Ulrich Seidls Paradies-Trilogie ist ein eigenwilliges kleines
Gesamtkunstwerk, in dem die wahren Absichten des Regisseurs immer
knapp ausserhalb des Gesichtsfeldes des Zuschauers zu liegen
scheinen, verborgen hinter einem Schleier von mal zynischer, mal
sanfter Ironie. So manche Analyse muss unter Vorbehalt getätigt
werden: Zwar darf man Paradies: Liebe durchaus als bissige
Satire auf die moderne Form des europäischen Imperialismus werten,
doch wie fügt sich die mit viel Empathie gezeigte "kolonialistische"
Protagonistin in dieses Schema ein? Wie lässt sich das bittere
Porträt religiösen Extremismus in Paradies: Glaube mit der
offensichtlich bemitleidenswerten Hauptfigur vereinen? Hat sich der
Österreicher in seiner Titelwahl von den drei theologischen Tugenden
nach Paulus inspieren lassen oder muss man den Umweg über Ödön von
Horváths Theaterstück Glaube Liebe Hoffnung gehen?
Verschont bleibt man als Zuschauer von diesen Fragen auch in
Paradies: Hoffnung, dem Endstück des Kino-Triptychons, nicht,
wenngleich Seidls unbarmherzig kalter Blick hier einer Wärme weicht,
die – ob der Titel nun ironisch zu verstehen ist oder nicht – den
Figuren in den ersten zwei Teilen nicht vergönnt war. Dieses Mal
steht Melanie (Melanie Lenz), die Tochter von Teresa (Margarete
Tiesel in Liebe) und die Nichte von Anna Maria (Maria
Hofstätter in Glaube), im Mittelpunkt. Ihren Sommer verbringt
sie in einem Diätcamp auf dem österreichischen Land, wo sie und ein
gutes Dutzend andere übergewichtige Kinder und Jugendliche unter
Aufsicht einer Ernährungsberaterin (Vivian Bartsch) und eines
disziplinversessenen Turnlehrers (Michael Thomas) gegen die
überflüssigen Pfunde ankämpfen sollen. Melanies Interesse gilt
aber zunehmend dem knapp 50-jährigen Lagerarzt (Joseph Lorenz).
Ungeachtet der Hoffnung, die der Titel verspricht, erzählt auch
dieser Film primär von der Verzweiflung und letztendlich vom
Scheitern seiner Hauptfigur. Praktisch pausenlos jagt Melanie,
angestachelt von einer in Liebesdingen erfahreneren Freundin (Verena
Lehbauer), der wahnhaften Illusion hinterher, den von ihr begehrten
Arzt, ihre "erste grosse Liebe", verführen zu können.
Allerdings geht dieser anfangs auf die Avancen ein, indem er mit
grotesken, den Seidl'schen Realismus strapazierenden "Doktorspielen"
zu Melanies Obsession beiträgt – der subversive Coup de grâce des
Films, wenn man Österreichs Verhältnis zum Kindesmissbrauch in der
jüngeren Vergangenheit bedenkt; im Schatten von Filmen wie Michael
oder 3096 Tage zeigt ein einheimischer Regisseur, wie eine
Jugendliche einen 40 Jahre älteren Mann implizit dazu auffordert,
sie zu entjungfern.
Schlussendlich aber kommt es, wie es kommen muss; dem leider allzu
repetitiven Haupthandlungsstrang von Paradies: Hoffnung wird
mit dem vernünftigen Rückzieher des namenlosen Arztes ein Ende
gesetzt. "Warum?", schluchzt Melanie. "Weil es so
ist", sagt er. Das Gewicht von Moral, Gesetz und Gesellschaft
wiegt zu schwer. Niemals war Seidl der politischen Korrektheit so nah
wie in dieser Szene; der grosse Provokateur zeigt mit überraschender
Zärtlichkeit (und vielleicht auch einer Spur Herablassung seiner
jugendlichen Protagonistin gegenüber), dass das gesellschaftliche
Diktat, so unbefriedigend und einengend es auch sein mag, auch seine
guten Seiten hat. Im vorliegenden Fall bewahrt es Melanie vor einer
womöglich traumatisierenden Erfahrung, ihren Angebeteten vor Verlust
von Arbeit und Freiheit.
Vertrauliches Verhältnis zwischen Doktor und Patient: Melanie (Melanie Lenz) verliebt sich in den Lagerarzt (Joseph Lorenz). © Praesens Film |
Sein übergeordnetes Motiv, das flüchtige Paradies, findet Seidl
aber nicht in der Konformität – immerhin wird Melanie in einem
gutbürgerlich-biederen Dorf-Club fast vergewaltigt –, sondern
irgendwo zwischen Rebellion und Anpassung. Und genau dort setzt auch
die Hoffnung ein. Zwar lässt das idyllisch fotografierte Diätlager
kaum ein Klischee solcher Einrichtungen aus – insbesondere
bezüglich der Leibesübungen –, und der von Michael Thomas mit
komödiantischem Flair verkörperte Turnlehrer bedient sich, wie Anna
Marias Bet-Zirkel in Glaube, Parolen, wie man sie in
Österreich nach 1938 wohl hätte hören können ("Gemeinschaft
durch Disziplin!"); doch davon abgesehen, wird es von Seidl als
eine fast romantische Gegenwelt eines bizarren Utopia inszeniert.
Schon allein die Architektur suggeriert ein Doppelleben: Die
Symmetrie der nackten, weiss-grauen Wände wird durch wilde
Wandmalereien und Zickzack-Muster auf den Steinböden gebrochen.
Das Lagerleben der Insassen wiederum ist strikten Regeln unterworfen
– Handys sind täglich nur eine Stunde lang erlaubt, Ruhe nach
21.30 Uhr; Zuwiderhandlungen werden mit sinnlosen Übungen bestraft
–, welche die übergewichtigen Teenager in ihren rebellischen
Momenten durch ihre eigenen ersetzen. Wenn des Abends die Jungen die
Mädchen in ihren Zimmern besuchen, gilt das Credo, dass Bier für
diejenigen, die noch keine 14 Jahre alt sind, tabu ist. Wird
Flaschendrehen gespielt, küssen sich auch Geschlechtsgenossen
gegenseitig, ohne jede Proteste. Innerhalb der Trilogie schafft diese
Party-Szene, welche schliesslich vom vordergründig zornigen, aber
offenkundig interessierten Arzt aufgelöst wird, einen scharfen
Kontrast zu einer Obdachlosen-Orgie in Glaube. Während
Letztere die höllischen Bilderwelten des Hiernoymus Bosch evoziert;
ist Erstere ist ein letztlich harmloser Exzess, ein Jugend-Experiment
im Stile von Benjamin Leberts Pubertätsroman Crazy.
Leiden an der Sprossenwand: Leibesübungen gehören im bizarr-utopischen Diätcamp zum Tagesprogramm. © Praesens Film |
Gefeiert wird die Fete von einer Zusammenkunft von Scheidungskindern,
deren Desillusionierung noch nicht der Hoffnungslosigkeit Teresas
oder Anna Marias gewichen ist. Auch unter ihnen mag es intrigante,
zynische Individuen geben, die ihre Eltern mit Anrufen manipulieren,
ihre Freunde beschimpfen und Männer pauschal verfluchen (eine
Einstellung, welche mit ihrer Komposition nebeneinander liegender
fülliger Frauen exakt ein Bild aus Liebe widerspiegelt). Doch
Melanie, die in einer religiösen Lesart wohl die Jungfrau Maria
symbolisieren würde, gehört nicht dazu. Sie verkündet, zum
Entsetzen ihrer neuen Freundin, dass ihr der Charakter eines Jungen
wichtiger sei als sei Aussehen. Auf dem Höhepunkt ihres
Liebeskummers wendet sie sich per Telefon an ihre Mutter. In der
letzten Szene sieht man sie wieder lachen.
So wird klar: Die Titel gebende Hoffnung ist nicht zuletzt sie
selbst, die stärkste Frau ihrer Familie, der hoffnungsvolle Spross
einer verbitterten, bigotten Generation. Hoffnung, anders als Glaube
und Liebe, hat ihren Blick in die Zukunft, in Richtung Paradies
gewandt. Es ist die ausserordentlich befriedigende Schlussfolgerung
eines nicht immer überzeugenden Films. Auf Seidls Paradies-Reihe
trifft jedoch das von Michael Thomas an seine Diät-Zöglinge
weitergegebene Sprichwort, dass eine Kette nur so stark sei wie ihr
schwächstes Glied, keineswegs zu: Denn so zwiespältig Paradies:
Hoffnung auf sich alleine gestellt auch wirken mag, so gut
gedeiht er im Kontext dieser denkwürdigen Trilogie.
★★★★
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