Montag, 14. Januar 2013

Quelques heures de printemps

Der Zustand des französischen Kinos ist beneidenswert. Trotz einer von Meistern ihres Fachs geprägten Filmgeschichte kann La Grande Nation auch heute noch eine beachtliche Anzahl an renommierten, teils sogar international gefeierten Regisseuren vorweisen: von Jean Becker und Jacques Audiard bis hin zu Jean-Pierre Jeunet und François Ozon. Der Fundus an Talenten ist sogar so reich, dass unauffälligere Filmemacher wie etwa Stéphane Brizé fast gänzlich übersehen werden können. Dabei erweist sich Brizé mit seinem fünften Film, Quelques heures de printemps, einmal mehr als einer der besten zeitgenössischen Regisseure Frankreichs.

Eineinhalb Jahre sass der Lastwagenfahrer Alain (Vincent Lindon), 48, wegen Drogenschmuggels im Gefängnis. Nach seiner Entlassung steht er vor einem schwierigen Neuanfang: Seine Arbeit hat er verloren, ebenso seine Wohnung. Also zieht er vorübergehend zurück zu seiner krebskranken Mutter Yvette (Hélène Vincent), mit der er seit Jahren ein eher angespanntes Verhältnis hat. Als er erfährt, dass sie sich mit einer Sterbehilfeorganisation in der Schweiz in Verbindung gesetzt hat, wird die Beziehung der beiden auf eine noch härtere Probe gestellt.

Es ist verlockend, Stéphane Brizés neuen Film im grösseren Kontext als eine Art Begleitwerk zu Michael Hanekes Amour zu sehen, besonders angesichts des weltweiten Erfolgs des Meisterstücks des Österreichers. Beide, Brizé und Haneke, beschäftigen sich mit dem Älterwerden und dem Tod, beide beweisen grossen Mut in ihrer Themenwahl, beide tun dies mit minimalem Aufwand. Grosse Gesten sucht man vergeblich. Und doch würde es sehr überraschen, wenn Quelques heures de printemps der gleiche Triumph wie Amour vergönnt wäre, da er, vor allem im amerikanischen Geschäft, wohl weitaus kontroverser aufgefasst würde. Grund dafür ist die Art und Weise, mit der der Film das heikle Thema der Sterbehilfe angeht: nüchtern, neutral, ohne Wertung.

Alain (Vincent Lindon) muss nach seinem Gefängnisaufenthalt wieder bei seiner Mutter Yvette (Hélène Vincent) einziehen.
Diese Darstellung einer umstrittenen Praxis ist typisch für Brizé, auch der Umstand, dass er seinen Film nicht zur moralischen Grundsatzdiskussion verkommen lässt. Im Zentrum steht nicht das Richtig oder Falsch von Yvettes Vorbereitungen, sondern einzig und allein die Beziehung von Mutter und Sohn. In Mademoiselle Chambon, seinem vorangegangenen Film, war ein Dilemma die treibende Kraft des Geschehens, hier nähert Brizé sich wieder seinem grossartigen Je ne suis pas là pour être aimé an, indem er sich auf die Krise seiner Figur(en) konzentriert. Längere Dialoge sind selten; weder Alain noch Yvette sind Menschen der vielen Worte. Beides sind Eigenbrötler, die, vielleicht durch Isolation, vielleicht durch Desillusionierung – sie ist Witwe, er hat einen einsamen Beruf und einen Gefängnisaufenthalt hinter sich –, verlernt haben, richtige Gespräche zu führen.

Die Essenz von Quelques heures de printemps liegt dementsprechend nicht in Dialogen, sondern in Blicken und Gesten. Es ist unerlässlich, während der nicht selten minutenlangen Einstellungen in den Gesichtern der Akteure zu lesen – die herausragenden Leistungen von Vincent Lindon und Hélène Vincent helfen dabei –, in denen sich die ganze Tragödie zweier Menschen abzuspielen scheint. In beinahe harschem Tonfall bemerkt Yvette beim Ordnen alter Fotos, wie süss Alain damals ausgesehen hat; er hat nur ein "Mhm" für die Bemerkung übrig. Doch Brizé findet auch dem seinem Reduktionismus eigenen Humor: Wunderbar die Szene, in der Madame Évrard und Sohn in verschiedenen Räumen um die Gunst ihres Hundes buhlen und sich gegenseitig mit aufgedrehter Radio- und Fernsehlautstärke zu zermürben versuchen.

Nachbar Lalouette (Olivier Perrier) stattet Yvette einen seiner zahlreichen Besuche ab.
Dass diese ruhig und konzentriert vorgetragene Geschichte letztlich dennoch berührt, zeugt von der aussergewöhnlichen Klasse des Regisseurs. Ohne allzu offensichtliche Verdichtung der Handlung gewinnt Quelques heures de printemps stetig an emotionaler Intensität und erreicht schlussendlich eine enorme poetische Kraft, die in einem ebenso niederschmetternden wie versöhnlichen Ende kulminiert. Dort erlauben sich Brizé und Co-Autorin Florence Vignon denn auch das einzige explizite Geständnis von Zuneigung zwischen Alain und Yvette – untermalt von der grossartigen Musik von Nick Cave und Warren Ellis, frei von Kitsch und Sentimentalität –, welches beiden von Herzen zu gönnen ist.

Stéphane Brizés Filme sind lebensnahe Miniaturen, die mit geringem Aufwand erstaunliche Wirkung erzielen. Auch Quelques heures de printemps fügt sich in dieses Schema ein: Eine beinahe alltägliche Situation erhält durch seinen wortkargen, auf Details beruhenden Stil eine ungeahnte emotionale Tiefe. Nur wenige Filmemacher schaffen es derart virtuos, die Stille Bände sprechen zu lassen – genug gesagt.

★★★★★

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen