Das Buch Life of Pi, Yann Martels gefeierte religiöse Parabel, galt seit seiner Veröffentlichung 2001 als unverfilmbar. Der chinesisch-taiwanische Regisseur Ang Lee stellte sich der Aufgabe. Das Resultat: ein berührendes, lebensbejahendes, berauschend bebildertes Fest für die Sinne.
Montreal, heute: Ein Schriftsteller (Rafe Spall) besucht den
Universitätsdozenten Piscine Molitor Patel (der "ewige
Nebendarsteller" Irrfan Khan – eindeutig der schauspielerische
Höhepunkt des Films), genannt "Pi", der ihm eine erstaunliche
Geschichte erzählt. Seine Kindheit war ebenso glücklich wie
ungewöhnlich: Pis Eltern führten einen Zoo im südindischen
Pondicherry, einer multikulturellen Stadt, in der er auch früh mit
den verschiedenen Weltreligionen in Kontakt kam. Mit sechzehn Jahren
bekennt er sich sowohl zum Hinduismus als auch zum Katholizismus als
auch zum Islam. Als politische Spannungen die Patels zur Emigration
nach Kanada zwingen, Zootiere inklusive, begibt sich Pi (Suraj
Sharma) unfreiwillig auf ein unglaubliches Abenteuer. Das japanische
Frachtschiff, mit dem die Familie übersetzt, gerät in einen Sturm
und sinkt. Doch der Teenager kann sich gemeinsam mit einer Hyäne,
einem verletzten Zebra, einem Orang-Utan und einem bengalischen Tiger
namens Richard Parker in ein Boot retten. Nach kurzer Zeit sind nur
noch Mensch und Grosskatze übrig; es beginnt ein Revier- und
Überlebenskampf, der sich nach und nach in Respekt und vielleicht
sogar Freundschaft verwandelt.
Seit die 3-D-Technik im Kino ihre Rückkehr gefeiert hat, wird gerne
darüber debattiert, welche Filmemacher den allzu oft grundlos
eingesetzten Gimmick am besten zu nutzen wissen: Das
Pixar-Animationsstudio konnte mit der Technologie einige schöne
Effekte erzielen (Toy Story 3), ebenso Martin Scorsese
(Hugo), Werner Herzog (Cave of Forgotten Dreams) oder
James Cameron, dessen visuell imposanter, inhaltlich enttäuschender Avatar stets zu den besten Werken in der dritten Dimension
gezählt wird – bis anhin zumindest. Denn Life of Pi hat das
Potential, dem Science-Fiction-Epos diesen Status streitig zu machen.
Von der ersten Einstellung an ist klar, dass hier mit Ang Lee
(Crouching Tiger, Hidden Dragon, Brokeback Mountain) ein
Meister am Werk ist, der nicht nur einen triftigen Grund hat, auf 3-D
zurückzugreifen, sondern auch visionär genug ist, den Kunstgriff
richtig einzusetzen. Lee kreiert mit seinem Kameramann Claudio
Miranda (hierhin gehört der Oscar) überwältigende Bilder: riesige
Schwärme fliegender Fische; eine schwimmende Insel voller
Erdmännchen; Meer und Himmel, die am Horizont zu verschmelzen
scheinen.
Mensch und Raubkatze auf hoher See: Pi (Suraj Sharma) treibt alleine
mit dem Tiger Richard Parker auf dem Ozean.
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Anders als Avatar belässt es Life of Pi aber nicht beim
berückenden Augenschmaus. David Magees Drehbuch findet, trotz eines
– glücklicherweise kurz gehaltenen – Umwegs über eine
unerfüllte Liebe Pis, den richtigen Weg, das schwierige
Quellenmaterial auf die Leinwand zu bringen. Die religiöse
Komponente ist angenehm unaufdringlich gehalten; Magee geht mit einer
furiosen Sturmsequenz in der zweiten Hälfte des Films sogar das
unangenehme Thema des Fanatismus kritisch an. Doch nicht die Suche
nach Gott steht hier im Mittelpunkt, sondern die komplizierte,
ungemein anrührende Beziehung zwischen Pi und Richard Parker, dem
überwiegend computergenerierten Tiger, der vom lebenden Tier nicht
zu unterscheiden ist – auch die Spezialeffekte bewegen sich auf
höchstem Niveau. Am Ende bleibt so die Erkenntnis: Gott, sollte es
ihn denn geben, zeigt sich nicht in Blitzen und Stürmen – wie Pi
es einmal interpretiert –, sondern in der Schönheit der Natur,
etwa in der majestätischen Präsenz eines Tigers.
★★★★
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