Dienstag, 16. April 2013

Wadjda

In Saudi Arabien dürfen Frauen weder wählen noch Auto fahren; der Graben zwischen den Geschlechtern ist im Wüstenstaat so hoch wie in kaum einem anderen Land. Und nun betritt das Königreich, in dem Kinos lange Jahre gänzlich verboten waren, die internationale Kulturbühne mit Wadjda, dem ersten komplett in Saudi Arabien gedrehten Film. Regie führte eine Frau.

Der Weg zur Premiere im August vergangenen Jahres war allerdings ein steiniger. Fünf Jahre dauerten die Dreharbeiten, welche Regisseurin Haifaa al-Mansour oft aus dem Innern eines Autos führen musste, da das Gesetz es ihr verbietet, sich öffentlich mit ihren männlichen Crew-Kollegen auszutauschen. Unterstützt von deutschen Investoren sowie der Produktionsfirma eines saudischen Prinzen, ist es ihr nun aber gelungen, ihre am Neorealismus eines Vittorio De Sica oder eines Jafar Panahi ausgerichtete Coming-of-Age-Geschichte zu vollenden und einem internationalen Publikum vorzuführen.

Im Zentrum der Erzählung steht die elfjährige Wadjda (Waad Mohammed), welche der klassischen Vorstellung einer wohlerzogenen jungen Muslimin so gar nicht entspricht. In der Mädchenschule sorgen neben ihrem fehlenden Enthusiasmus für den Koran auch ihre violetten Converse-Schuhe für Irritation; nachmittags treibt sie sich mit dem gleichaltrigen Abdullah (Abdullrahman Algohani) in der Nachbarschaft herum. Wadjdas grösster Wunsch ist es, ein Fahrrad zu besitzen, sodass sie mit Abdullah um die Wette fahren kann. Von der Tatsache abgesehen, dass ihr dies gesetzlich nicht gestattet ist, hindern sie auch ihre finanziellen Mittel daran, sich diesen Traum zu erfüllen: Der Krämer um die Ecke verlangt 800 Rial für ein neu geliefertes Rad. Hoffnung kommt von unerwarteter Seite: Wadjdas Schule veranstaltet einen Koran-Vortrag-Wettbewerb, der mit 1000 Rial dotiert ist.

Hat ein Film im Produktionsprozess mit dermassen vielen Widrigkeiten zu kämpfen wie Haifaa al-Mansours erster Spielfilm – ein kinofeindliches Land, diskriminierende Gesetze, ein erschwerter Dreh –, wird gerne der beachtliche Schaffensprozess mit cineastischer Qualität gleichgesetzt. Von einem "perfekten" Film war im Vorfeld von Wadjda zu lesen; ein "Meisterwerk" sei al-Mansour gelungen. Realistisch betrachtet, ist es aber vermessen, den Film mit derartigen Superlativen zu überhäufen. Zu distanziert wird die Geschichte vorgetragen, zu gestelzt verläuft die Handlung, zu hölzern wirken gewisse Nebendarsteller, zu plakativ werden die antagonistischen Figuren dargestellt.

Das Objekt der Begierde: Wadjda (Waad Mohammed) betrachtet das neue Fahrrad im Laden.
© Praesens Film
Dennoch ist Wadjda ein lebhaftes Psychogramm des modernen Nahen Ostens, ein vorsichtig optimitisches Porträt einer Gesellschaft, in der die rigide sozioreligiöse Tradition von einer jungen Generation herausgefordert wird, die mit Beats-Kopfhörern englischsprachiges Pop-Radio hört, T-Shirts mit frechen Sprüchen unter der Burka trägt, dem eigenen Vater, der eifrig auf Zweitbrautschau ist, eine Lektion in Sachen Ballerspiele erteilt, und in der Schule selbstgemachte Armbänder für Fussballfans unter der Hand verkauft. Während der Stunde herrscht der Koran, während der Pause der kapitalistische Geschäftssinn.

Dabei erweist sich Hauptdarstellerin Waad Mohammed als al-Manosurs grösster Aktivposten. Ihre blitzgescheite, geradlinige Wadjda – eine der lebendigsten Kreationen des jüngeren Weltkinos –, obwohl eindeutig geprägt von den Kindern des italienischen Neorealismo (Franco Interlenghi und Rinaldo Smordoni in Sciuscià, Enzo Staiola in Ladri di biciclette, Alfonsino Pasca in Paisà), scheint sie ebenso eine Nachfahrin von Erich Kästners Mädchenfiguren zu sein. Als solche, als geistige Erbin von Luise "Pünktchen" Pogge und Luise Palfy, hinterfragt sie Regeln, welche ihre einerseits durchaus modernen, andererseits aber tief in der Tradition verwurzelten Eltern (Sultan Al Assaf, Reem Abdullah) längst als unverrückbare Absolute akzeptiert haben. Mit hartnäckiger, ja naiver, Sturheit wehrt sich Wadjda gegen die Normen: Als sie erfährt, dass auf ihrem Familienstammbaum nur die Männer einen Platz bekommen, heftet sie ihren Namen auf die Leinwand; ohne Rücksicht auf das Gesetz marschiert sie in den Krämerladen, um den Besitzer daran zu erinnern, dass das Fahrrad für sie reserviert ist.

Schrumpfender Geschlechtergraben? Wadjda wird vom gleichaltrigen Abdullah (Abdullrahman Algohani) bei ihrem Vorhaben unterstützt.
© Praesens Film
Den Gipfel der eben nur scheinbar sanften Subversion erreicht Wadjda mit dem allzu spät eingeführten Handlungsstrang des Koran-Wettstreits, wobei der Machtanspruch der Religion genüsslich ad absurdum geführt wird. Während ihre Lesezirkel-Kameradinnen wenigstens einigermassen religiös motiviert zu sein scheinen, tritt Wadjda nicht an, um den Propheten Mohammed zu ehren, sondern um Geld zu verdienen, um ihr eigenes Leben gestalten zu können, um die im Namen dieses Buches aufgestellten Regeln zu brechen. Und als ihr al-Mansour schlussendlich, nach zahlreichen Wirrungen und Enttäuschungen, in einer einfachen, aber eloquenten Schlusseinstellung, ihren Wunsch gewährt, radelt sie davon, unbeachtet von den von Männern gelenkten Autos um sie herum. Niemand hält an, niemand massregelt sie, niemand scheint sie als Problem wahrzunehmen. Ein Mädchen fährt Rad – und die arabische Gesellschaft steht noch.

★★★

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