Die Grossstadt übt seit jeher eine enorme Faszination auf
Filmemacher aus. Auch der 34-jährige Deutsche Jan-Ole Gerster fand
hier die Inspiration für sein Debüt: Berlin, die "originale"
Kino-Grossstadt, wird in Oh Boy zum Schauplatz eines
absurd-tragikomischen Selbstfindungstrips.
"Kennst
du das, wenn man das Gefühl hat, dass die Menschen um einen herum
irgendwie merkwürdig sind, aber wenn du ein bisschen länger darüber
nachdenkst, dann wird dir irgendwie klar, dass vielleicht nicht die
anderen, sondern dass man selbst das Problem ist?" Solche oder
ähnliche Gedanken macht sich der Endzwanziger Niko Fischer (Tom
Schilling) tagein, tagaus. Zeit dafür hat er genug, denn obwohl er
vor zwei Jahren das Jura-Studium abgebrochen hat, erhält er von
seinem reichen Vater (Ulrich Noethen) monatlich immer noch 1000 Euro
überwiesen – bis Papa Fischer ihn entlarvt und ihm die Kreditkarte
sperrt. Es folgt eine Odyssee durch Berlin, auf der Niko allerlei
wunderliche Menschen trifft und sich eigentlich nichts sehnlicher
wünscht als eine Tasse Kaffee.
Eine der zahlreichen kleinen Episoden, durch die sich Niko in Oh
Boy kämpfen muss, führt ihn in die Bleibe eines jugendlichen
Dealers, einer Stadtwohnung, die dieser sich mit seiner Grossmutter
teilt. Diese, nicht dement, aber wohl ein wenig "tüddelig", wie
es im deutschen Volksmund so schön heisst, findet Gefallen an Niko
und fordert ihn dazu auf, ihren automatischen Lehnstuhl
auszuprobieren. Und siehe da: Der junge Mann scheint die Erfahrung zu
geniessen, nicht viel mehr zu tun als sich an den Vorzügen eines
ferngesteuerten Sitzmöbels zu erfreuen. Es ist das Gegenstück zum
Lebensentwurf, den ihm sein Vater am gleichen Tag nahe gelegt hat: "Schneid dir die Haare, kauf dir ein Paar ordentliche Schuhe und
such dir einen Job, so wies alle machen." Warum, so die
angedeutete Frage, muss man zwischen Jugend und Ruhestand 40 Jahre
mit ernsthaftem Lebensinhalt vergeuden?
Ein Mann, eine Stadt: Niko (Tom Schilling) beobachtet das Treiben in
den Strassen Berlins.
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Es sind diese Fragen, die Jan-Ole Gerster hier umtreiben und die er
klugerweise nicht klar beantwortet. Niko trifft auch Leute, die einen
geregelten Alltag verlockend erscheinen lassen, und sei es nur, weil
ihnen eben dieser fehlt; doch schlussendlich bleibt offen, ob er von
seiner Reise wirklich etwas gelernt hat. Das einzige konkrete Fazit,
das Gerster zieht, ist ebenso richtig wie tröstlich: Ein Beruf
allein macht auch nicht glücklich. Die Art und Weise, wie er zu
dieser Erkenntnis gelangt, ist indes eine höchst vergnügliche: In
diesem Berlin, gefilmt in wunderbar körnigem Schwarzweiss, ist
niemand normal: weder der spitzfindige Beamte, noch der künstlerisch "authentische" Autor vom alternativen Theater, noch der seriöse
Babelsberg-Schauspieler, der einen Wehrmacht-Offizier zum Besten gibt
– "linientreu, aber schon mit dem gewissen Etwas".
Gerster schöpft in diesem Panoptikum der verlorenen Seelen aus dem
Vollen bezüglich Grossstadt-Filmgeschichte. Zwischen die einzelnen
Vignetten schieben sich sich von der Handlung losgelöste Berliner
Strassenszenen – Rückbesinnungen auf Walter Ruttmanns Sinfonie
der Grossstadt von 1927. Tom Schillings melancholisch-lakonische
Hauptfigur scheint Sofia Coppolas Lost in Translation oder dem
Universum Jim Jarmuschs entsprungen; auch zum Figurenkreis von Sven
Regeners und Leander Haussmanns Herr Lehmann würde er passen.
Die fatalen Missverständnisse, welche Niko immer wieder heimsuchen,
erinnern wiederum an New Yorker Satiren wie Martin Scorseses After
Hours oder Neil Simons The Out-of-Towners und The
Prisoner of Second Avenue. Und Woody Allens Manhattan ist
ohnehin omnipräsent. Dieses cineastische Punkteverbinden hätten ein
Aki Kaurismäki (La vie de bohème) oder ein Hong Sang-soo
(The Day He Arrives) vielleicht stringenter in Szene gesetzt,
doch Oh Boy vermag auch so, als eine Art Film gewordener Jazz,
mühelos zu überzeugen.
★★★★
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