Kontroversen,
Pech und vor allem Widersprüche prägen die Filmkarriere des
britischen Künstlers Tony Kaye: In eineinhalb Jahrzehnten drehte er
nur vier Filme, von denen es einer nicht einmal ins Kino schaffte. Er
erntete begeisterte Kritiken und wütende Publikumsreaktionen,
drängte sich trotz heftig geführter Debatten nie ins
Scheinwerferlicht. In Detachment versucht
er nun, Dokumentation und Gesellschaftsdrama zusammenzuführen; er
scheitert auf faszinierende Art und Weise.
Der
Aushilfslehrer Henry Barthes (Adrien Brody) wird damit beauftragt, an
einer New Yorker Problemschule einen Monat lang Englisch zu
unterrichten. Dort, wo die Noten tief und die Gewaltbereitschaft hoch
ist, treffen resignierte Lehrer auf wütende, frustrierte,
desinteressierte und deprimierte Schüler, deren Eltern sich wenig
bis gar nicht mit dem Werdegang ihrer Kinder auseinandersetzen.
Während seiner Anstellung erlebt Henry, wie sich die Lehrerschaft
(bestehend aus Marcia Gay Harden, Blythe Danner, James Caan,
Christina Hendricks und der starken Lucy Liu) mit emotionaler
Distanz, Psychopharmaka und blankem Zynismus der täglichen
Sisyphusaufgabe stellt, und lernt nebenbei die junge Prostituierte
Erica (Sami Gayle) kennen.
Tony Kayes Interesse an und Umgang mit Amerikas soziopolitischen
Brennpunkten platziert sich irgendwo zwischen (filmischer) Fiktion
und Realität; in seinen Werken trifft – und beisst – sich
dokumentarische Genauigkeit mit ausschweifender Ästhetik und
pointierter Dramaturgie. Zwei Spielfilme hat er gemacht, sie handeln
von Neonazis (American History X) und Hurrikan Katrina (Black
Water Transit – bis heute nicht fertig gestellt); seine
gefeierte Monumentaldokumentation Lake of Fire gilt als
unparteiisches Standardwerk zum Thema Abtreibung.
Detachment in dieses Schema einzuordnen, ist schwierig.
Freilich, Kaye erzählt, nach einem Drehbuch von Carl Lund, eine
gänzlich konstruierte Geschichte, die mit bekannten Schauspielern
besetzt ist. Andererseits bedient sich der Film aber auch beim
Stil-Katalog des Dokumentarfilms: Der Protagonist gibt einer
unsichtbaren Crew ein Interview, in dem er, quasi als Gegenentwurf zu
Robin Williams in Dead Poets Society, über das undankbare
Leben eines Innenstadt-Lehrers spricht, über die Defizite der
US-Bildungspolitik, über das Regierungsprojekt "No Child Left
Behind". Detachment ist auch eine Milieustudie, verwandt
mit Matthieu Kassovitz' La haine, die einen Blick hinter die
Fassade der Vorzeigemetropole New York wirft und dabei aufdeckt, dass
sich die Banden- und Drogenprobleme der Achtzigerjahre bestenfalls
lediglich verlagert haben, dass im mardoen Bildungssystem derzeit
eine neue Generation von perspektivlosen Jugendlichen heranwächst,
die ohne enge Zusammenarbeit von Staat, Schulbehörden und Familien
bald wieder zu Uzi und Crackpfeife greifen könnten.
Aushilfslehrer Henry Barthes (Adrien Brody) nimmt sich der depressiven Meredith (Betty Kaye) an. © filmcoopi |
Parallel dazu beschäftigen Kaye weitere gesellschaftliche
Problembereiche: Henry Barthes' Grossvater (beeindruckend: Louis
Zorich) siecht in einem liederlich geführten Pflegeheim vor sich
hin; Erica ist, obwohl noch keine 20 (Darstellerin Sami Gayle ist 17
Jahre alt), bereits durch das soziale Fangnetz gefallen und kratzt
sich ihren Lebensunterhalt auf dem Strich zusammen, wo aggressive
Freier und gefährliche Geschlechtskrankheiten zum Berufsrisiko
gehören. Aus diesen Szenen aus dem New Yorker Strassenleben hinter
den glitzernden Wolkenkratzern New Yorks, den Einzelschicksalen
Henrys und seiner Kollegen sowie den zahlreichen morbiden
Kreideanimationen webt Kaye einen Flickenteppich, der letztlich nur
ein tristes Fazit zulässt: Das System ist kaputt, korrodiert von den
alten Strukturen und Praktiken, die man eigentlich schon überwunden
und ersetzt geglaubt hat.
Was Detachment zu sagen hat, ist sicher nicht falsch; wie er
das Gesagte präsentiert, ist angenehm experimentierfreudig und würde
anderen Filmen mit ähnlicher Mission gut zu Gesicht stehen. Woran
der Versuch aber krankt, ist das Wie. Mit hoch erhobenem Zeigefinger
dozieren Kaye und Lund über den physischen und ideologischen Zerfall
der öffentlichen Institutionen. Ihre Figuren halten lange,
bedeutungsschwangere, deklarative Monologe – einer davon wird von
einer Rede Adolf Hitlers ergänzt –, in denen sie exakt auflisten,
wo die Fehler liegen, wo Verbesserungsbedarf besteht. Anders als etwa
David Cronenbergs Cosmopolis, ebenfalls ein erbitterter
Rundumschlag, greift Detachment aber nicht Ideen und
kulturelle Mentalitäten, sondern konkrete, fassbare Probleme an. Und
dort gilt die Maxime, dass mit dem Anprangern allein noch nichts
erreicht ist. So zerbricht Detachment an seiner unglücklichen
Heuchelei. Es ist ein Film, der sich darüber echauffiert, dass die
Mächtigen für die Herausforderungen der Realität nur leere Worte
übrig haben. Entgegenzusetzen hat er ihnen aber nur eines: eine
wütende, eloquente, aber leider nicht minder leere Tirade.
★★
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