Mittwoch, 5. Dezember 2012

The Angels' Share

Ken Loach gilt als letzter verbliebener Vertreter des britischen "Kitchen Sink"-Sozialrealismus, welcher in den Sechzigerjahren seine Blütezeit erlebte. Als rechtmässiger Erbe von Schlesinger, Richardson, Anderson und Co. thematisiert der mittlerweile 76-Jährige auch heute noch die Sorgen der Arbeiterklasse, selbst wenn dies, wie in The Angels' Share, mit den komödiantischen Elementen der subversiveren Werken der Ealing-Ära vermengt wird.

Nur wenige Monate nach seiner Haftentlassung – er hat einen Studenten wegen einer Bagatelle halb tot geprügelt – steht der junge Robbie (Paul Brannigan) schon wieder vor Gericht. Doch da seine Freundin Leonie (Siobhan Reilly) in Kürze ein Kind erwartet und er sich im Allgemeinen auf dem Weg der Besserung zu befinden scheint, lässt ihn der Richter mit 300 Stunden gemeinnütziger Arbeit davonkommen – sehr zum Ärger seiner Widersacher in seinem Glasgower Arbeiterviertel, die ihn am liebsten hinter Gittern gesehen hätten. Unter der Aufsicht des Whisky-Enthusiasten Harry (John Henshaw) verrichtet Robbie zusammen mit Rhino (William Ruane), Mo (Jasmin Riggins) und Albert (Gary Maitland) seinen polizeilich verordneten Dienst. Als Harry die vier zu einer Whisky-Degustation nach Edinburgh mitnimmt, erfahren diese von einem legendären Tropfen, der beim Verkauf mehrere hunderttausend Pfund einbringen würde. Unter Robbies Ägide wird ein Plan geschmiedet. Werden sie dabei jedoch erwischt, besteht kein Zweifel daran, dass sie sich alle hinter schwedischen Gardinen wiederfinden werden.

Die leichte Muse ist nicht unbedingt das, womit Ken Loach, Vollblutsozialist, Anti-Royalist, Regisseur von kompromisslosen Milieustudien wie Kes, Riff-Raff, Raining Stones oder It's a Free World..., gemeinhin assoziiert wird. Und doch scheint er spät in seiner Karriere noch zur Komödie gefunden zu haben: In Looking for Eric wird ein deprimierter Briefträger von der Manchester-United-Legende Eric Cantona "heimgesucht"; in The Angels' Share agieren eine resolute Kleptomanin (Mo) und ein unterbelichteter Verlierer (Albert), der wie die Kreuzung aus Stan Laurel und Karl Pilkington (The Ricky Gervais Show) anmutet. So äusserten denn schon diverse Kritiker die Frage, ob Loach nun endgültig weich geworden sei, ob er das Aussterben der britischen Working Class nun endlich begriffen habe und sich deswegen in unrealistische Karikaturen flüchte.

Robbie (Paul Brannigan, links) kommt dank Harry (John Henshaw) auf den Geschmack von Whisky.
Dies ist jedoch ein fataler Trugschluss. Ja, The Angels' Share ist ein höchst unterhaltsamer, mitunter urkomischer Film, wie es auch Looking for Eric war. Doch so wie bei der Cantona-Fabel urplötzlich die Realität in der Form schwer bewaffneter Polizisten in die Wohnung der Hauptfigur eindrang, so vergisst Loach auch in seinem neuen Film sein zentrales Thema zu keinem Zeitpunkt. Nicht nur die Arbeiterklasse exisitiert noch, sondern auch ihre Probleme: gewalttätige Bandenkriege, die mit Fäusten, Ziegelsteinen und Klappmessern geführt werden, ethno-religiöse Konflikte, soziale Stigmatisierung. Robbie ist wegen seiner zahlreichen Narben am Kopf benachteiligt bei der Arbeitssuche; Rhino bemerkt, wie dem Quartett "Criminals on Community Service" quasi auf der Stirn geschrieben steht. Robbies Kampf mit seinen Rivalen – eine Fehde, die auf die letzte Generation zurückgeht – wird mit harten Bandagen geführt. Und Robbie Ryans Kamera, ähnlich intensiv wie jene Barry Ackroyds (von Riff-Raff bis The Wind That Shakes the Barley elfmaliger Loach-Kollaborateur), ist nah dran am Geschehen: Schläger, die Robbie vor Leonies Krankenhauszimmer auflauern und ihn im Treppenhaus malträtieren; Robbie selber, der in einer Rückblende blind auf sein wehrloses Opfer eintritt. Schwere Kost, fürwahr.

Aber Loach, obgleich alles andere als ein Romantiker, hatte schon immer ein Herz für seine Prolo-Figuren. Zwar mögen deren Geschichten nicht immer glücklich enden, doch immerhin werden ihnen stets Momente des Glücks gegönnt. Mit viel Zärtlichkeit wird der aggressive Robbie als unsicherer Vater inszeniert; seine sanften Gespräche mit Harry (der wunderbare John Henshaw) gehören zu den Höhepunkten des Films. Doch auch nach der galligen, wenngleich gut versteckten, Satire muss in The Angels' Share nicht lange gesucht werden. Mo, Rhino, Albert und Robbie können nur staunend dabei zusehen, wie sich die Whisky-Liebhaber aus aller Welt bei der Versteigerung des "Heiligen Grals unter den Spirituosen" gegenseitig überbieten; innert kürzester Zeit steigt der Preis von 700'000 auf fast eineinhalb Millionen Pfund. Die besser gestellte Gesellschaft kann es sich leisten, derartige Summen für ein simples Getränk auszugeben, während Robbie froh sein muss, auf einer kargen Matratze bei einem Kumpel schlafen zu können.

Eine schräge Truppe: Rhino (William Ruane, links), Mo (Jasmin Riggins), Robbie und Albert (Gary Maitland) bei einer Whisky-Versteigerung.
Selbst die Autorität als Familienvater wird ihm entzogen: Er nennt seinen neugeborenen Sohn voller Stolz Luke, muss aber kurz darauf feststellen, dass der ihn verachtende Schwiegervater in spe – ein reicher Nachtclubbesitzer – das Kind in Eigeninitiative Vincent getauft hat und dem jungen Vater nahe legt, nach London zu verschwinden. Dass dies unweigerlich das Klischee der in den unteren Gesellschaftsschichten angeblich grassierenden elterlichen Vernachlässigung nährt, liegt auf der Hand. Standesdünkel, so Loach, gehört auch heute noch zum britischen Alltag. Anders jedenfalls lässt sich die Mutter von Robbies Prügel-Opfer kaum lesen: Obwohl sie allen Grund zur Wut hat, hinterlässt ihr Anwurf, er sei ein dummer Rüpel, der nie etwas Besseres gelernt habe und sich seiner Schuld nicht einmal bewusst sei, doch einen bitteren Nachgeschack.

Dass The Angels' Share bei aller Tragik eine Komödie ist, lässt sich dennoch nicht leugnen. Aber auch in diesem Rahmen bleibt Loach sich selber, seiner sozialistischen Überzeugung und seinem "Kitchen Sink"-Erbe treu. Niemand wird letztendlich Millionär, am Ende stehen die Beteiligten mit weniger als dem Jahresgehalt eines Durchschnittsbürgers da – freuen sich aber trotzdem wie die Schneekönige. Der Aufruf an Publikum und Politik ist klar: Es braucht nicht viel, um das urbane Elend der marginalisierten Vorstädte zu lindern. Auch Leute wie Robbie, Rhino, Mo und Albert gehören ins moderne Grossbritannien und haben es nicht verdient, als unverbesserliche, gewaltbereite Faulenzer qualifiziert zu werden. Ken Loach ist der Alte geblieben: Es sind dieselben vernünftigen Forderungen, die er schon seit 40 Jahren postuliert. Dass sie immer noch gestellt werden müssen, sollte zu denken geben.

★★★★

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