Der Weg zur Premiere im August vergangenen Jahres war allerdings ein
steiniger. Fünf Jahre dauerten die Dreharbeiten, welche Regisseurin
Haifaa al-Mansour oft aus dem Innern eines Autos führen musste, da
das Gesetz es ihr verbietet, sich öffentlich mit ihren männlichen
Crew-Kollegen auszutauschen. Unterstützt von deutschen Investoren
sowie der Produktionsfirma eines saudischen Prinzen, ist es ihr nun
aber gelungen, ihre am Neorealismus eines Vittorio De Sica oder eines
Jafar Panahi ausgerichtete Coming-of-Age-Geschichte zu vollenden und
einem internationalen Publikum vorzuführen.
Im Zentrum der Erzählung steht die elfjährige Wadjda (Waad
Mohammed), welche der klassischen Vorstellung einer wohlerzogenen
jungen Muslimin so gar nicht entspricht. In der Mädchenschule sorgen
neben ihrem fehlenden Enthusiasmus für den Koran auch ihre violetten
Converse-Schuhe für Irritation; nachmittags treibt sie sich mit dem
gleichaltrigen Abdullah (Abdullrahman Algohani) in der Nachbarschaft
herum. Wadjdas grösster Wunsch ist es, ein Fahrrad zu besitzen,
sodass sie mit Abdullah um die Wette fahren kann. Von der Tatsache
abgesehen, dass ihr dies gesetzlich nicht gestattet ist, hindern sie
auch ihre finanziellen Mittel daran, sich diesen Traum zu erfüllen:
Der Krämer um die Ecke verlangt 800 Rial für ein neu geliefertes
Rad. Hoffnung kommt von unerwarteter Seite: Wadjdas Schule
veranstaltet einen Koran-Vortrag-Wettbewerb, der mit 1000 Rial
dotiert ist.
Hat
ein Film im Produktionsprozess mit dermassen vielen Widrigkeiten zu
kämpfen wie Haifaa al-Mansours erster Spielfilm – ein
kinofeindliches Land, diskriminierende Gesetze, ein erschwerter Dreh
–, wird gerne der beachtliche Schaffensprozess mit cineastischer
Qualität gleichgesetzt. Von einem "perfekten" Film war im
Vorfeld von Wadjda zu
lesen; ein "Meisterwerk" sei al-Mansour gelungen.
Realistisch betrachtet, ist es aber vermessen, den Film mit
derartigen Superlativen zu überhäufen. Zu distanziert wird die
Geschichte vorgetragen, zu gestelzt verläuft die Handlung, zu
hölzern wirken gewisse Nebendarsteller, zu plakativ werden die
antagonistischen Figuren dargestellt.
Das Objekt der Begierde: Wadjda (Waad Mohammed) betrachtet das neue Fahrrad im Laden. © Praesens Film |
Dennoch
ist Wadjda ein
lebhaftes Psychogramm des modernen Nahen Ostens, ein vorsichtig
optimitisches Porträt einer Gesellschaft, in der die rigide
sozioreligiöse Tradition von einer jungen Generation herausgefordert
wird, die mit Beats-Kopfhörern englischsprachiges Pop-Radio hört,
T-Shirts mit frechen Sprüchen unter der Burka trägt, dem eigenen
Vater, der eifrig auf Zweitbrautschau ist, eine Lektion in Sachen
Ballerspiele erteilt, und in der Schule selbstgemachte Armbänder für
Fussballfans unter der Hand verkauft. Während der Stunde herrscht
der Koran, während der Pause der kapitalistische Geschäftssinn.
Dabei
erweist sich Hauptdarstellerin Waad Mohammed als al-Manosurs grösster
Aktivposten. Ihre blitzgescheite, geradlinige Wadjda – eine der
lebendigsten Kreationen des jüngeren Weltkinos –, obwohl eindeutig
geprägt von den Kindern des italienischen Neorealismo (Franco
Interlenghi und Rinaldo Smordoni in Sciuscià,
Enzo Staiola in Ladri di biciclette,
Alfonsino Pasca in Paisà),
scheint sie ebenso eine Nachfahrin von Erich Kästners Mädchenfiguren
zu sein. Als solche, als geistige Erbin von Luise "Pünktchen"
Pogge und Luise Palfy, hinterfragt sie Regeln, welche ihre einerseits
durchaus modernen, andererseits aber tief in der Tradition
verwurzelten Eltern (Sultan Al Assaf, Reem Abdullah) längst als
unverrückbare Absolute akzeptiert haben. Mit hartnäckiger, ja
naiver, Sturheit wehrt sich Wadjda gegen die Normen: Als sie erfährt,
dass auf ihrem Familienstammbaum nur die Männer einen Platz
bekommen, heftet sie ihren Namen auf die Leinwand; ohne Rücksicht
auf das Gesetz marschiert sie in den Krämerladen, um den Besitzer
daran zu erinnern, dass das Fahrrad für sie reserviert ist.
Schrumpfender Geschlechtergraben? Wadjda wird vom gleichaltrigen Abdullah (Abdullrahman Algohani) bei ihrem Vorhaben unterstützt. © Praesens Film |
Den
Gipfel der eben nur scheinbar sanften Subversion erreicht Wadjda
mit dem allzu spät eingeführten Handlungsstrang des
Koran-Wettstreits, wobei der Machtanspruch der Religion genüsslich
ad absurdum geführt wird. Während ihre Lesezirkel-Kameradinnen
wenigstens einigermassen religiös motiviert zu sein scheinen, tritt
Wadjda nicht an, um den Propheten Mohammed zu ehren, sondern um Geld
zu verdienen, um ihr eigenes Leben gestalten zu können, um die im
Namen dieses Buches aufgestellten Regeln zu brechen. Und als ihr
al-Mansour schlussendlich, nach zahlreichen Wirrungen und
Enttäuschungen, in einer einfachen, aber eloquenten
Schlusseinstellung, ihren Wunsch gewährt, radelt sie davon,
unbeachtet von den von Männern gelenkten Autos um sie herum. Niemand
hält an, niemand massregelt sie, niemand scheint sie als Problem
wahrzunehmen. Ein Mädchen fährt Rad – und die arabische
Gesellschaft steht noch.
★★★
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