Donnerstag, 17. Januar 2013

Oh Boy

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Die Grossstadt übt seit jeher eine enorme Faszination auf Filmemacher aus. Auch der 34-jährige Deutsche Jan-Ole Gerster fand hier die Inspiration für sein Debüt: Berlin, die "originale" Kino-Grossstadt, wird in Oh Boy zum Schauplatz eines absurd-tragikomischen Selbstfindungstrips.

"Kennst du das, wenn man das Gefühl hat, dass die Menschen um einen herum irgendwie merkwürdig sind, aber wenn du ein bisschen länger darüber nachdenkst, dann wird dir irgendwie klar, dass vielleicht nicht die anderen, sondern dass man selbst das Problem ist?" Solche oder ähnliche Gedanken macht sich der Endzwanziger Niko Fischer (Tom Schilling) tagein, tagaus. Zeit dafür hat er genug, denn obwohl er vor zwei Jahren das Jura-Studium abgebrochen hat, erhält er von seinem reichen Vater (Ulrich Noethen) monatlich immer noch 1000 Euro überwiesen – bis Papa Fischer ihn entlarvt und ihm die Kreditkarte sperrt. Es folgt eine Odyssee durch Berlin, auf der Niko allerlei wunderliche Menschen trifft und sich eigentlich nichts sehnlicher wünscht als eine Tasse Kaffee.

Eine der zahlreichen kleinen Episoden, durch die sich Niko in Oh Boy kämpfen muss, führt ihn in die Bleibe eines jugendlichen Dealers, einer Stadtwohnung, die dieser sich mit seiner Grossmutter teilt. Diese, nicht dement, aber wohl ein wenig "tüddelig", wie es im deutschen Volksmund so schön heisst, findet Gefallen an Niko und fordert ihn dazu auf, ihren automatischen Lehnstuhl auszuprobieren. Und siehe da: Der junge Mann scheint die Erfahrung zu geniessen, nicht viel mehr zu tun als sich an den Vorzügen eines ferngesteuerten Sitzmöbels zu erfreuen. Es ist das Gegenstück zum Lebensentwurf, den ihm sein Vater am gleichen Tag nahe gelegt hat: "Schneid dir die Haare, kauf dir ein Paar ordentliche Schuhe und such dir einen Job, so wies alle machen." Warum, so die angedeutete Frage, muss man zwischen Jugend und Ruhestand 40 Jahre mit ernsthaftem Lebensinhalt vergeuden?

Ein Mann, eine Stadt: Niko (Tom Schilling) beobachtet das Treiben in den Strassen Berlins.
Es sind diese Fragen, die Jan-Ole Gerster hier umtreiben und die er klugerweise nicht klar beantwortet. Niko trifft auch Leute, die einen geregelten Alltag verlockend erscheinen lassen, und sei es nur, weil ihnen eben dieser fehlt; doch schlussendlich bleibt offen, ob er von seiner Reise wirklich etwas gelernt hat. Das einzige konkrete Fazit, das Gerster zieht, ist ebenso richtig wie tröstlich: Ein Beruf allein macht auch nicht glücklich. Die Art und Weise, wie er zu dieser Erkenntnis gelangt, ist indes eine höchst vergnügliche: In diesem Berlin, gefilmt in wunderbar körnigem Schwarzweiss, ist niemand normal: weder der spitzfindige Beamte, noch der künstlerisch "authentische" Autor vom alternativen Theater, noch der seriöse Babelsberg-Schauspieler, der einen Wehrmacht-Offizier zum Besten gibt – "linientreu, aber schon mit dem gewissen Etwas".

Gerster schöpft in diesem Panoptikum der verlorenen Seelen aus dem Vollen bezüglich Grossstadt-Filmgeschichte. Zwischen die einzelnen Vignetten schieben sich sich von der Handlung losgelöste Berliner Strassenszenen – Rückbesinnungen auf Walter Ruttmanns Sinfonie der Grossstadt von 1927. Tom Schillings melancholisch-lakonische Hauptfigur scheint Sofia Coppolas Lost in Translation oder dem Universum Jim Jarmuschs entsprungen; auch zum Figurenkreis von Sven Regeners und Leander Haussmanns Herr Lehmann würde er passen. Die fatalen Missverständnisse, welche Niko immer wieder heimsuchen, erinnern wiederum an New Yorker Satiren wie Martin Scorseses After Hours oder Neil Simons The Out-of-Towners und The Prisoner of Second Avenue. Und Woody Allens Manhattan ist ohnehin omnipräsent. Dieses cineastische Punkteverbinden hätten ein Aki Kaurismäki (La vie de bohème) oder ein Hong Sang-soo (The Day He Arrives) vielleicht stringenter in Szene gesetzt, doch Oh Boy vermag auch so, als eine Art Film gewordener Jazz, mühelos zu überzeugen.

★★★★

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