Dienstag, 30. April 2013

Los amantes pasajeros

Nachdem er sich in seinem letzten Projekt in die dramatischen Tiefen des Psychothrillers nach Hitchcock, Chabrol und Fassbinder vorgewagt hat, wendet sich Pedro Almodóvar nun der "leichten, sehr leichten Komödie" zu. Diese Beschreibung, vom Regisseur selbst in Umlauf gebracht, charakterisiert den luftig leeren Los amantes pasajeros perfekt.

Zwar wird man, wie bei jedem Film Almodóvars, auch hier zwischen den Zeilen fündig, wenn man danach sucht, doch bleiben die satirischen Seitenhiebe und Anspielungen auf das skandalgebeutelte spanische Königshaus, die ewig marode Infrastruktur und die korrupte Intrigenwirtschaft von Politik und Hochfinanz zahme Nebenschauplätze. In seinem Kern bleibt Los amantes pasajeros ein lockerer Versuch, die rasanten, schnell- und scharfzüngigen Dialoge der amerikanischen Screwballkomödie auf die heissblütige mediterrane Gesellschafts-Farce anzuwenden.

Im Zentrum steht dabei ein klassisches Narrenschiff, ein Flugzeug, dessen Reise nach Mexiko sich wegen eines Defekts (ausgelöst durch das Bodenpersonal: Antonio Banderas und Penélope Cruz) in die verzweifelte Suche verwandelt, eine leere Landebahn im Pleiteland Spanien zu finden. An Bord befinden sich eine sedierte Touristenklasse und eine hochgradig neurotische Business Class: bestehend aus einem paranoiden Ex-Pornosternchen (Cecilia Roth), einem feigen Schauspieler (Guillermo Toledo), einem Medium (Lola Dueñas), einem frisch verheirateten Drogenschmuggler-Pärchen (Miguel Ángel Silvestre, Laya Marti), einem landesweit gesuchten Geschäftsmann (José Luis Torrijo) sowie einem zwielichtigen Mexikaner (José Maria Yazpik). Weiter als diese suggestive Figurenkonstellation zieht Almodóvar seine Satire bewusst nicht.

Dafür stellt er dieser illustren Truppe eine umso schrillere Kabinencrew gegenüber: Die Aufgabe, den verwöhnten, quengelnden Passagieren das Kreisen über den spanischen Flughäfen so angenehm wie möglich zu gestalten, fällt den drei homosexuellen Stewards Joserra (Javier Cámara), Ulloa (Raúl Arévalo) und Fajardo (Carlos Areces) zu; unterstützt werden sie dabei von den beiden Piloten (Antonio de la Torre, Hugo Silva) nur halbherzig. Als auch ihre sorgfältig choreografierte Karaoke-Einlage die Stimmung nicht zu heben vermag, schütten sie die an Bord vorhandenen Alkoholika ineinander und verabreichen das Gebräu der ganzen ersten Klasse. Die Hemmschwelle fällt, Geheimnisse werden verraten und sexuelle Fantasien ausgelebt.

Narrenschiff über den Wolken: Ein technischer Defekt verwandelt den geplanten Flug nach Mexiko in eine schlüpfrige Farce.
© Pathé Films AG
Man könnte sich nun fragen, was mit Pedro Almodóvar seit La piel que habito passiert ist, weshalb er das fruchtbare Terrain des Dramatischen wieder verlassen hat, um eine substanz-, ja belanglose Komödie mit schwulen Stereotypen und schlüpfrigen Witzen zu drehen. Denn wirklich geglückt kann man Los amantes pasajeros nicht nennen: Dramaturgie und Dekor erinnern entfernt an François Ozons 8 femmes, doch dem Ganzen fehlt dessen Schärfe. Auch erreicht der Film trotz seines munteren Tempos und seiner durchaus gelungenen rasanten Dialoge niemals den Unterhaltungswert einer Screwballkomödie à la Howard Hawks, Frank Capra oder George Cukor.

Was also will Almodóvar mit seinem neuen Film erreichen? Wie kommt es, dass sich der grosse Erzähler des modernen spanischen Kinos plötzlich mit einer seichten Seifenoper in Spielfilmläge begnügt? Vielleicht ist Los amantes pasajeros mit seinem augenzwinkernd überzeichneten Erzählton und seinem künstlich inszenierten Handlungsraum, der mehr und mehr zum reinen Studio wird, eine Liebeserklärung an seine Genre-Vorbilder. Vielleicht war es Almodóvar ein Anliegen, die sanfte Subversion von Shakespeares Liebestollerei A Midsummer Night's Dream ins heutige Spanien zu verlegen. Doch letztendlich ist wohl die einfachste Erklärung die richtige: Pedro Almodóvar wollte eine oberflächliche Komödie drehen und hat dies nach bestem Wissen und Gewissen auch getan. Ein Meisterwerk ist ihm damit beileibe nicht gelungen; amüsant ist der schnell vergessene Flug aber allemal.

★★★

Sonntag, 28. April 2013

Kon-Tiki

Nur ein kleiner Teil des globalen Kinopublikums wird jemals den Film zu Gesicht bekommen, der im Januar 2013 unter dem Titel Kon-Tiki für den Fremdsprachen-Oscar nominiert wurde. Im Bestreben, da hin gehende Wünsche des 2002 verstorbenen Thor Heyerdahl, auf dessen gleichnamiger Expedition das Projekt basiert, zu würdigen, griffen die Regisseure Joachim Rønning und Espen Sandberg auf eine Technik aus der Frühzeit des Tonfilms zurück: War eine Szene im Original (hier: auf Norwegisch) abgedreht, spielten die Darsteller sie noch einmal – im vorliegenden Fall auf Englisch. Diese Wiederauflebung einer cineastischen Tradition passt, denn Kon-Tiki ist altmodisches Abenteuerkino: mitreissend, beeindruckend, unvollkommen.

Während seiner Feldforschungen in Polynesien in den 1930er Jahren entdeckt der norwegische Ethnograf Thor Heyerdahl (Pål Sverre Valheim Hagen) mit seiner Frau Liv (Agnes Kittelsen) Erstaunliches: Die Mythen der Einheimischen, die Strömungen des Pazifiks sowie alte Götterstatuen, welche jenen auf dem südamerikanischen Festland ähneln, bringen ihn dazu, die Lehrmeinung, die polynesischen Inseln wären von Asien aus besiedelt worden, zu hinterfragen. Knapp zehn Jahre lang versucht Thor vergeblich, die Welt der Wissenschaft von seiner These zu überzeugen. 1946 beschliesst er, den praktischen Beweis anzutreten: Er baut ein originalgetreues Floss namens "Kon-Tiki", mit dem er, wie einst die peruanischen Ureinwohner, den Ozean überqueren und das polynesische Archipel erreichen will – getragen von den Meeresströmungen. Mit einer fünfköpfigen Mannschaft sticht er im April 1947 in See, wo sein primitives Gefährt Haien, Stürmen und Materialermüdung ausgesetzt ist.

Sechs Männer kämpfen in einem kaum steuerbaren Boot mitten im Meer um ihr körperliches und mentales Überleben, umgeben von einer end- und uferlos scheinenden Wassermasse. Die Ähnlichkeit, die Norwegens fünfter oscarnominierter Film mit Life of Pi, dem zahlenmässigen Gewinner der Academy Awards 2013, trägt, ist unübersehbar. Sogar einer der Hauptkritikpunkte, den sich Ang Lees Romanadaption regelmässig anhören musste – dass sie, wie ein früher Tonfilm, ihre Eloquenz verliert, wenn die Stille den Worten weicht –, trifft auf Kon-Tiki zu: Mit dem an sich hehren Ziel, Thor Heyerdahls bahnbrechende transpazifische Flossfahrt mit menschlichem Interesse anzureichern, liessen sich Joachim Rønning und Espen Sandberg (das Duo hinter Bandidas) zu mitunter dubioser künstlerischer Freiheit hinreissen.

Noch herrscht die Zivilisation: die Gruppe um Thor Heyerdahl (Pål Sverre Valheim Hagen, 2.v.l.) vor ihrem Aufbruch.
© dcm
Das zwischenmenschliche Drama, welches sich zwischen den Männern abspielt, wirkt in gewissen Momenten ein wenig zu künstlich, die Spannung zu sehr komponiert; Heyerdahls Kampf um seine Theorie wird auf ein simples Gut-Böse Schema reduziert: die bärtigen, holzbeinigen Abenteurer, die Erben Darwins, gegen die verknöcherten Stubenhocker der elitären National Geographic Society. Die englische Fassung führt stellenweise zu arg gestelzten Dialogen. Auch dramaturgisch ist Kon-Tiki nicht über jeden Zweifel erhaben, zumal sich der Löwenanteil seiner Laufzeit mit den ersten 1500 Kilometern der mehr als viermal so langen Strecke befasst.

Ähnlich wie Life of Pi jedoch ist auch Kon-Tiki ein Film, bei dem die Erwähnung vereinzelter Mängel letztlich Pedanterie gleich kommt. Geschichte werden Rønning und Sandberg mit ihrer Verfilmung eines der grossen Abenteuer der Moderne nicht schreiben, noch vermögen sie Ang Lees religionsphilosophisches Drama qualitativ zu überbieten; doch ist es ihnen gelungen, Heyerdahl ein (fiktionalisiertes) filmisches Denkmal zu setzten, welches den ehrfürchtigen Zuschauer in den Zustand kindlichen Staunens versetzt.

Archaischer Kampf: Ein Hai attackiert das Floss.
© dcm
Daran haben zweifellos Geir Hartly Andreassens Aufnahmen, verfeinert mit eindrücklichen Spezialeffekten, grossen Anteil. Die Entscheidung, Kon-Tiki im Meer statt im Studiotank zu drehen, rechtfertigt sich in jeder Einstellung: Der Pazifik, obwohl auf der Leinwand vertreten durch die Gewässer um Malta, Thailand und die Malediven, wird so zum lebendigen Ozean, wo am Himmel eine echte Sonne strahlt, der Horizont ein realer Horizont ist, wo sich unter der Wasseroberfläche nicht ein Kunststoffboden, sondern wahrhaftiger Meeresgrund befindet. So minim der Unterschied auch sein mag, er ist spürbar.

Doch Kon-Tiki ist mehr als ein Augenschmaus und auch mehr als eine Verneigung vor der Leistung von Thor Heyerdahl, Herman Watzinger (Anders Baasmo Christiansen), Bengt Danielsson (Gustaf Skarsgård), Knut Haugland (Tobias Santelmann), Erik Hesselberg (Odd-Magnus Williamson) und Torstein Raaby (Jakob Oftebro). Das Werk ist ein Plädoyer für Heyerdahls pantheistischen Pioniergeist, eine nostalgische Rückbesinnung auf die Zeit, in der das Mysterium und die Unzähmbarkeit der Erde noch selbstverständlich waren.

Mit sich und der Welt im Reinen: die "Kon-Tiki" auf dem Pazifik.
© dcm
Die Crewmitglieder der "Kon-Tiki" verlassen Peru in Anzug und Krawatte und erreichen das polynesische Raroia-Atoll gebräunt, gekleidet in schmutzigen Fetzen, ausgestattet mit langen, wilden Wikinger-Bärten. Dazwischen haben sie Haie bekämpft, Stürmen getrotzt, bizarre Meeresbewohner beobachtet, einen Walhai bestaunt, ihn attackiert und sich darob Vorwürfe gemacht. Kon-Tiki erzählt die Geschichte vom Menschen und seinem Kampf, seinen Platz in der Natur und seine Einstellung ihr gegenüber zu finden. Die kathartische Lösung dieses Dilemmas, die Erfüllung des unmöglichen Traumes der Menschheit, gewähren Rønning und Sandberg ihren Helden in einer der berückendsten Szenen des Films, einem atemberaubenden CGI-Schwenk über die Erdatmosphäre. Die sechs Skandinavier liegen auf ihrem Floss und konstatieren, mit sich und der Welt im Reinen: "Maybe nature has just accepted us as a part of itself".

★★★★

Freitag, 26. April 2013

I Give It a Year

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Der Londoner Autor Dan Mazer startet seine Regie-Karriere mit dem Versuch, den absurd-feinsinnigen britischen Humor mit seinem roheren amerikanischen Äquivalent zu verbinden. Viel Neues ist dabei nicht entstanden: I Give It a Year entpuppt sich als höchst durchschnittliche Komödie.

Nur sieben Monate, nachdem sie sich kennengelernt haben, beschliessen der Amateur-Schriftsteller Josh (Rafe Spall) und die Karrierefrau Nat (Rose Byrne), sich das Jawort zu geben. Lange währt die traute Glückseligkeit aber nicht: Nach weniger als einem Jahr Ehe sitzen die beiden bereits bei der Paartherapeutin (Olivia Colman) und besprechen ihre Probleme. Während er sich immer stärker zu seiner tollpatschigen Ex-Freundin Chloe (Anna Faris) hingezogen fühlt, scheint sie geheime Gefühle für ihren Geschäftspartner, den reichen Amerikaner Guy (Simon Baker), zu hegen. Kann die Ehe gerettet werden oder bewahrheitet sich die Prophezeihung – "I give it a year" – von Nats Schwester Naomi (Minnie Driver)?

Obwohl die Unterschiede zwischen amerikanischem und britischem Filmhumor längst nicht mehr gravierend sind, haben beide Traditionen bis heute gewisse spezifischen Eigenheiten beibehalten. Noch immer zeichnen sich Briten durch ihren Hang zur mitunter gesellschaftskritischen Ironie aus, während in Amerika die physische Komödie und der Witz an sich – und nicht seine Implikation – weiterhin gross geschrieben werden. Die Idee, diese beiden Philosophien miteinander zu verschmelzen, ist zwar nicht neu – man denke an Grosserfolge wie Four Weddings and a Funeral, Death at a Funeral oder die von Dan Mazer selbst verfassten Anarcho-Mockumentarys Borat und Brüno –, wurde aber selten zuvor dermassen explizit wie in I Give It a Year verfolgt.

Es ist also kein Zufall, dass der Film mit der Hochzeit eines Engländers und einer Amerikanerin beginnt, von der Beziehungskrise des neuen Paares handelt und mit einer ebenso internationalen Ménage à quatre endet. Dabei beginnt das Zusammenspiel der humoristischen Kulturen bereits in der ersten Sequenz, in welcher Mazer bewusst das Happy End anderer Liebeskomödien an den Anfang stellt: Dem im entscheidenden Moment ein Hustenanfall ereilenden Pfarrer – eine klare Verneigung vor Rowan Atkinsons Auftritt in Four Weddings and a Funeral – folgt eine lange, zotige, keine Peinlichkeit auslassende Rede von Joshs Freund Danny (Stephen Merchant).

Josh (Rafe Spall, r.) verliebt sich in Chloe (Anna Faris, 2.v.l.), während seine Frau Nat (Rose Byrne) ein Auge auf Guy (Simon Baker) wirft.
© Rialto Film AG
Überraschenderweise ist aber nicht eine allfällige Disharmonie zwischen den beiden Methoden, sondern schlicht ein schwaches Drehbuch das Problem von I Give It a Year. Manche Witze, ob subtil oder überzogen, mögen funktionieren; andere können dank des komödiantischen Flairs eines Schauspielers überzeugen, wobei sich das Mitwirken Stephen Merchants als besonders willkommen erweist; viele verpuffen jedoch schon im Ansatz. Zwar ist Mazers Humor lange nicht so beleidigend wie der eines Judd Apatow, dessen Stil hier leider allzu oft zitiert und imitiert wird; dafür zehrt die Abwesenheit einer ansprechenden Geschichte und nachvollziehbarer Protagonisten an der Qualität des Projekts: Von der sympathischen Chloe und dem pathologisch unverschämten Danny abgesehen, ist es schwierig, sich für eine der mal egoistischen, mal nörgelnden, mal langweiligen Figuren zu erwärmen.

So unterhält I Give It a Year zwar leidlich; zu befriedigen vermag er aber keineswegs. Als Zuschauer verbringt man seine Zeit im Kinosessel nicht damit, der Handlung zu folgen, sondern geduldig auf den nächsten gelungenen Witz zu warten. Die Kunst einer guten Komödie bestünde darin, diese Zwischenräume zu füllen.

★★

Donnerstag, 18. April 2013

Oblivion

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Abseits der etablierten Franchisen und Serien sucht man derzeit vergeblich nach originellen Beiträgen zum Science-Fiction-Format. Oblivion ist der neueste Versuch, die Lage zu verbessern. Doch die hoch ästhetische Endzeit-Fantasie ist kaum mehr als eine geistlose Sammlung von Genre-Versatzstücken.

2077: 60 Jahre, nachdem die Erde von einer ausserirdischen Macht angegriffen wurde, hat sich das Leben auf dem blauen Planeten radikal verändert. Die strategische Zerstörung des Mondes führte zu riesigen Verwüstungen, der Atomkrieg gegen die Aggressoren, welche "Scavs" genannt werden, hat weite Teile der Erdoberfläche unbewohnbar gemacht. Zwar hat die Menschheit den Kampf gewonnen, doch die Überlebenden sahen sich gezwungen, auf den Saturnmond Titan umzusiedeln, während die verbliebenen Scavs den Erdboden unsicher machen und Sicherheitsdrohnen abschiessen. Übrig sind einzig die Techniker Jack Harper (Tom Cruise) und Victoria (Andrea Riseborough), die in einer Wohnung hoch über den Wolken leben und für die Reparatur der Drohnen zuständig sind. Eines Tages beobachtet Jack den Absturz eines alten Raumschiffs und schafft es, eine Überlebende aus dem Wrack zu bergen. Ihr Name ist Julia (Olga Kurylenko) und zu seiner Überraschung erkennt Jack in ihr die Frau, von welcher er jede Nacht träumt. Er beginnt, sich über den wahren Sinn seiner Mission Gedanken zu machen.

Die Welt, die Regisseur Joseph Kosinski (Tron: Legacy) in Oblivion, der Verfilmung seines eigenen unveröffentlichten Comicromans (Graphic Novel), aus dem Hut zaubert, ist beileibe keine einfache: Zu den ohnehin schon komplizierten Regeln und Machtverhältnissen, welche auf und über der postapokalyptischen Erde herrschen, gesellen sich ärgerliche Ungereimtheiten physikalischer wie dramaturgischer Natur: Warum Jack Harper in mehreren tausend Metern Höhe im Unterhemd die frische Luft geniessen kann, könnte man sich fragen. Ebenso, wieso seine eigentlich loyale Partnerin Victoria aus purer Eifersucht ihr eigenes Leben sowie jenes zweier anderer Menschen aufs Spiel setzt. Nur die wenigsten dieser Probleme werden mit der unvermeidlichen "überraschenden" Wendung aus der Welt erklärt.

Postapokalyptischer Abschleppdienst: Jack (Tom Cruise) repariert auf der verwüsteten Erde bruchgelandete Drohnen.
© Universal Pictures Switzerland
Eingebettet ist das Ganze in eine unnötig verschachtelte, in Sachen Figurenmotivation immer wieder von Neuem frustrierende Handlung, welche allzu oft den Anschein einer Zusammenstellung der beliebtesten Topoi aus dem reichen Science-Fiction-Kanon macht, ausgeschmückt mit Filmanspielungen, welche dem plumpen Plagiat definitiv näher sind als der ehrerbietenden Verneigung. Der Auftrag des gelangweilt wirkenden Tom Cruise ähnelt demjenigen des Roboters WALL-E im gleichnamigen Pixar-Animationsfilm, seine mit diesem Lebensinhalt verbundene Existenzkrise deckt sich mit derjenigen Sam Rockwells in Duncan Jones' Weltraum-Kammerspiel Moon. Als er dem Anführer (Morgan Freeman, der auch auf schauspielerischem Autopilot die charismatischste Persönlichkeit des Films ist) einer mysteriösen Guerilla-Gruppierung vorgeführt wird, liegen die Erinnerungen an Laurence Fishburne in The Matrix nicht weit. Steht er endlich der ausserirdischen Intelligenz gegenüber, beschwört Kosinski unverkennbar den Geist von 2001: A Space Odyssey.

Vielleicht am nächsten liegt Oblivion aber Prometheus: Wie Ridley Scotts Alien-Prequel, vermag auch er, von unbestritten spannenden Ansätzen abgesehen (das überhastete Ende trägt sogar Züge des Prometheus-Mythos), inhaltlich niemals zu überzeugen und bleibt einzig dadurch in Erinnerung, dass er seine prätentiös vorgetragene Leere ordentlich zu bebildern weiss. Zwar hat auch Kameramann Claudio Miranda (Life of Pi) schon bessere Arbeiten abgeliefert, doch seine berückenden Aufnahmen genügen, um den Rest von Oblivion verblassen zu lassen.

★★

Dienstag, 16. April 2013

Wadjda

In Saudi Arabien dürfen Frauen weder wählen noch Auto fahren; der Graben zwischen den Geschlechtern ist im Wüstenstaat so hoch wie in kaum einem anderen Land. Und nun betritt das Königreich, in dem Kinos lange Jahre gänzlich verboten waren, die internationale Kulturbühne mit Wadjda, dem ersten komplett in Saudi Arabien gedrehten Film. Regie führte eine Frau.

Der Weg zur Premiere im August vergangenen Jahres war allerdings ein steiniger. Fünf Jahre dauerten die Dreharbeiten, welche Regisseurin Haifaa al-Mansour oft aus dem Innern eines Autos führen musste, da das Gesetz es ihr verbietet, sich öffentlich mit ihren männlichen Crew-Kollegen auszutauschen. Unterstützt von deutschen Investoren sowie der Produktionsfirma eines saudischen Prinzen, ist es ihr nun aber gelungen, ihre am Neorealismus eines Vittorio De Sica oder eines Jafar Panahi ausgerichtete Coming-of-Age-Geschichte zu vollenden und einem internationalen Publikum vorzuführen.

Im Zentrum der Erzählung steht die elfjährige Wadjda (Waad Mohammed), welche der klassischen Vorstellung einer wohlerzogenen jungen Muslimin so gar nicht entspricht. In der Mädchenschule sorgen neben ihrem fehlenden Enthusiasmus für den Koran auch ihre violetten Converse-Schuhe für Irritation; nachmittags treibt sie sich mit dem gleichaltrigen Abdullah (Abdullrahman Algohani) in der Nachbarschaft herum. Wadjdas grösster Wunsch ist es, ein Fahrrad zu besitzen, sodass sie mit Abdullah um die Wette fahren kann. Von der Tatsache abgesehen, dass ihr dies gesetzlich nicht gestattet ist, hindern sie auch ihre finanziellen Mittel daran, sich diesen Traum zu erfüllen: Der Krämer um die Ecke verlangt 800 Rial für ein neu geliefertes Rad. Hoffnung kommt von unerwarteter Seite: Wadjdas Schule veranstaltet einen Koran-Vortrag-Wettbewerb, der mit 1000 Rial dotiert ist.

Hat ein Film im Produktionsprozess mit dermassen vielen Widrigkeiten zu kämpfen wie Haifaa al-Mansours erster Spielfilm – ein kinofeindliches Land, diskriminierende Gesetze, ein erschwerter Dreh –, wird gerne der beachtliche Schaffensprozess mit cineastischer Qualität gleichgesetzt. Von einem "perfekten" Film war im Vorfeld von Wadjda zu lesen; ein "Meisterwerk" sei al-Mansour gelungen. Realistisch betrachtet, ist es aber vermessen, den Film mit derartigen Superlativen zu überhäufen. Zu distanziert wird die Geschichte vorgetragen, zu gestelzt verläuft die Handlung, zu hölzern wirken gewisse Nebendarsteller, zu plakativ werden die antagonistischen Figuren dargestellt.

Das Objekt der Begierde: Wadjda (Waad Mohammed) betrachtet das neue Fahrrad im Laden.
© Praesens Film
Dennoch ist Wadjda ein lebhaftes Psychogramm des modernen Nahen Ostens, ein vorsichtig optimitisches Porträt einer Gesellschaft, in der die rigide sozioreligiöse Tradition von einer jungen Generation herausgefordert wird, die mit Beats-Kopfhörern englischsprachiges Pop-Radio hört, T-Shirts mit frechen Sprüchen unter der Burka trägt, dem eigenen Vater, der eifrig auf Zweitbrautschau ist, eine Lektion in Sachen Ballerspiele erteilt, und in der Schule selbstgemachte Armbänder für Fussballfans unter der Hand verkauft. Während der Stunde herrscht der Koran, während der Pause der kapitalistische Geschäftssinn.

Dabei erweist sich Hauptdarstellerin Waad Mohammed als al-Manosurs grösster Aktivposten. Ihre blitzgescheite, geradlinige Wadjda – eine der lebendigsten Kreationen des jüngeren Weltkinos –, obwohl eindeutig geprägt von den Kindern des italienischen Neorealismo (Franco Interlenghi und Rinaldo Smordoni in Sciuscià, Enzo Staiola in Ladri di biciclette, Alfonsino Pasca in Paisà), scheint sie ebenso eine Nachfahrin von Erich Kästners Mädchenfiguren zu sein. Als solche, als geistige Erbin von Luise "Pünktchen" Pogge und Luise Palfy, hinterfragt sie Regeln, welche ihre einerseits durchaus modernen, andererseits aber tief in der Tradition verwurzelten Eltern (Sultan Al Assaf, Reem Abdullah) längst als unverrückbare Absolute akzeptiert haben. Mit hartnäckiger, ja naiver, Sturheit wehrt sich Wadjda gegen die Normen: Als sie erfährt, dass auf ihrem Familienstammbaum nur die Männer einen Platz bekommen, heftet sie ihren Namen auf die Leinwand; ohne Rücksicht auf das Gesetz marschiert sie in den Krämerladen, um den Besitzer daran zu erinnern, dass das Fahrrad für sie reserviert ist.

Schrumpfender Geschlechtergraben? Wadjda wird vom gleichaltrigen Abdullah (Abdullrahman Algohani) bei ihrem Vorhaben unterstützt.
© Praesens Film
Den Gipfel der eben nur scheinbar sanften Subversion erreicht Wadjda mit dem allzu spät eingeführten Handlungsstrang des Koran-Wettstreits, wobei der Machtanspruch der Religion genüsslich ad absurdum geführt wird. Während ihre Lesezirkel-Kameradinnen wenigstens einigermassen religiös motiviert zu sein scheinen, tritt Wadjda nicht an, um den Propheten Mohammed zu ehren, sondern um Geld zu verdienen, um ihr eigenes Leben gestalten zu können, um die im Namen dieses Buches aufgestellten Regeln zu brechen. Und als ihr al-Mansour schlussendlich, nach zahlreichen Wirrungen und Enttäuschungen, in einer einfachen, aber eloquenten Schlusseinstellung, ihren Wunsch gewährt, radelt sie davon, unbeachtet von den von Männern gelenkten Autos um sie herum. Niemand hält an, niemand massregelt sie, niemand scheint sie als Problem wahrzunehmen. Ein Mädchen fährt Rad – und die arabische Gesellschaft steht noch.

★★★

Sonntag, 14. April 2013

Paul Bowles: The Cage Door Is Always Open

© Look Now!

★★★

Other films demystify their subject before carving them into a monument. The Cage Door Is Always Open on the other hand, accomplishes the amazing feat of having its audience leave the thatre irrationally doubting the existence of Paul Bowles, wondering whether this was the director’s intention. It may not be a great film, nor a great documentary, but it certainly makes for animated viewing.

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).

Donnerstag, 11. April 2013

Laurence Anyways

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Obwohl erst 24 Jahre alt, gehört der Québécois Xavier Dolan bereits zu den international bekanntesten frankokanadischen Regisseuren. Auch in seinem dritten Film, Laurence Anyways, einem epischen Beziehungsdrama um Identität und Geschlechtergrenzen, erweist er sich als virtuoser Künstler.

1987 lernen sich die Werbefilmerin Frédérique "Fred" Belair (Suzanne Clément) und der Lehrer Laurence Alia (Melvil Poupaud) kennen und führen zwei Jahre lang eine leidenschaftliche, glückliche Beziehung. Dann jedoch, kurz nach seinem 35. Geburtstag, gesteht Laurence seiner Freundin, dass er sich seit seiner Kindheit eine Geschlechtsumwandlung wünscht, dass er sich fühlt wie eine Frau, gefangen in einem männlichen Körper. Nachdem sie den anfänglichen Schock überwunden hat, entschliesst sich Fred, Laurence treu zu bleiben und sie auf ihrem Weg zu unterstützen. Doch mit den Jahren entsteht ein stetig wachsender Graben zwischen den beiden.

Laurence Anyways ist das ambitionierte Opus magnum eines stürmenden und drängenden Jungfilmers, eines vielversprechenden Auteurs, der seine Stimme gefunden hat: selbstgerecht, überbordend, unvollkommen, überwältigend. Unterstützt von einem dröhnenden Soundtrack, der Brahms, Mahler und Beethoven auf Duran Duran, The Cure, Depeche Mode und Kim Carnes' "Bette Davis Eyes" prallen lässt, kreiert Xavier Dolan (J'ai tué ma mèreLes amours imaginaires) eine faszinierende Ästhetik: Laurence, die "Queer", ist verloren in einer "straighten" Welt, wo die kargen Bilderwelten des späteren Stanley Kubrick vorherrschen – schnurgerade, senkrechte Linien, durch das Weitwinkel-Objektiv ins Extreme verlängert. Immer wieder jedoch verabschiedet sich Dolan von dieser gestrengen Vision und emuliert den bizarr überkandidelten Pomp, die melancholische Dekadenz von François Ozons 8 femmes, Terry Gilliams Brazil, Luchino Viscontis Il gattopardo und der Romane Bret Easton Ellis'.

Die Frau im Manne: Laurence (Melvil Poupaud) ist eine Verlorene in einer heteronormativen Welt.
© filmcoopi

Mit ähnlichem Furor geht Dolan auch seine Geschichte an. Laurence Anyways ist gleichermassen ein Angriff auf die heteronormative Gesellschaft und ein melodramatisches Porträt zweier Opfer derselben. Hier aber falliert der Film, da es ihm nicht gelingt, diese (mit ihrer 165-minütigen Laufzeit deutlich zu lange) Story überzeugend aufzuziehen. Trotz bewundernswerter Leistungen von Suzanne Clément und Melvil Poupaud, dessen dezente Wandlungsfähigkeit stark an die Darbietungen Denis Lavants unter Leos Carax erinnert, bleiben Fred und Laurence – man bemerke die androgyne Namensgebung – als Figuren stets unklar umrissene Konstrukte. Entsprechend fehlt dem Film die emotionale Zugkraft; der Einblick in die desillusionierte Psyche eines Transsexuellen erzielt nicht die gewollte Wirkung; die Auseinandersetzung mit "Normativen" und Aussenseitern ist nicht vollauf realisiert.

Dem Film aber vorzuwerfen, er kaschiere mit seiner ästhetischen Virtuosität die eigene Bedeutungslosigkeit, würde der Wahrheit nicht gerecht. Laurence Anyways ist ein durchdachtes Stück "Queer Cinema", dem einzig ein eindeutiges Motiv zum Erfolg zu fehlen scheint. Xavier Dolan ist ohne Zweifel ein aussergewöhnlicher Stilist mit einer beeindruckenden Vision – aber vorerst noch ohne klare Botschaft.

★★★

Sonntag, 7. April 2013

Le magasin des suicides

Habe keine Angst davor, deinen Horizont zu erweitern. Diesen Satz hat sich der arrivierte französische Regisseur Patrice Leconte (Le mari de la coiffeuse) für sein neues Projekt sichtlich zu Herzen genommen. Le magasin des suicides ist Lecontes erster Animationsfilm und passt mit seiner schwarzhumorigen Behandlung von Krise und Existenzangst perfekt in den Zeitgeist – möchte man meinen. Leider aber verfehlt die Buchverfilmung ihr Ziel komplett.

Rund um den Laden der Familie Tuvache herrscht Tristesse. Reihenweise stürzen sich Menschen aus Fenstern, lassen sich von Lastwagen überrollen, knüpfen sich an Stricken auf. Doch die Tuvaches freuen sich unbändig über die deprimierende Umweltverschmutzung, die Hiobsbotschaften in den Nachrichten und die beunruhigende Wirtschaftslage, denn sie führen ein Fachgeschäft für Selbstmordzubehör: Vater Mishima (benannt nach dem japanischen Autor Yukio Mishima; Stimme: Bernard Alane) und Mutter Lucrèce (Isabelle Spade) beraten die geschätzte Kundschaft, während ihre missmutigen Kinder Vincent (Vincent Van Gogh; Stimme: Laurent Gendron) und Marilyn (Marilyn Monroe; Stimme: Isabelle Giami) sicherstellen, dass diese ihren Einkauf fachgerecht zur Anwendung bringt. Als jedoch der kleine Alan (Kacey Mottet Klein) geboren wird, droht dem Familienunternehmen der Untergang: Das Kind ist eine wahre Frohnatur und entschlossen, den Menschen Freude zu bereiten.

Manch eine Inhaltsangabe von Patrice Lecontes 27. Regiearbeit, einschliesslich die vorliegende, ist eigentlich viel zu ausführlich. Le magasin des suicides mag zwar nur bescheidene 79 Minuten dauern, doch zwischen Vor- und Abspann spielt sich weitaus weniger Plot ab, als eine Zusammenfassung suggeriert. Lecontes Adaption von Jean Teulés gleichnamigem Erfolgsroman aus dem Jahr 2006 wird von einer hauchdünnen Kurzfilm-Handlung getragen, in deren Namen gleichförmige Dialogszenen, schwache Running Gags und platte, übertrieben lange Musiknummern ad nauseam aneinander gereiht werden.

Händler des Todes: die Familie Tuvache.
© Frenetic Films
Mit dem dringenden Wunsch, morbid und sardonisch ("burtonesk") zu wirken, werden verschiedene Arten des Suizids in einer gefühlten Endlosschlaufe vorgestellt und besungen: Gleich mehrere Lieder lobpreisen Gift, Strick und Pistole samt ihrem positiven Effekt auf den Geldbeutel der Familie Tuvache. Auch lässt sich kaum zählen, wie oft Lucrèce einen unentschlossenen Kunden zu einer Gifttinktur überreden will, wie viele Male Mishima innerhalb einer Szene ob der Fröhlichkeit seines jüngsten Sohnes die Augen verdreht. Die hinterhältig kindliche Animation, welche sich offenkundig an den Werken Sylvain Chomets (Les Triplettes de Belleville, L'illusionniste) orientiert, die rabenschwarze Thematik sowie die überraschend hohe Altersbeschränkung des Films zeigt die Ambition Lecontes, eine animierte Satire für Erwachsene zu bewerkstelligen. Die unablässige Wiederholung des ewig Gleichen hingegen scheint aber eher auf die besonders herablassende Behandlung eines minderjährigen Publikums hinzudeuten.

Doch Leconte belässt es leider nicht dabei, seine unbestritten fantasievolle Vision an einer dermassen uninspirierten Möchtegern-Satire zu verschwenden. Spätestens als Alan seine Schwester mit einem Geburtstagsgeschenk dazu bewegt, sich in der vermeintlichen Privatsphäre ihres Zimmers einem nackten Bauchtanz hinzugeben, beobachtet von Alan und seinen Freunden, betritt Le magasin des suicides nämlich auch die Gefilde des Scham- und Geschmacklosen. Dies ist weit mehr als nur ein weiteres Beispiel für die ohnehin allen Figuren abgehende Motivation; es ist eine verstörende Szene, die Alan plötzlich vom Sockel des hehren Protagonisten und in die Richtung eines inzestuös veranlagten Kindes stösst. Gewollt ist dies, gemessen am lockeren Tonfall der Szene, vermutlich nicht. Vielmehr ist es der letzte Nagel im Sargdeckel eines zutiefst verwirrten Films.

Donnerstag, 4. April 2013

A Late Quartet

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Yaron Zilberman inszeniert sein Spielfilmdebüt, ein Drama um die Existenzkrise eines Streichquartetts, mit der Präzision eines Musikvirtuosen. Dennoch wirkt der primär von seinen prominenten Hauptdarstellern getragene A Late Quartet wie eine verpasste Chance.

25 Jahre ist es her, seit der Musikprofessor und Cellist Peter Mitchell (Christopher Walken) den begabten Jung-Violinisten Daniel Lerner (Mark Ivanir) gebeten hat, mit ihm das Fugue String Quartet zu gründen. Um das Jubiläum gebührend zu feiern, nimmt sich die inzwischen weltberühmte Truppe für die kommende Tournee Beethovens 14. Streichquartett vor. Während der Proben wird bei Peter Parkinson im Frühstadium diagnostiziert. Zwar kann der Verlauf der Krankheit mit Medikamenten verlangsamt werden; da er jedoch seine Karriere so oder so nicht mehr lange verfolgen kann, entschliesst sich Peter dazu, das Konzert zur Saisoneröffnung zu seinem Abschiedsauftritt zu erklären. Diese Hiobsbotschaft führt zu Spannungen innerhalb von "The Fugue": Robert Gelbart (Philip Seymour Hoffman, stark wie gewohnt) ist es leid, zweite Geige zu spielen und verkracht sich deshalb mit Daniel, der daraufhin Hilfe bei Roberts Ehefrau Juliette (Catherine Keener), der Bratschenspielerin des Quartetts, sucht. Zudem wirft er ein Auge auf Alexandra (farblos: Imogen Poots), die erwachsene Tochter der Gelbarts.

Übereinstimmend mit dem Thema seiner ersten narrativen Regiearbeit, ordnet der Israel-Amerikaner Yaron Zilberman die von ihm und Seth Grossman entworfene Handlung fast gänzlich der Musik unter. Nicht nur verwandeln sich so einfachste Alltagstätigkeiten – elegantestes Beispiel: Roberts Kaffeezubereitung – dank klassischer Musikuntermalung (Beethoven, Haydn, Bach, Korngold) in rhythmische kleine Vignetten; auch das Motiv des Films wird am zentralen Musikstück, Beethovens siebensätziges Streichquartett Nr. 14 in cis-Moll op. 131, ausgerichtet: Nach Anweisung des Komponisten solle das ungewöhnlich lange Werk "attacca", ohne Pause, gespielt werden, sodass mit fortlaufender Konzertdauer die einzelnen Instrumente sukzessive verstimmen, alle auf ihre eigene Art und Weise. "Wollte der Künstler", fragt Peter, "etwa auf einen Zusammenhang hindeuten, auf eine Einheit zwischen den zufälligen Begebenheiten des Lebens?" Lohnt es sich überhaupt, sich stets neu auszurichten, wenn jeder Mensch, wie sein Instrument, unweigerlich "verstimmen" wird?

Das Fugue String Quartet (v.l.): Daniel (Mark Ivanir), Robert (Philip Seymour Hoffman), Peter (Christopher Walken) und Juliette (Catherine Keener).
© Pathé Films AG
Um diese enge Beziehung zwischen dem Leben und der Kunst zu illustrieren, schicken Zilberman und Grossman ihre Figuren auf eine tiefgreifende Sinnsuche, die schlussendlich auf ein feinsinniges und berührendes Finale hinausläuft. Leider aber wirken die beiden Autoren gerade in Bezug auf die für die Geschichte so wichtigen Verstimmungen etwas wankelmütig. Während Peters Krankheit, nicht zuletzt dank des überragenden Christopher Walken der emotional resonanteste Teil des Films, immer mehr zur Nebensache verblasst, rücken die eher eindimensionalen, mitunter komödiantisch angehauchten Liebeleien von Robert, Juliette und Daniel in den Vordergrund, welche stellenweise doch sehr an die weniger gelungenen Werke Woody Allens erinnern.

So stolpert die souveräne Inszenierung letztlich über einen unsteten Inhalt. Dass A Late Quartet an diesem beträchtlichen Defizit nicht zerbricht, beweist einmal mehr den Wert überzeugender Schauspieler.

★★★

Dienstag, 2. April 2013

Children of Sarajevo

Nach Jahren des Krieges, der Misswirtschaft und der innerlichen Zerrüttung kämpft sich Bosnien und Herzegowina aus seinen zahlreichen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Krisen. Mit ihrem neuen Film erweist sich die 36-jährige Aida Begić als kritische Chronistin dieser mühevollen Entwicklung. Children of Sarajevo zeigt ein widersprüchliches Land, gefangen in einer anhaltenden Nachkriegsmentalität.

Ein junger Mann und eine junge Frau schmücken in einem schicken Restaurant in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo einen kleinen Weihnachtsbaum mit Lametta und Kunststoffkugeln. Eine etwas ältere, vornehmer gekleidete Dame tritt hinzu und herrscht die beiden an: Ob sie eigentlich nicht gelernt hätten, dass man den Baum nicht von unten nach oben schmückt, dass sie besonders von ihm, einem Katholiken, zumindest dieses Mass an Intelligenz erwartet hätte. "Wir waren eben im Krieg", so die junge Frau. Sie heisst Rahima (Marija Pikić), ist 23 Jahre alt, bekennende Muslimin, arbeitet als Küchengehilfin im Restaurant und weist mit ihrer Aussage auf eine der vielen Widersprüchlichkeiten im modernen Bosnien hin: Anders als im Westen Europas ist es hier die junge Generation, die mit Schiessereien, Bombardierungen und Massakern aufgewachsen ist. Seit ihre Eltern in besagtem Krieg ums Leben gekommen sind, kümmert sie sich um ihren jüngeren Bruder Nedim (Ismir Gagula), der ihr ihre Bemühungen damit "dankt", regelmässig die Schule zu schwänzen und sich mit zwielichtigen Gestalten herumzutreiben.

Und doch muss Rahima damit leben, dass ihr Alltag von den Behörden als weniger erstrebenswert erachtet wird als der ihres Bruders: "Du machst es besser als deine Schwester", loben ihn zwei Polizisten, als sie Rahima auf Grund der Falschaussage eines Regierungsoffiziellen einen Besuch abstatten. "Das ist unverantwortlich", wird sie von einer Steuerbeamtin getadelt, als sie dieser beichtet, sie habe wegen ihrer Arbeit nicht genug Zeit aufbringen können, den diabetischen Nedim zur Arztkontrolle zu bringen. Ihr Beruf macht sie zu einer Unberührbaren: Ihr Chef verweigert ihr den Lohnausweis; sucht sie das Gespräch mit einem besser gestellten Mann, wird sie umgehend mit der Entschuldigung abgewimmelt, er trage gerade kein Kleingeld bei sich.

Doch in einem weiteren Widerspruch scheint sich Rahima nirgends so heimisch zu fühlen wie in der Küche ihrer verhassten Arbeitsstelle. Dort lebt sie mit ihren zynischen Leidensgenossen ein beinahe utopisches Leben; nirgendwo sonst lacht sie so befreit wie unter ihren Kollegen. Hier scheinen religiöse Vorurteile und alte Konflikte vergessen zu sein; hier schmunzelt die Muslimin über den ungeschickten katholischen Laufburschen, unterhält den offen homosexuellen Koch, indem sie mit dem Kopf eines Schafs Hamlets berühmten Monolog nachspricht. Und doch bereitet ihr auch ihre Religion Kopfschmerzen: Zwar schreibt sie ihren Wandel vom wilden Teenager zur verantwortungsbewussten Frau ihrem Glauben zu, doch selbst enge Freunde sind von ihrem Kopftuch verunsichert, während sie selbst von Lynch'schen Albträumen heimgesucht wird, in denen sie einer körperlosen, spiegelgesichtigen Burka nachjagt.

Ungleiche Geschwister: die Waisen Nedim (Ismir Gagula) und Rahima (Marija Pikić).
© trigon-film
Es ist nicht zuletzt diese Verbindung des Religiösen mit dem Gesellschaftlichen, die Begić in der Nähe von Ken Loach situiert. Wie der Katholizismus in Raining Stones wird hier der Islam zur zweifelhaften Stütze der unteren Schichten: Obwohl er dabei helfen kann, das Strassenelend hinter sich zu lassen, muss man sich fragen, ob er, nachdem dieser Schritt vollzogen worden ist, immer noch vonnöten ist. Allerdings teilt Children of Sarajevo dieses Motiv, wie auch seine ästhetische Präsentation – vorab Handkamera und Plansequenzen –, mit den Filmen Asghar Farhadis oder jenen des italienischen Neorealismus.

Die spezifische Verwandschaft zu Loach wird erst durch Begićs Porträt der bosnischen Arbeiterklasse und deren Beziehung zu ihren Oberen offensichtlich. Children of Sarajevo ist geprägt von einem tiefen Misstrauen gegenüber der Privatwirtschaft, die einmal direkt als Grund für Bosniens wirtschaftliche Misere genannt wird, sowie jenen, welche masslos von ihr profitieren; jenen, die in der Regierung die Fäden ziehen, im Namen der Armen Politik machen, sich aber hinter dicken Autotüren und in von bewaffneten Wachen geschützten Häusern vor ihnen verstecken. In seinen mutigsten Momenten bemüht der Film sogar Loach'sche Polemik: Mit einem geringfügig umformulierten "Arbeit macht frei" kommentiert eine Figur die angeblichen Möglichkeiten des Kapitalismus.

Rahima arbeitet Überstunden, um sich und Nedim ernähren zu können.
© trigon-film
Man kann Aida Begić vorwerfen, dass ihre Dramaturgie unter dem komplexen Subtext leidet. Mitunter ist es allzu einfach, hinter den einzelnen Stationen der Handlung die lenkende Hand der Autorin zu sehen, die emotionale Reise von Rahima und Nedim als Parabel zu erkennen. Als solche ist der Geschichte ihre Wucht aber nicht abzusprechen. Veranschaulicht wird diese Aussagekraft durch jene Szenen, zwischen welchen der ganze Film eingespannt ist.

Die erste zeigt eine mit einer Videokamera aufgenommene Gruppe von nervös spielenden Kindern, während draussen Schiessgefechte und detonierende Bomben zu hören sind. In der Schlussszene von Djeca, "Kinder", so der bosnische Originaltitel, fallen sich Rahima und Nedim in die Arme; als ein Silvester-Feuerwerk losbricht, gehen die ungleichen Geschwister reflexartig in Deckung, lachen über ihren Irrtum und machen sich auf den Heimweg. Beide Szenen sind mit Beethovens eigentlich viel zu friedvoller Pastoralsinfonie unterlegt; beide sagen viel über das moderne Bosnien aus: Im Krieg wurde mit viel Lärm um die Zukunft gekämpft, heute wird mit ebenso viel Lärm die erstarrte Gegenwart gefeiert. Der Kampf hat sich von aussen nach innen verlagert. Nun liegt die Hoffnung auf der desillusionierten, traumatisierten Jugend.

★★★★