Der Zustand des französischen Kinos ist beneidenswert. Trotz einer
von Meistern ihres Fachs geprägten Filmgeschichte kann La Grande
Nation auch heute noch eine beachtliche Anzahl an renommierten, teils
sogar international gefeierten Regisseuren vorweisen: von Jean Becker
und Jacques Audiard bis hin zu Jean-Pierre Jeunet und François Ozon.
Der Fundus an Talenten ist sogar so reich, dass unauffälligere
Filmemacher wie etwa Stéphane Brizé fast gänzlich übersehen
werden können. Dabei erweist sich Brizé mit seinem fünften Film,
Quelques heures de printemps, einmal mehr als einer der besten
zeitgenössischen Regisseure Frankreichs.
Eineinhalb Jahre sass der Lastwagenfahrer Alain (Vincent Lindon), 48,
wegen Drogenschmuggels im Gefängnis. Nach seiner Entlassung steht er
vor einem schwierigen Neuanfang: Seine Arbeit hat er verloren, ebenso
seine Wohnung. Also zieht er vorübergehend zurück zu seiner
krebskranken Mutter Yvette (Hélène Vincent), mit der er seit Jahren
ein eher angespanntes Verhältnis hat. Als er erfährt, dass sie sich
mit einer Sterbehilfeorganisation in der Schweiz in Verbindung
gesetzt hat, wird die Beziehung der beiden auf eine noch härtere
Probe gestellt.
Es ist verlockend, Stéphane Brizés neuen Film im grösseren Kontext
als eine Art Begleitwerk zu Michael Hanekes Amour zu sehen,
besonders angesichts des weltweiten Erfolgs des Meisterstücks des
Österreichers. Beide, Brizé und Haneke, beschäftigen sich mit dem
Älterwerden und dem Tod, beide beweisen grossen Mut in ihrer
Themenwahl, beide tun dies mit minimalem Aufwand. Grosse Gesten sucht
man vergeblich. Und doch würde es sehr überraschen, wenn Quelques
heures de printemps der gleiche Triumph wie Amour vergönnt
wäre, da er, vor allem im amerikanischen Geschäft, wohl weitaus
kontroverser aufgefasst würde. Grund dafür ist die Art und Weise,
mit der der Film das heikle Thema der Sterbehilfe angeht: nüchtern,
neutral, ohne Wertung.
Alain (Vincent Lindon) muss nach seinem Gefängnisaufenthalt wieder bei seiner Mutter Yvette (Hélène Vincent) einziehen. |
Diese
Darstellung einer umstrittenen Praxis ist typisch für Brizé, auch
der Umstand, dass er seinen Film nicht zur moralischen
Grundsatzdiskussion verkommen lässt. Im Zentrum steht nicht das
Richtig oder Falsch von Yvettes Vorbereitungen, sondern einzig und
allein die Beziehung von Mutter und Sohn. In Mademoiselle
Chambon,
seinem vorangegangenen Film,
war
ein Dilemma die treibende Kraft des Geschehens, hier nähert Brizé
sich wieder seinem grossartigen Je
ne suis pas là pour être aimé an,
indem er sich auf die Krise seiner Figur(en) konzentriert. Längere
Dialoge sind selten; weder Alain noch Yvette sind Menschen der vielen
Worte. Beides sind Eigenbrötler, die, vielleicht durch Isolation,
vielleicht durch Desillusionierung – sie ist Witwe, er hat einen
einsamen Beruf und einen Gefängnisaufenthalt hinter sich –,
verlernt haben, richtige Gespräche zu führen.
Die
Essenz von Quelques
heures de printemps
liegt dementsprechend nicht in Dialogen, sondern in Blicken und
Gesten. Es ist unerlässlich, während der nicht selten minutenlangen
Einstellungen in den Gesichtern der Akteure zu lesen – die
herausragenden Leistungen von Vincent Lindon und Hélène Vincent
helfen dabei –, in denen sich die ganze Tragödie zweier Menschen
abzuspielen scheint. In beinahe harschem Tonfall bemerkt Yvette beim
Ordnen alter Fotos, wie süss Alain damals ausgesehen hat; er hat nur
ein "Mhm" für die Bemerkung übrig. Doch Brizé findet
auch dem seinem Reduktionismus eigenen Humor: Wunderbar die Szene, in
der Madame Évrard und Sohn in verschiedenen Räumen um die Gunst
ihres Hundes buhlen und sich gegenseitig mit aufgedrehter Radio- und
Fernsehlautstärke zu zermürben versuchen.
Nachbar Lalouette (Olivier Perrier) stattet Yvette einen seiner zahlreichen Besuche ab. |
Dass
diese ruhig und konzentriert vorgetragene Geschichte letztlich
dennoch berührt, zeugt von der aussergewöhnlichen Klasse des
Regisseurs. Ohne allzu offensichtliche Verdichtung der Handlung
gewinnt Quelques
heures de printemps stetig
an emotionaler Intensität und erreicht schlussendlich eine enorme
poetische Kraft, die in einem ebenso niederschmetternden wie
versöhnlichen Ende kulminiert. Dort erlauben sich Brizé und
Co-Autorin Florence Vignon denn auch das einzige explizite Geständnis
von Zuneigung zwischen Alain und Yvette – untermalt von der
grossartigen Musik von Nick Cave und Warren Ellis, frei von Kitsch
und Sentimentalität –, welches beiden von Herzen zu gönnen ist.
Stéphane
Brizés Filme sind lebensnahe Miniaturen, die mit geringem Aufwand
erstaunliche Wirkung erzielen. Auch Quelques
heures de printemps fügt
sich in dieses Schema ein: Eine beinahe alltägliche Situation erhält
durch seinen wortkargen, auf Details beruhenden Stil eine ungeahnte
emotionale Tiefe. Nur wenige Filmemacher schaffen es derart virtuos,
die Stille Bände sprechen zu lassen – genug gesagt.
★★★★★
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