Sonntag, 12. Mai 2013

Beyond the Hills

Quasi über Nacht avancierte Cristian Mungiu 2007 zum Aushängeschild der aufstrebenden unabhängigen, unter dem Oberbegriff New Wave zusammengefassten rumänischen Filmindustrie, als sein Drama 4 Months, 3 Weeks and 2 Days um eine illegale Abtreibung in den letzten Jahren des Ceaușescu-Regimes in Cannes die Goldene Palme gewann. Diesem Triumph lässt er nun Beyond the Hills folgen, ein minimalistisches Porträt menschlichen und religiösen Irrsinns.

Als Vorlage diente Mungiu eine reale Begebenheit, ein Exorzismus mit tödlichem Ausgang, der sich 2005 in einem nordrumänischen Kloster zugetragen hat. Daraus spinnt er eine hochkomplexe, von moralischer und emotionaler Ambiguität geprägte Filmparabel um die Liebe zweier grundverschiedener Frauen. Nachdem sie einige Jahre in Deutschland verbracht hat, kehrt Alina (Cristina Flutur) nach Rumänien zurück, um ihre innig geliebte Freundin aus Kinder- und Jugendtagen wiederzusehen. Doch Voichiţa (Cosmina Stratan) lebt mittlerweile als Nonne in einem abgelegenen orthodoxen Kloster, welches vom ansässigen Priester (Valeriu Andriuţă), Papa genannt, nach strengen Regeln geführt wird. Frustriert von der Aufopferung ihrer einstigen Geliebten, wird Alina von einer rasenden Eifersucht ergriffen, die in tätlichen Angriffen auf Bewohnerinnen des Konvents gipfelt, woraufhin sie unter beträchtlichem Kraftaufwand ins örtliche Krankenhaus gebracht wird. Da dort der Platz aber begrenzt ist, legt der behandelnde Arzt Voichiţa sowie der Mutter Oberin (Dana Tapalagă) nahe, Alina vorübergehend im Kloster aufzunehmen, wo sie zur Ruhe kommen soll – sehr zum Missfallen Papas.

Wie schon 4 Months, 3 Weeks and 2 Days ist Beyond the Hills tief im Stil der rumänischen neuen Welle verwurzelt; sozialer Realismus und formale Austerität sind der Modus operandi. Mit langen, brillant orchestrierten Einstellungen, immer hautnah am Geschehen, erzählt Cristian Mungiu eine emotional distanzierte Geschichte aus dem modernen Rumänien, wo Männer ihre Frauen des Hexentums bezichtigen, Ärzte ihren Patienten empfehlen, zusätzlich zum Medikamenten-Konsum auch das gute Buch zu konsultieren, und jeder jemanden kennt, dessen Bekannter durch Gebete von einer schlimmen Krankheit geheilt wurde. Anders jedoch als in seinem von Robert Altman und Miloš Forman beeinflussten Palme-d'Or-Gewinner, scheint Mungiu hier von existenzialistischen Fragen getrieben zu sein, was seinen neuen Film eher in den Dunstkreis Andrei Tarkovskys oder Béla Tarrs versetzt.

Der beschwerliche Weg des Herrn: Voichiţa (Cosmina Stratan, links) führt ihre Freundin Alina (Cristina Flutur) zum Kloster "jenseits der Hügel". 
© Frenetic Films
Das philosophische Zentrum stellt dabei der Umgang des Menschen mit der Religion dar. Nicht umsonst ist immer wieder ist die Rede von unerreichbaren, oder zumindest unerreichbar scheinenden, Orten (Deutschland, das Land der finanziellen Aufstiegsmöglichkeiten; Istanbul, das Zentrum der orthodoxen Welt; der für die Nonnen verbotene Altarraum), stellt doch gerade dieses unsichere Versprechen ein Grundpfeiler religiöser Überzeugung dar. Mit abgründiger Ironie zeigt Mungiu auf, wie der Glauben den Gläubigen dazu verleiten kann, Dingen eine inexistente übersinnliche Dimension anzudichten: Neben ihren von akuten Krampfanfällen begleiteten Wutausbrüchen spreche Alina überdies in einer fremden Stimme, berichten die Nonnen Voichiţa; sie fluche, sie habe Visionen, sie grinse diabolisch, weshalb sie auf eine kreuzförmige Planke gebunden werden müsse. Zu sehen oder zu hören ist all dies freilich nicht.

Auch Sinn und Unsinn der Entscheidung, sein Leben Gott zu widmen, wird in Beyond the Hills erkundet. Unter dem wachsamen Auge der Kirche ist der Mensch, ob er sich nun den Versuchungen der liberalen Stadt oder der klösterlichen Askese hingibt, grundsätzlich schlecht, Absolution nur durch die Beichte möglich. Auf die Spitze getrieben wird dieser sardonische Blick in einer der absurdesten Szenen des Films: Um ihr dabei zu helfen, ein rechtschaffenes Leben zu führen, händigt Papa Alina ein Buch aus, das eine fein säuberlich aufgestellte Liste von 464 Sünden enthält. Punkt für Punkt notiert sie sich, mit Unterstützung der Ordensschwestern, ihre Fehltritte, bis sie bei Sünde Nummer 21 resigniert und den Stift niederlegt. Lohnt es sich überhaupt, sich nach diesen Regeln zu richten, wenn sogar das Versäumnis, über die Nichtexistenz Gottes nachzudenken, eine Sünde ist?

Kenne deine Sünden: Der Pfarrer (Valeriu Andriuţă) führt das Kloster mit eiserner Faust.
© Frenetic Films
Dies als eine pauschalisierte Anklage der Religion zu lesen, wird durch Mungius Figurenzeichnung allerdings nicht unterstützt. Zwar finden sich während des Films immer wieder Andeutungen auf mögliche Motivationen und Hintergründ: Die Beziehung zwischen Alina und Voichiţa hat eine unübersehbare sexuelle Dynamik – ein starker Kontrast zur rigideren göttlichen Liebe, die Voichiţa zu erfahren glaubt –, welche, ebenso wie die näheren Umstände von Alinas krankhaftem Zustand, nie explizit erwähnt wird. Ein nebulöser Deutscher, der regelmässig das örtliche Waisenhaus besucht, in dem die beiden Hauptfiguren aufgewachsen sind und wo er die heranwachsenden Insassen fotografiert, scheint Alina mit der Frauenhandel-Mafia in Verbindung zu bringen, derweil Voichiţas devote Verehrung Papas ödipale Züge tragen könnte. Doch weder ist die unhöfliche Alina, das Opfer eines zusehends perfider und brutaler werdenden Exorzismus-Rituals (wenngleich das Wort "Exorzismus" niemals Erwähnung findet), ein sonderlich sympathischer Charakter, noch wirkt Papa wie ein fanatischer Despot, der die "sündige" Besucherin mutwillig in den Tod treibt, noch scheint die fromme Voichiţa mit ihrem Lebenswandel unzufrieden zu sein.

Letztendlich inszeniert Mungiu die Religion als bloss eine von vielen menschlichen Neurosen. Er benutzt den nicht näher definierten Wahnsinn Alinas, um sie als abstruses und heuchlerisches – aber nicht axiomatisch böses – System zu entlarven: Als Papa schliesslich von der Polizei gestellt wird, versucht er zunächst mit priesterlicher Leidenschaft seine Taten zu verteidigen, bis ihn einer der Beamten daran erinnert, dass "man zu seinen Fehlern stehen muss", dass man, wie Papa stets zu sagen pflegt, "beichten und bereuen" soll. Mit Besonnenheit, Klarsicht, Intelligenz und filmischer Verve propagiert Beyond the Hills einen kritischen Umgang mit Religion, einer gut gemeinten Einrichtung, die sich viel zu schnell jener Grausamkeit ergibt, die sie zu bekämpfen versucht.

★★★★

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