Donnerstag, 30. Mai 2013

The Broken Circle Breakdown

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Der belgische Regisseur Felix Van Groeningen zieht in seinem neuen Film alle dramatischen Register: The Broken Circle Breakdown handelt von stürmischer Liebe, unbändiger Trauer und musikalischer Leidenschaft – ein wuchtiges Drama, getragen von einem erlesenen Bluegrass-Soundtrack.

Zuallererst ist The Broken Circle Breakdown aber ein Beleg dafür, dass Namen keineswegs Schall und Rauch sind. Aus unerfindlichen Gründen wird der Film in der Schweiz unter dem Titel The Broken Circle vertrieben, was zwar weniger sperrig klingt, dem Ganzen aber zahlreiche Assoziationen raubt. "Breakdown" kann das Scheitern einer Beziehung bedeuten oder das Beenden einer medizinischen Prozedur – beides Themenkreise, die Van Groeningen (The Misfortunates) aufgreift. Im Bluegrass-Genre hingegen beschreibt das Wort ein Instrumentalstück; berühmtestes Beispiel dafür ist wohl der durch Arthur Penns Bonnie and Clyde berühmt gewordene "Foggy Mountain Breakdown" von Lester Flatt und Earl Scruggs. Darauf verweist wiederum die dynamische nonlineare Dramaturgie, welche sich wie eine Art filmisches Medley aus ungewöhnlich vielen Montagesequenzen zusammensetzt.

Erzählt wird dabei die tragische Geschichte von Didier (ein umwerfender Johan Heldenbergh) und Elise (Veerle Baetens). Er ist ein passionierter Banjo-Spieler, sie Tätowiererin, und bald nachdem sie ihn Ende der Neunzigerjahre kennenlernt, Sängerin in seiner Band, wodurch die beiden zu flämischen Nachfahren im Geiste grosser Country- und Bluegrass-Duos werden: Johnny Cash und June Carter, deren Ikonografie Kameramann Ruben Impens immer wieder zitiert; George Jones und Tammy Wynette, Porter Wagoner und Dolly Parton. Nach mehreren Jahren glücklicher Ehe erhält das Paar eine niederschmetternde Nachricht: Ihre mittlerweile siebenjährige Tochter Maybelle (Nell Cattrysse), benannt nach der legendären Maybelle Carter, ist an Krebs erkrankt.

Ein musikalisches Paar: Elise (Veerle Baetens) singt in der Bluegrass-Band ihres Mannes Didier (Johan Heldenbergh).
Van Groeningens Herangehensweise steht in krassem Kontrast zum kühleren Stil anderer zeitgenössischer belgischer Filmemacher wie etwa der Dardenne-Brüder oder Michaël Roskam (Bullhead); die italienische Inbrunst eines Daniele Luchetti (La nostra vita) steht ihm näher. Die Emotionen in The Broken Circle Breakdown sind roh und unmittelbar, ungebrochen durch übertrieben analytische Distanz. Doch der Film ist weit davon entfernt, sich der blossen Gefühlsduselei hinzugeben. Dank sorgsam ausgearbeiteter Konflikte (Didier ist ein atheistischer Romantiker, Elise eine religiöse Realistin) und Figuren, zu deren primären Charakteristika auch ein Sinn für warmherzigen Humor zählt, verfehlt die zwischenmenschliche Tragödie des zerstörten Familienkreises ihren Zweck nicht; sie ist von einer emotionalen Kraft, die man in diesem Ausmass im modernen Kino gerne öfter sehen würde.

Der womöglich grösste Coup, den Van Groeningen in seiner Inszenierung landet, ist jedoch sein Einsatz von Musik, welche er nicht nur rhythmisch und mitreissend auf die Leinwand zu bannen versteht, sondern ins dramaturgische Zentrum seines Films stellt. Diverse Schlüsselmomente spielen sich während der herausragenden Interpretationen klassischer Songs ab ("Will the Circle Be Unbroken?", "Wayfaring Stranger", "If I Needed You"), gesungen von Heldenbergh und Baetens, begleitet von der Broken Circle Breakdown Bluegrass Band. Entwicklungen werden dezent signalisiert, finden mittels subtiler Blickwechsel und sprechender Mimik statt. The Broken Circle Breakdown ist ein Exemplar jener seltenen Sorte von Dramen, welche die grossen Gefühle zelebrieren, ohne ihr Publikum mit klischierter Rührseligkeit zu manipulieren. Ein Film, der alle richtigen Töne trifft.

★★★★★

Sonntag, 26. Mai 2013

Harry Dean Stanton: Partly Fiction

© Frenetic Films

★★★

Unsurprisingly, Partly Fiction works best when Stanton is given the time to express himself, to form his thoughts, to muse, even if his frequent musical intermezzos – his musical talent becomes obvious in his stunning rendition of Fred Neil’s "Everybody’s Talkin'" – do little more than stretch the whole affair to its 77-minute length. Indeed, the film shines brightest when it silently embraces Stanton’s faintly nihilistic love for the futility of things.

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).

Donnerstag, 23. Mai 2013

The Great Gatsby

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

F. Scott Fitzgeralds The Great Gatsby gilt als der vielleicht beste Roman aller Zeiten. Der fünfte Versuch einer Filmadaption, inszeniert von Baz Luhrmann, ist ein zeitgemässes Porträt einer von Prunk und Pomp besessenen Gesellschaft – aber auch eine Bankrotterklärung seines Regisseurs.

Im Sommer 1922 ist New York das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum der Welt: Die Börse boomt, am Broadway schwingen die "Ziegfeld Follies" die Beine, Bewunderer(innen) von Douglas Fairbanks und Rudolph Valentino füllen die Lichtspielhäuser; der billige, weil illegale, Alkohol fliesst in den zahllosen Speakeasys in Strömen; wer es sich leisten kann, feiert jede Nacht bis zum Morgengrauen durch. Fasziniert davon ist auch der junge Weltkriegsveteran und angehende Schriftsteller Nick Carraway (Tobey Maguire), der ein kleines Haus auf Long Island bezieht und an der Wall Street sein Glück versuchen will. Von seiner Cousine Daisy (Carey Mulligan) und deren Ehemann Tom (Joel Edgerton) erfährt er von einem stadtbekannten Lebemann namens Gatsby (Leonardo DiCaprio), der, wie sich herausstellt, die Villa neben Nicks Hütte bewohnt. Während einer von Gatsbys rauschenden Partys treffen sich die beiden erstmals und werden zu Freunden. Bald schon bittet Gatsby Nick, der nach und nach auch die dunklen Seiten von New Yorks Hautevolee kennenlernt, darum, ein Treffen mit Daisy, seiner einstigen Geliebten, zu arrangieren.

"What's all this for?", fragt der überwältigte Nick seinen neuen Freund, das dekadente Spektakel betrachtend, welches sich in dessen mit imposanten Memorabilia aus aller Herren Länder ausgestatteten Schloss abspielt. Es ist eine der zentralen Fragen aus F. Scott Fitzgeralds Jahrhundertroman, verfasst im Jahr 1925 – bevor die Weltwirtschaft kollabierte, bevor Fitzgeralds Ehe zu bröckeln begann, bevor er sich um seine Gesundheit trank. Wozu der besinnungslose Überfluss, das Leben, als gäbe es kein Morgen? Diese Frage im Jahr 2013 zu stellen, nach der "grossen Rezession", die ganze Staaten an den Rand des Ruins getrieben hat, hat etwas erfrischend (sic) Zynisches; sie verleiht dem Film eine gesellschaftskritische Dimension, wie man sie seit Romeo + Juliet (1996) bei Baz Luhrmann (Moulin Rouge!, Australia) nicht mehr gesehen hat. Ganz bewusst stellt er eine Verbindung zwischen Fitzgeralds New York, wo sich in den gesetzeswidrigen Bars Politiker und Gangster die Hand reichen, und der Gegenwart her, in der, keine fünf Jahre nach dem Kollaps, die Banker-Boni und die Spekulation wieder ins Kraut schiessen.

Der junge Autor Nick Carraway (Tobey Maguire, links) wird vom Lebemann Jay Gatsby (Leonardo DiCaprio) in die New Yorker Hautevolee eingeführt.
© 2013 Warner Bros. Ent.
Doch man könnte sie auch an Luhrmann selbst richten: "What's all this for?" Denn der australische Regisseur ergötzt sich in The Great Gatsby einmal mehr an seinem hyperaktiven, in opernhaftem Exzess schwelgenden Stil. Knapp 45 Minuten lang bombardiert er sein Publikum mit rasanten Schwenks, schwindelerregenden Kamerafahrten und Einstellungen, welche kaum je länger als zwei Sekunden ausgehalten werden. Kombiniert mit überwiegend zwecklosem 3-D, führt dies nicht nur zu akuten Kopfschmerzen, sondern auch zu rascher Übersättigung; bald wirkt der ganze Zirkus mitsamt seinen kunstvollen Schauwerten, so sehr er auch zum Quellenmaterial passen mag, ermüdend.

Als endlich Fitzgeralds Geschichte die Überhand gewinnt, weicht Luhrmanns fast unerträgliche Vision einem nüchterneren Tonfall, durch den The Great Gatsby von der überdrehten Effektorgie zum blutleeren, bleiern vorgetragenen Pseudo-Kammerspiel wird; jegliches Leben verfliegt. Und da sich hinter Luhrmanns Glitzer-Fassade kein wirklich begabter Regisseur verbirgt, hält sich der viel zu lange Film einzig und allein deshalb über Wasser, weil er an strategischen Punkten Fitzgeralds atemberaubende Prosa direkt zitiert. Vielleicht ist der Roman gerade deshalb grosse Literatur: Seine ganze Wirkung entfaltet er nur in geschriebener Form. Und dagegen kommt auch Baz Luhrmanns seelenloses (dekadentes?) Spektakel nicht an.

★★

Samstag, 18. Mai 2013

Boys Are Us

Zieht man Bilanz über das Schweizer Spielfilm-Kino der letzten zehn Jahre, bietet sich einem ein tristes Bild: Höhepunkte wie Home oder L'enfant d'en haut sind so dünn gesät, dass sogar formelhafte Wohlfühlkomödien (Sternenberg, Jeune homme, Stationspiraten) rückblickend als Höhenflüge taxiert werden müssen; derweil bringen die penetranten Streifen eines Michael Steiner die Kinokassen zum Klingeln. Ausreisser finden abseits blasser Genre-Versuche (Cargo, One Way Trip, Hell) und inzwischen zum Trend gewordener Heimat-Dokumentationen (Arme Seelen, Die Kinder vom Napf) allenfalls bei Peter Luisi statt, der sich immerhin stets von der Masse abzuheben weiss. Dass die Zukunft der Schweizer Filmkultur aber nicht mit dem Anderssein allein gesichert werden kann, zeigt Luisis Boys Are Us, ein ungewöhnlich aufgezogenes, aber gänzlich konventionell versagendes Jugenddrama.

Die Probleme beginnen schon im Ansatz: Mia (Joëlle Witschi), 16, wird Off-Screen von ihrem Freund Andi verlassen, woraufhin ihre zwei Jahre ältere Schwester Laura (Deleila Piasko) sie dazu ermutigt, sich an ihm und den Männern ("alles die gleichen Scheisstypen") zu rächen. Zu diesem Zweck hecken die beiden einen fiesen Plan aus: Auf einer Onlinedating-Plattform suchen sie sich einen arglosen Teenager, den Mia verführen und wenig später so herzlos wie möglich abservieren soll. "Aber wie räche ich mich so denn an Andi?", will Mia verständlicherweise wissen. Lauras Reaktion ist keine Antwort, sondern eine vitriolische Tirade gegen das männliche Geschlecht; danach wird das Thema nie wieder aufgegriffen. Somit basiert Boys Are Us auf der Idee, dass ein Mädchen ihrem Ex-Freund den von ihm verursachten Schmerz heimzahlt, indem sie jemanden schikaniert, den weder er noch sie jemals zu Gesicht bekommen hat. Lasst, die ihr eintretet, alle Logik fahren.

Luisi mag seinen Film unter das Motiv der emotionalen Gewalt und deren Auswirkungen auf menschliches Handeln gestellt haben, womit sich obiges Plotloch vielleicht wenigstens notdürftig erklären lässt, doch auch dieses bleibt sträflich unterentwickelt – allerdings nicht auf Grund fehlenden Bemühens. Im Gegenteil: Um dem Publikum seine ungeschickt an die Handlung geheftete Ideologie – prätentiöses, seltsam fehlplatziertes Geschwurbel über die Individualität des Einzelnen – zu vermitteln, hat Luisi die Rolle des Opfers von Mia und Laura gleich dreifach besetzt: Nicola Perot, Peter Girsberger und Rafael Mörgeli spielen Timo, einen sensiblen 18-jährigen Hobby-Gitarristen, dessen Facetten bei jedem der drei Jungschauspieler verschieden akzentuiert werden: Girsberger gibt den psychisch angeschlagenen Optimisten, Mörgeli den sich langsam im "echten Leben" zurechtfindenden jungen Erwachsenen, Perot den Charmeur. Natürlich lässt sich der von der Liebe gleichermassen enttäuschte Rekrut von Mia bezirzen; natürlich sieht sie in ihm, zum Ärger ihrer Schwester, bald mehr als ein Opfer.

Intrige im Internet: Mia (Joëlle Witschi) sucht sich einen arglosen Teenager, dem sie den Laufpass geben kann.
© Secondo Film GmbH
Warum Boys Are Us mit drei männlichen Protagonisten jongliert, wird nie schlüssig gerechtfertigt. Angesichts der Tatsache, dass Luisi selbst bei der bescheidenen Laufzeit von 73 Minuten – 15 Minuten kürzer als der genauso wenig überzeugende, aber dafür stringentere Der Sandmann – Platz für schlicht irrelevante Szenen gefunden hat, drängt sich der Gedanke auf, dass die Dreifachbesetzung hauptsächlich dazu dient, den Film auf Spielfilmlänge zu strecken. Dank eines souveränen Schnitts gelingt es Luisi zwar, die Handlungsstränge nachvollziehbar miteinander zu verschalten und mitunter sogar die Darsteller innerhalb einer Szene auszuwechseln, doch die Tatsache, dass er dies kann, bedeutet in diesem Fall nicht, dass er es auch sollte.

Grund dafür ist sein nur oberflächlich originelles Drehbuch, welches dermassen schwerfällig daherkommt, dass der gute Geschmack es verbietet, die sich wiederholenden Szenen mit Groundhog Day in Verbindung zu bringen. Nicht nur leidet der Film unter der hölzernen Helvetisierung hochdeutscher Dialoglinien ("Lass eus det hi ga"), sondern auch unter Luisis eklatanter Missdeutung jugendlichen Verhaltens. Konnte sich unlängst ein Regisseur wie Stephen Chbosky (The Perks of Being a Wallflower) dadurch profilieren, die Stimmung dieses Milieus mit viel Verständnis und frei von Klischees eingefangen zu haben, bietet Boys Are Us die Vogelperspektive eines Erwachsenen, dem jegliche Jugendkultur fremd zu sein scheint. Er vermittelt seine gezwungene Botschaft, indem er sich in eine peinlich überzeichnete Welt scheinbar elternloser Adoleszenten stürzt, welche sich naiv und ohne jede Vorsicht in virtuelle Liebesabenteuer stürzen, während in der echten Welt oft ein Augenkontakt genügt, um gemeinsam im Bett zu landen.

Inmitten dieser Ansammlung kulturpessimistischer Gemeinplätze, welche zweimal, womöglich unbeabsichtigt, David Finchers Meisterstück The Social Network zitiert, sich in ihrer Darstellung des Internets und der Web-Gemeinde aber eher auf dem Niveau von Gregory Hoblits Schund-Thriller Untraceable bewegt, bleibt kaum einem Beteiligten genug Raum zur Entfaltung. Wie schon in Verflixt verliebt, Luisis bestem Film, bewegt sich Nicolo Settegrana mit seiner Kamera behände durch die engen Appartements der Figuren, was wegen der steril-einfallslosen Inszenierung jedoch weniger dessen frechen Pseudo-Naturalismus, sondern eher die leere Ästhetik der Fernsehwerbung evoziert. Auch seinen Schauspielern tut der sich inhaltlich wie stilistisch penetrant um sich selber drehende Film keinen Gefallen: Gefangen in künstlichen, eindimensionalen Rollen, ist ihr ausnahmslos leidenschaftliches Spiel das einzig Lebendige an den drei Hauptfiguren, im Guten (Witschi, Girsberger) wie im Schlechten (Piasko, Mörgeli).

Opfer gefunden: Timo (Peter Girsberger, einer von drei Darstellern) frühstückt mit Mia und ihrer hinterhältigen Schwester Laura (Deleila Piasko).
© Secondo Film GmbH
Neben seiner unsinnigen Prämisse, seiner zweifelhaften Auffächerung der männlichen Hauptrolle (wollte Luisi keinen der Casting-Finalisten enttäuschen?) und seiner verwirrten Darstellung der "heutigen Jugend" verweigert Boys Are Us darüber hinaus die Antwort auf eine weitere, eigentlich unausweichliche Frage: Was mag Peter Luisi dazu bewogen haben, seinen grundsätzlich passenden, wenn auch ein wenig platten, Arbeitstitel Mias Blog durch eine allzu offensichtliche, völlig aus der Luft gegriffen wirkende Anspielung auf eine internationale Ladenkette zu ersetzen? Verweist die Entscheidung etwa auf die mehrfach wiederholte Äusserung, Mia und Laura betrieben ein sadistisches Spiel ("Boys Are Ours"?), ein "funny game" nach Michael Haneke? Luisi provoziert keine Diskussionen, weder über die digitale Generation, noch über emotionale Gewalt. Er beweist sich und der Welt, dass er nonlineare Geschichten erzählen kann. Da dies aber keinen erkennbaren gefühlsmässigen, intellektuellen oder cineastischen Wert hat, verwandelt sich der Kinobesuch in eine entmutigende, weil fruchtlose, Sinnsuche, an deren Ende die Schlussfolgerung steht: Boys Are Us ist ein sinnloser Film.

Freitag, 17. Mai 2013

Star Trek Into Darkness

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

2009 erweckte J. J. Abrams die Star Trek-Kinoreihe mit dem insgesamt elften Eintrag, einem neulingfreundlichen Reboot, wieder zum Leben. Dessen Höhen mag das Sequel zwar nicht erreichen, doch Star Trek Into Darkness erweist sich dennoch als grundsolide Science-Fiction-Unterhaltung.

Mitte des 23. Jahrhunderts wird das bekannte Universum von der intergalaktischen Föderation regiert, welche sich darum bemüht, fremde Welten und Zivilisationen zu entdecken und den Frieden zwischen den Völkern zu wahren. Als der vulkanische Commander Spock (Zachary Quinto) vom Raumschiff USS Enterprise auf einem offiziellen Erkundungsflug in Schwierigkeiten gerät, wird er von seinem Freund, dem abenteuerlustigen Captain James T. Kirk (Chris Pine), gerettet, womit dieser aber gegen die Vorschriften verstösst. Dies führt zu Kirks sofortiger Degradierung, welche allerdings schon bald wieder aufgehoben wird. Grund dafür sind die Angriffe des geheimnisvollen John Harrison (Benedict Cumberbatch) auf Einrichtungen der Föderation. Kirk und seine treue Crew werden damit beauftragt, die Verfolgung des flüchtigen Harrison aufzunehmen. Dieser hat sich inzwischen nämlich auf den Planeten Qo'noS (sprich: Kronos) abgesetzt, auf dem die gefährlichen Klingonen leben.

Nach zehn Leinwandadaptionen der beiden grossen Star Trek-Fernsehserien (Gene Roddenberrys originale Raumschiff Enterprise mit William Shatner und Leonard Nimoy sowie The Next Generation mit Patrick Stewart), knapp die Hälfte davon minderer Qualität, bedurfte es eines radikalen Schnitts, um die Kult-Franchise vom Ruf zu befreien, sie bediene nur noch eine kleine Nischenklientel. Die Lösung fanden Regisseur J. J. Abrams (Mission: Impossible III, Super 8) und das Autorenduo Roberto Orci/Alex Kurtzman in Form eines alten Sci-Fi-Tricks: dem variablen Konzept des Paralleluniversums. Indem sie ihren Reboot in einer durch Zeitreisen geschaffenen alternativen Realität spielen liessen, waren sie im Stande, die vertrackte Kontinuität von zehn Filmen zu umgehen, Tabula rasa zu machen und einen Neustart zu wagen – ohne die loyale Fangemeinde aussen vor zu lassen. Doch während dieser Kniff im ersten Teil primär dazu diente, Roddenberrys Universum einem neuen Publikum zu erschliessen, wird er im – erneut auch für Nicht-Kenner nachvollziehbaren – Star Trek Into Darkness dazu benutzt, den mit Vorwissen ausgestatteten Kinogänger anzusprechen.

Captain James T. Kirk (Chris Pine, rechts) und Commander Spock (Zachary Quinto) begeben sich auf die Jagd nach einem Terroristen.
© Paramount Pictures Switzerland
Mit unübersehbarer Freude versetzen Abrams, Orci, Kurtzman und der neu zum Autorenteam gestossene Damon Lindelof (langjähriger Drehbuchschreiber für Abrams' TV-Serie Lost) Nicholas Meyers Trekkie-Liebling Star Trek II: The Wrath of Khan ins von ihnen ersonnene B-Universum: Klassische Szenen werden neu interpretiert, Figurenkonstellationen umgedreht; Leonard Nimoy, der ursprüngliche Spock, beruft sich während seines Cameo-Auftritts explizit auf den originalen Erz-Bösewicht Khan, gespielt von Ricardo Montalbán. Sonderlich subtil sind die wenigsten dieser Anspielungen – einige grenzen gar ans Penetrante; mit ein Grund, weshalb Teil zwei des Reboots qualitativ hinter seinem Vorgänger zurückbleibt – doch sie tragen zur nostalgischen Atmosphäre des Ganzen bei.

Von den Hochglanz-Effekten und dem angenehm ambivalenten Terrorismus-Motiv abgesehen, ist es Star Trek Into Darkness ein sichtliches Anliegen, Roddenberrys Kreation in ihrer Urform zu feiern. Die grosszügig eingesetzten Nebenfiguren sind unterhaltsam wie eh und je; wissenschaftlich zweifelhaftere Elemente werden keiner unnötigen Modernisierungskur unterzogen; die Faszination von Science-Fiction durchdringt den ganzen Film. Erneut ist der altehrwürdigen Franchise ein Weltraum-Abenteuer für Kinder jeden Alters hinzugefügt worden.

★★★★

Sonntag, 12. Mai 2013

Beyond the Hills

Quasi über Nacht avancierte Cristian Mungiu 2007 zum Aushängeschild der aufstrebenden unabhängigen, unter dem Oberbegriff New Wave zusammengefassten rumänischen Filmindustrie, als sein Drama 4 Months, 3 Weeks and 2 Days um eine illegale Abtreibung in den letzten Jahren des Ceaușescu-Regimes in Cannes die Goldene Palme gewann. Diesem Triumph lässt er nun Beyond the Hills folgen, ein minimalistisches Porträt menschlichen und religiösen Irrsinns.

Als Vorlage diente Mungiu eine reale Begebenheit, ein Exorzismus mit tödlichem Ausgang, der sich 2005 in einem nordrumänischen Kloster zugetragen hat. Daraus spinnt er eine hochkomplexe, von moralischer und emotionaler Ambiguität geprägte Filmparabel um die Liebe zweier grundverschiedener Frauen. Nachdem sie einige Jahre in Deutschland verbracht hat, kehrt Alina (Cristina Flutur) nach Rumänien zurück, um ihre innig geliebte Freundin aus Kinder- und Jugendtagen wiederzusehen. Doch Voichiţa (Cosmina Stratan) lebt mittlerweile als Nonne in einem abgelegenen orthodoxen Kloster, welches vom ansässigen Priester (Valeriu Andriuţă), Papa genannt, nach strengen Regeln geführt wird. Frustriert von der Aufopferung ihrer einstigen Geliebten, wird Alina von einer rasenden Eifersucht ergriffen, die in tätlichen Angriffen auf Bewohnerinnen des Konvents gipfelt, woraufhin sie unter beträchtlichem Kraftaufwand ins örtliche Krankenhaus gebracht wird. Da dort der Platz aber begrenzt ist, legt der behandelnde Arzt Voichiţa sowie der Mutter Oberin (Dana Tapalagă) nahe, Alina vorübergehend im Kloster aufzunehmen, wo sie zur Ruhe kommen soll – sehr zum Missfallen Papas.

Wie schon 4 Months, 3 Weeks and 2 Days ist Beyond the Hills tief im Stil der rumänischen neuen Welle verwurzelt; sozialer Realismus und formale Austerität sind der Modus operandi. Mit langen, brillant orchestrierten Einstellungen, immer hautnah am Geschehen, erzählt Cristian Mungiu eine emotional distanzierte Geschichte aus dem modernen Rumänien, wo Männer ihre Frauen des Hexentums bezichtigen, Ärzte ihren Patienten empfehlen, zusätzlich zum Medikamenten-Konsum auch das gute Buch zu konsultieren, und jeder jemanden kennt, dessen Bekannter durch Gebete von einer schlimmen Krankheit geheilt wurde. Anders jedoch als in seinem von Robert Altman und Miloš Forman beeinflussten Palme-d'Or-Gewinner, scheint Mungiu hier von existenzialistischen Fragen getrieben zu sein, was seinen neuen Film eher in den Dunstkreis Andrei Tarkovskys oder Béla Tarrs versetzt.

Der beschwerliche Weg des Herrn: Voichiţa (Cosmina Stratan, links) führt ihre Freundin Alina (Cristina Flutur) zum Kloster "jenseits der Hügel". 
© Frenetic Films
Das philosophische Zentrum stellt dabei der Umgang des Menschen mit der Religion dar. Nicht umsonst ist immer wieder ist die Rede von unerreichbaren, oder zumindest unerreichbar scheinenden, Orten (Deutschland, das Land der finanziellen Aufstiegsmöglichkeiten; Istanbul, das Zentrum der orthodoxen Welt; der für die Nonnen verbotene Altarraum), stellt doch gerade dieses unsichere Versprechen ein Grundpfeiler religiöser Überzeugung dar. Mit abgründiger Ironie zeigt Mungiu auf, wie der Glauben den Gläubigen dazu verleiten kann, Dingen eine inexistente übersinnliche Dimension anzudichten: Neben ihren von akuten Krampfanfällen begleiteten Wutausbrüchen spreche Alina überdies in einer fremden Stimme, berichten die Nonnen Voichiţa; sie fluche, sie habe Visionen, sie grinse diabolisch, weshalb sie auf eine kreuzförmige Planke gebunden werden müsse. Zu sehen oder zu hören ist all dies freilich nicht.

Auch Sinn und Unsinn der Entscheidung, sein Leben Gott zu widmen, wird in Beyond the Hills erkundet. Unter dem wachsamen Auge der Kirche ist der Mensch, ob er sich nun den Versuchungen der liberalen Stadt oder der klösterlichen Askese hingibt, grundsätzlich schlecht, Absolution nur durch die Beichte möglich. Auf die Spitze getrieben wird dieser sardonische Blick in einer der absurdesten Szenen des Films: Um ihr dabei zu helfen, ein rechtschaffenes Leben zu führen, händigt Papa Alina ein Buch aus, das eine fein säuberlich aufgestellte Liste von 464 Sünden enthält. Punkt für Punkt notiert sie sich, mit Unterstützung der Ordensschwestern, ihre Fehltritte, bis sie bei Sünde Nummer 21 resigniert und den Stift niederlegt. Lohnt es sich überhaupt, sich nach diesen Regeln zu richten, wenn sogar das Versäumnis, über die Nichtexistenz Gottes nachzudenken, eine Sünde ist?

Kenne deine Sünden: Der Pfarrer (Valeriu Andriuţă) führt das Kloster mit eiserner Faust.
© Frenetic Films
Dies als eine pauschalisierte Anklage der Religion zu lesen, wird durch Mungius Figurenzeichnung allerdings nicht unterstützt. Zwar finden sich während des Films immer wieder Andeutungen auf mögliche Motivationen und Hintergründ: Die Beziehung zwischen Alina und Voichiţa hat eine unübersehbare sexuelle Dynamik – ein starker Kontrast zur rigideren göttlichen Liebe, die Voichiţa zu erfahren glaubt –, welche, ebenso wie die näheren Umstände von Alinas krankhaftem Zustand, nie explizit erwähnt wird. Ein nebulöser Deutscher, der regelmässig das örtliche Waisenhaus besucht, in dem die beiden Hauptfiguren aufgewachsen sind und wo er die heranwachsenden Insassen fotografiert, scheint Alina mit der Frauenhandel-Mafia in Verbindung zu bringen, derweil Voichiţas devote Verehrung Papas ödipale Züge tragen könnte. Doch weder ist die unhöfliche Alina, das Opfer eines zusehends perfider und brutaler werdenden Exorzismus-Rituals (wenngleich das Wort "Exorzismus" niemals Erwähnung findet), ein sonderlich sympathischer Charakter, noch wirkt Papa wie ein fanatischer Despot, der die "sündige" Besucherin mutwillig in den Tod treibt, noch scheint die fromme Voichiţa mit ihrem Lebenswandel unzufrieden zu sein.

Letztendlich inszeniert Mungiu die Religion als bloss eine von vielen menschlichen Neurosen. Er benutzt den nicht näher definierten Wahnsinn Alinas, um sie als abstruses und heuchlerisches – aber nicht axiomatisch böses – System zu entlarven: Als Papa schliesslich von der Polizei gestellt wird, versucht er zunächst mit priesterlicher Leidenschaft seine Taten zu verteidigen, bis ihn einer der Beamten daran erinnert, dass "man zu seinen Fehlern stehen muss", dass man, wie Papa stets zu sagen pflegt, "beichten und bereuen" soll. Mit Besonnenheit, Klarsicht, Intelligenz und filmischer Verve propagiert Beyond the Hills einen kritischen Umgang mit Religion, einer gut gemeinten Einrichtung, die sich viel zu schnell jener Grausamkeit ergibt, die sie zu bekämpfen versucht.

★★★★

Freitag, 10. Mai 2013

Iron Man 3

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Die erste Phase des Marvel-Projekts, eine Reihe inhaltlich miteinander verbundener Comicverfilmungen zu drehen, endete im vergangenen Sommer mit dem bei Kritik wie Publikum gleichermassen erfolgreichen The Avengers. Phase zwei startet mit dem zwar unterhaltsamen, aber letztlich enttäuschenden Iron Man 3.

Als das Kinopublikum den egomanischen Milliardär und Philanthropen Tony Stark (Robert Downey Jr. – wie immer ein Genuss) alias Iron Man das letzte Mal zu Gesicht bekommen hat, beförderte er eine Atombombe per Wurmloch ans andere Ende des Universums, schaffte es knapp zur Erde zurück, wo er mit seinen Freunden und Superhelden-Kollegen (darunter Hulk, Thor und Captain America) wieder vereint wurde. Im dritten Teil der Iron Man-Franchise lässt Shane Black, der das Regie-Zepter von Jon Favreau übernommen hat, Tony mit den Folgen dieser Ereignisse kämpfen.

Von Schlaflosigkeit und Panikattacken heimgesucht, stürzt er sich in seine Arbeit und werkelt tagein, tagaus an seinen Super-Rüstungen, während seine Freundin Pepper Potts (Gwyneth Paltrow) sein Geschäftsimperium führt und sein Assistent James Rhodes (Don Cheadle) als metallener Iron Patriot die USA beschützt. Es droht jedoch Gefahr: Der mysteriöse Mandarin (Ben Kingsley) terrorisiert mit Hilfe des Wissenschaftlers Aldrich Killian (Guy Pearce) das Land mit Bombenanschlägen. Als Tony, dessen Alter Ego jeder kennt, dem Mandarin offen droht, geraten er und seine Liebsten ins Visier des Verbrechers.

Ein vereinendes Merkmal jüngerer Kinointerpretationen von Marvel-Superhelden (Iron Man, Thor, Captain America: The First Avenger, The Amazing Spider-Man) ist deren Fähigkeit, die eigenen Mängel aufzuwiegen. Fadenscheinige Plots, zweifelhafte Szenarien und zuweilen unterdurchschnittliche Dialoge wurden durch stilvoll vorgetragene Action, Momente emotionaler Zugkraft und der kindlichen Freude an neurotischen Männern in grellen Kostümen zwar nicht ausgemerzt, aber doch aufgewogen. Entsprechend wurde die begeisterte Rezeption von The Avengers primär der Tatsache zugeschrieben, dass Regisseur Joss Whedon das Medium Comic richtig verstanden hatte und nicht davor zurückschreckte, dessen klassischen, altbackenen Heroismus zu zelebrieren.

Der psychisch angeschlagene Tony Stark (Robert Downey Jr.) widmet seine Zeit dem Verbessern seiner Iron-Man-Rüstung.
© Marvel
Der Weg, den Shane Black in Iron Man 3 einschlägt, führt in eine andere Richtung: Zwar bietet auch er mitreissende Verfolgungsjagden und Prügeleien zu Land, zu Wasser und in der Luft, doch gleichzeitig ist er versessen darauf, mit der Tradition zu brechen. Dass dies nicht grundsätzlich schlecht sein muss, haben andere vor ihm bewiesen, doch Black leistet sich in seiner zweiten Regiearbeit eindeutig zu viele Schnitzer, um die Vorzüge von Jon Favreaus ersten beiden Teilen vergessen zu machen. Ein Hauptproblem stellt dabei das chaotische, unstete Drehbuch dar, verfasst – und, wie es scheint, mehrfach umgeschrieben – von Drew Pearce und Black selbst, welches sich einerseits über die Comic-Tropen wie überdramatische Sinnsprüche oder stereotype kriminelle Genies lustig macht, andererseits aber Tony Stark "good old-fashioned revenge" schwören lässt.

Die lakonischen Sprüche von Robert Downey Jr. mögen sich gehalten haben, der Film geizt nicht mit grossen Momenten und die Effekte sind einwandfrei; doch der Wert des Gesamtprodukts wird durch Blacks oftmals verheerende Entscheidungen erheblich vermindert. Bestes Beispiel ist Ben Kingsleys Darbietung, vielleicht seine beste seit Jahren, welche dank einer Wendung, deren Zweck nicht der Story, sondern lediglich einem kurzlebigen Witz dient, verschwendet anmutet. Kein Marvel-Streifen vermochte bis dato restlos zu überzeugen, doch Iron Man 3 gesellt sich zu den wenigen Einträgen, deren Defizite sich in ihrem ganzen Ausmass bemerkbar machen.

★★

Dienstag, 7. Mai 2013

Side Effects

Seit gut zwei Jahren macht Steven Soderbergh vermehrt von sich reden. Nicht etwa aufgrund der sechs Regiearbeiten, welche er in diesem Zeitraum vorgelegt hat, sondern wegen seiner mit Nachdruck publik gemachten, erst kürzlich wieder relativierten Entscheidung, sich aus der Filmbranche zurückzuziehen und sein Leben der Malerei zu widmen. Seinen vorläufigen Abschied von der grossen Leinwand markiert der handwerklich souverän umgesetzte Psychothriller Side Effects.

In diesem greift Soderbergh ein Thema auf, das sich, wenn auch in stets variierender Form, wie ein roter Faden durch seine Filmografie zieht, vom vierfachen Oscargewinner Traffic bis zum kritisch bejubelten Spätwerk Contagion: das intime Verhältnis des Menschen zu seinen "Drugs", welche er in der Hoffnung konsumiert, sein Wohlbefinden erzwingen zu können. Als Ziel hat sich Soderbergh diesmal die Pharmaindustrie ausgesucht. Emily (Rooney Mara) wird kurz nach der Haftentlassung ihres Mannes Martin (Channing Tatum) erstmals seit Jahren wieder von einer Depression heimgesucht. Sie kann sich nicht mehr konzentrieren, sie verliert jeglichen Optimismus, sie baut absichtlich einen Autounfall. Als sie sich im Krankenhaus davon erholt, lernt sie den Psychiater Dr. Jonathan Banks (Jude Law) kennen, der ihr eine Behandlung anbietet und ihr, nach einer Besprechung mit Emilys ehemaliger Therapeutin (eine allzu offensichtlich diabolische Catherine Zeta-Jones), eine Tablette in der Testphase verschreibt. Eines Nachts ersticht die schlafwandelnde Emily jedoch Martin, woraufhin Banks vom Gericht als ihr persönlicher Berater ernannt wird und beginnt, die Nebenwirkungen des neuartigen Medikaments unter die Lupe zu nehmen.

Sollte sich Soderberghs Filmemacher-Vorruhestand als dauerhaft erweisen, dann verlöre das zeitgenössische Hollywood unzweifelhaft eine visionäre Kraft – auf dem Regiestuhl wie auch hinter der Kamera. Soderbergh, der in Side Effects einmal mehr unter dem Pseudonym Peter Andrews auch als Kameramann fungiert, propagiert einen radikal reduzierten Stil, in dem visuelle Opulenz der totalen Funktionalität geopfert wird. Wie einst im "goldenen Zeitalter" des amerikanischen Kinos hat jedes Bild einen klar zugewiesenen Platz in der Handlung; jede der lyrisch-karg vorgetragenen Einstellungen dient einem genau festgelegten Zweck. Stilistische Schnörkel wie Weichzeichner, speziell hervorgehobenes Sounddesign oder ausgefallene Aufnahmewinkel werden mit klinischer Präzision eingesetzt.

Doktor und Patient: Jonathan Banks (Jude Law) verschreibt der depressiven Emily (Rooney Mara) ein zweifelhaftes Medikament.
© Ascot Elite
Mit dieser bestechenden Schlichtheit, dieser gnadenlosen Effizienz, die immer wieder die Filme eines Robert Aldrich in Erinnerung ruft, erzählt Soderbergh eine packende Geschichte, die wohl auch das Interesse von Regisseuren wie Alfred Hitchcock oder Henri-Georges Clouzot geweckt hätte. War David O. Russells Silver Linings Playbook noch ein vergleichsweise leichtherziger Beitrag zu den mit Psychopharmaka übersättigten USA, malt Side Effects ein düsteres Porträt einer Gesellschaft, die es verlernt hat, mit schlechten Zeiten umzugehen. Antidepressiva und Betablocker gehören hier zur täglichen Diät eines durchschnittlichen New Yorkers; Freunde und Bekannte empfehlen sich gegenseitig ihre bevorzugten Medikamente; der Satz "I've struggled with depression" gehört zum Smalltalk-Standardrepertoire; die Hochfinanz regelt ihre persönlichen Wehwehchen mit Tabletten, während sie sich aus den ihr drohenden Gefängnisstrafen frei kauft. Geld und Pharmazie, so Soderbergh, sind das Öl der amerikanischen Wirtschaftsmaschine – und damit auch des amerikanischen Alltags.

Sonderlich subtil mag das Ganze zwar nicht aufgezogen sein, doch Soderberghs inszenatorischer Virtuosität ist es zu verdanken, dass Side Effects seine Spannung fast durchgehend aufrechterhalten kann. Davon profitiert auch das überraschend profane, wenngleich ungemein komplex angelegte, Schlussdrittel, in welchem sich Aldrich auf einmal in Alomdóvar zu verwandeln scheint und der kühle Psychothriller einem fast schon grotesk überkandidelten Drama Platz macht. Die bis zu diesem Zeitpunkt umsichtig gestaltete Dramaturgie wird mit homosexuellen Intrigen, aufwändigen Plänen und finsteren Machenschaften an der Wall Street überspannt und bricht schlussendlich unter dem schieren Gewicht dieser Vielzahl an Themen, Motiven und Figurenentwicklungen zusammen. Dadurch wird dieser selbst gewählte Abgesang zwar schriller und womöglich sogar einprägsamer, doch man wünschte sich, Soderbergh hätte sich mit einem Film verabschiedet, der von seinen Qualitäten nicht gerettet, sondern veredelt wird. So bleibt die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr.

★★★

Donnerstag, 2. Mai 2013

Paradies: Liebe

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Im ersten Teil seiner viel diskutierten Paradies-Trilogie begibt sich der österreichische Regisseur Ulrich Seidl nach Kenia und fördert Faszinierendes zutage: Liebe ist ein ungemütliches Kunstwerk, eine unbehagliche Satire auf das gestörte Verhältnis zwischen Europäern und Afrikanern.

Teresa (Margarethe Tiesel), 50 Jahre alt und vermutlich geschieden, beschliesst, sich einen Urlaub zu gönnen. Zusammen mit ihrer Freundin Inge (Inge Maux) fliegt sie in ein kenianisches Strand-Resort, wo neben Sonne, Sand und Palmen auch stramme junge Männer im Überfluss vorhanden sind. Während die einen am Strand Halsketten und Schnitzerein verhökern, stehen andere für Liebesabenteuer zur Verfügung. Von Inge ermutigt, lässt sich Teresa auf ein solches Treffen ein, findet an ihrem Partner allerdings keinen Gefallen. Doch dann lernt sie den zärtlichen Munga (Peter Kazungu) kennen, der sich in sie verliebt zu haben scheint – Falten und Fettpolstern zum Trotz. Ob dessen Zuneigung echt ist, muss sich aber erst noch weisen.

In Zeiten von Filesharing, Grossfernsehern und DVDs, welche weniger als ein Kinoeintritt kosten, ist es selten geworden, dass die Diskussion eines Films einen Verweis auf das Kinoerlebnis mit einschliesst. Paradies: Liebe bildet dabei eine überraschende Ausnahme, nicht etwa auf Grund besonders überwältigender Bilder, sondern wegen der Erfahrung, ihn gemeinsam mit anderen Menschen in einem abgedunkelten Raum zu sehen. Denn Ulrich Seidl (Hundstage) kennt kein Pardon und konfrontiert sein Publikum mit Szenen, deren Inhalt und Präsentation mitunter hochgradig problematische Reaktionen hervorrufen. Der Zuschauer wird geradezu dazu herausgefordert, über den scheinbar ganz normalen Rassismus zweier Österreicherinnen zu lachen, während am Anblick einer nackten 50-Jährigen (zumindest in der hier besprochenen Vorführung) Anstoss genommen wird.

Schon in der ersten Szene wird deutlich, wie gnadenlos weit Seidl seine Satire treibt: Eine kleine Gruppe von Erwachsenen mit Down-Syndrom vergnügt sich in einem für sie reservierten Boxauto-Betrieb. Zu plärrender Jahrmarkt-Musik fahren sie sich gegenseitig wortwörtlich an den Karren, gefilmt in frontalen Grossaufnahmen, einige fröhlich lachend, andere hinterhältig grinsend, alle offenkundig vergnügt, von Aufseherin Teresa wohlwollend beobachtet. Zunächst mag die Szene wie simple, wenn auch gelungene, Provokation wirken. Ihre wahre Tragweite entfaltet sie jedoch erst dann, als Teresa auf dieselbe Art und Weise die um sie buhlenden Kenianer belächelt: In den Augen der (Sex-)Touristin stehen diese auf der gleichen Umgangsstufe wie ihre pflegebedürftigen Landsleute.

 Der Traum vom Glück: Teresa (Margarethe Tiesel) sucht in Kenia nach dem perfekten Liebesabenteuer.
© Praesens Film
Entsprechend ist der europäisch-afrikanische Dialog in Paradies: Liebe ein von Grund auf korrumpierter. Man mag sich mit einem Gemisch aus Deutsch, Englisch und Swahili verständigen können, redet aber immer nur an sich vorbei; hier gedeiht der blanke, unverhohlene, von stereotypen schwarzen Spassmachern und segregierten Stränden bekräftigte Rassismus, dort der zynische Betrug. Messerscharf seziert Seidl die Sozioökonomie des Tourismus – für ihn nur eine verwässerte Form des Imperialismus –, der beide Parteien zum moralischen Bankrott verführt.

Dabei besteht der grösste Tabubruch seines leider etwas zu lang geratenen Filmes wohl weniger darin, diese Vorgänge aufzuzeigen, sondern dem Ganzen mit Teresa eine durchaus nachvollziehbare, wenngleich auch nicht gänzlich sympathische, Protagonistin ins Zentrum zu stellen: Wie Bill Murray in Lost in Translation ist sie gestrandet in einem Kulturkreis, der sie gleichermassen fasziniert, verwirrt und verängstigt – und letztlich, mit der Erkenntnis, dass auch hier der Traum der Liebe eine naive Illusion bleibt, auch enttäuscht. Diese Tragödie unter den Titel "Paradies" zu stellen, ist Seidls ironisches Meisterstück.

★★★★