) verrichtet Robbie zusammen mit Rhino (William Ruane), Mo
(Jasmin Riggins) und Albert (Gary Maitland) seinen polizeilich
verordneten Dienst. Als Harry die vier zu einer Whisky-Degustation
nach Edinburgh mitnimmt, erfahren diese von einem legendären
Tropfen, der beim Verkauf mehrere hunderttausend Pfund einbringen
würde. Unter Robbies Ägide wird ein Plan geschmiedet. Werden sie
dabei jedoch erwischt, besteht kein Zweifel daran, dass sie sich alle
hinter schwedischen Gardinen wiederfinden werden.
Die leichte Muse ist nicht unbedingt das, womit Ken Loach,
Vollblutsozialist, Anti-Royalist, Regisseur von kompromisslosen
Milieustudien wie Kes, Riff-Raff, Raining Stones
oder It's a Free World..., gemeinhin assoziiert wird. Und
doch scheint er spät in seiner Karriere noch zur Komödie gefunden
zu haben: In Looking for Eric
wird ein deprimierter
Briefträger von der Manchester-United-Legende Eric Cantona
"heimgesucht"; in The
Angels' Share agieren
eine resolute Kleptomanin (Mo) und ein unterbelichteter Verlierer
(Albert), der wie die Kreuzung aus Stan Laurel und Karl Pilkington
(The Ricky Gervais
Show) anmutet. So
äusserten denn schon diverse Kritiker die Frage, ob Loach nun
endgültig weich geworden sei, ob er das Aussterben der britischen
Working Class nun endlich begriffen habe und sich deswegen in
unrealistische Karikaturen flüchte.
Robbie (Paul Brannigan, links) kommt dank Harry (John Henshaw) auf den Geschmack von Whisky. |
Dies ist jedoch ein fataler
Trugschluss. Ja, The
Angels' Share ist ein
höchst unterhaltsamer, mitunter urkomischer Film, wie es auch
Looking for Eric war.
Doch so wie bei der Cantona-Fabel urplötzlich die Realität in der
Form schwer bewaffneter Polizisten in die Wohnung der Hauptfigur
eindrang, so vergisst Loach auch in seinem neuen Film sein zentrales
Thema zu keinem Zeitpunkt. Nicht nur die Arbeiterklasse exisitiert
noch, sondern auch ihre Probleme: gewalttätige Bandenkriege, die mit
Fäusten, Ziegelsteinen und Klappmessern geführt werden,
ethno-religiöse Konflikte, soziale Stigmatisierung. Robbie
ist wegen seiner zahlreichen Narben am Kopf benachteiligt bei der
Arbeitssuche; Rhino bemerkt, wie dem Quartett "Criminals on
Community Service" quasi auf der Stirn geschrieben steht.
Robbies Kampf mit seinen Rivalen – eine Fehde, die auf die letzte
Generation zurückgeht – wird mit harten Bandagen geführt. Und
Robbie Ryans Kamera, ähnlich intensiv wie jene Barry Ackroyds (von
Riff-Raff bis
The Wind That Shakes
the Barley elfmaliger
Loach-Kollaborateur), ist nah dran am Geschehen: Schläger, die
Robbie vor Leonies Krankenhauszimmer auflauern und ihn im Treppenhaus
malträtieren; Robbie selber, der in einer Rückblende blind auf sein
wehrloses Opfer eintritt. Schwere Kost, fürwahr.
Aber Loach, obgleich alles andere
als ein Romantiker, hatte schon immer ein Herz für seine
Prolo-Figuren. Zwar mögen deren Geschichten nicht immer glücklich
enden, doch immerhin werden ihnen stets Momente des Glücks gegönnt.
Mit viel Zärtlichkeit wird der aggressive Robbie als unsicherer
Vater inszeniert; seine sanften Gespräche mit Harry (der wunderbare
John Henshaw) gehören zu den Höhepunkten des Films. Doch
auch nach der galligen, wenngleich gut versteckten, Satire muss in
The Angels' Share nicht
lange gesucht werden. Mo, Rhino, Albert und Robbie können nur
staunend dabei zusehen, wie sich die Whisky-Liebhaber aus aller Welt
bei der Versteigerung des "Heiligen Grals unter den Spirituosen"
gegenseitig überbieten; innert kürzester Zeit steigt der Preis von
700'000 auf fast eineinhalb Millionen Pfund. Die besser gestellte
Gesellschaft kann es sich leisten, derartige Summen für ein simples
Getränk auszugeben, während Robbie froh sein muss, auf einer kargen
Matratze bei einem Kumpel schlafen zu können.
Eine schräge Truppe: Rhino (William Ruane, links), Mo (Jasmin Riggins), Robbie und Albert (Gary Maitland) bei einer Whisky-Versteigerung. |
Selbst die Autorität als Familienvater wird ihm entzogen: Er nennt
seinen neugeborenen Sohn voller Stolz Luke, muss aber kurz darauf
feststellen, dass der ihn verachtende Schwiegervater in spe – ein
reicher Nachtclubbesitzer – das Kind in Eigeninitiative Vincent
getauft hat und dem jungen Vater nahe legt, nach London zu
verschwinden. Dass dies unweigerlich das Klischee der in den unteren
Gesellschaftsschichten angeblich grassierenden elterlichen
Vernachlässigung nährt, liegt auf der Hand. Standesdünkel, so
Loach, gehört auch heute noch zum britischen Alltag. Anders
jedenfalls lässt sich die Mutter von Robbies Prügel-Opfer kaum
lesen: Obwohl sie allen Grund zur Wut hat, hinterlässt ihr Anwurf,
er sei ein dummer Rüpel, der nie etwas Besseres gelernt habe und
sich seiner Schuld nicht einmal bewusst sei, doch einen bitteren
Nachgeschack.
★★★★
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