Freitag, 4. Januar 2013

Life of Pi

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Das Buch Life of Pi, Yann Martels gefeierte religiöse Parabel, galt seit seiner Veröffentlichung 2001 als unverfilmbar. Der chinesisch-taiwanische Regisseur Ang Lee stellte sich der Aufgabe. Das Resultat: ein berührendes, lebensbejahendes, berauschend bebildertes Fest für die Sinne.

Montreal, heute: Ein Schriftsteller (Rafe Spall) besucht den Universitätsdozenten Piscine Molitor Patel (der "ewige Nebendarsteller" Irrfan Khan – eindeutig der schauspielerische Höhepunkt des Films), genannt "Pi", der ihm eine erstaunliche Geschichte erzählt. Seine Kindheit war ebenso glücklich wie ungewöhnlich: Pis Eltern führten einen Zoo im südindischen Pondicherry, einer multikulturellen Stadt, in der er auch früh mit den verschiedenen Weltreligionen in Kontakt kam. Mit sechzehn Jahren bekennt er sich sowohl zum Hinduismus als auch zum Katholizismus als auch zum Islam. Als politische Spannungen die Patels zur Emigration nach Kanada zwingen, Zootiere inklusive, begibt sich Pi (Suraj Sharma) unfreiwillig auf ein unglaubliches Abenteuer. Das japanische Frachtschiff, mit dem die Familie übersetzt, gerät in einen Sturm und sinkt. Doch der Teenager kann sich gemeinsam mit einer Hyäne, einem verletzten Zebra, einem Orang-Utan und einem bengalischen Tiger namens Richard Parker in ein Boot retten. Nach kurzer Zeit sind nur noch Mensch und Grosskatze übrig; es beginnt ein Revier- und Überlebenskampf, der sich nach und nach in Respekt und vielleicht sogar Freundschaft verwandelt.

Seit die 3-D-Technik im Kino ihre Rückkehr gefeiert hat, wird gerne darüber debattiert, welche Filmemacher den allzu oft grundlos eingesetzten Gimmick am besten zu nutzen wissen: Das Pixar-Animationsstudio konnte mit der Technologie einige schöne Effekte erzielen (Toy Story 3), ebenso Martin Scorsese (Hugo), Werner Herzog (Cave of Forgotten Dreams) oder James Cameron, dessen visuell imposanter, inhaltlich enttäuschender Avatar stets zu den besten Werken in der dritten Dimension gezählt wird – bis anhin zumindest. Denn Life of Pi hat das Potential, dem Science-Fiction-Epos diesen Status streitig zu machen. Von der ersten Einstellung an ist klar, dass hier mit Ang Lee (Crouching Tiger, Hidden Dragon, Brokeback Mountain) ein Meister am Werk ist, der nicht nur einen triftigen Grund hat, auf 3-D zurückzugreifen, sondern auch visionär genug ist, den Kunstgriff richtig einzusetzen. Lee kreiert mit seinem Kameramann Claudio Miranda (hierhin gehört der Oscar) überwältigende Bilder: riesige Schwärme fliegender Fische; eine schwimmende Insel voller Erdmännchen; Meer und Himmel, die am Horizont zu verschmelzen scheinen.

Mensch und Raubkatze auf hoher See: Pi (Suraj Sharma) treibt alleine mit dem Tiger Richard Parker auf dem Ozean.
Anders als Avatar belässt es Life of Pi aber nicht beim berückenden Augenschmaus. David Magees Drehbuch findet, trotz eines – glücklicherweise kurz gehaltenen – Umwegs über eine unerfüllte Liebe Pis, den richtigen Weg, das schwierige Quellenmaterial auf die Leinwand zu bringen. Die religiöse Komponente ist angenehm unaufdringlich gehalten; Magee geht mit einer furiosen Sturmsequenz in der zweiten Hälfte des Films sogar das unangenehme Thema des Fanatismus kritisch an. Doch nicht die Suche nach Gott steht hier im Mittelpunkt, sondern die komplizierte, ungemein anrührende Beziehung zwischen Pi und Richard Parker, dem überwiegend computergenerierten Tiger, der vom lebenden Tier nicht zu unterscheiden ist – auch die Spezialeffekte bewegen sich auf höchstem Niveau. Am Ende bleibt so die Erkenntnis: Gott, sollte es ihn denn geben, zeigt sich nicht in Blitzen und Stürmen – wie Pi es einmal interpretiert –, sondern in der Schönheit der Natur, etwa in der majestätischen Präsenz eines Tigers.

★★★

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen