La grande
bellezza in seiner ganzen
schwindelerregenden, 142-minütigen Pracht durchzustehen, bedeutet,
ihn noch einmal sehen zu müssen. Von den Einschränkungen realer
Begebenheiten befreit, welche in Il divo
der Fazination ab- und der Frustration zuträglich waren, zieht
Regisseur Paolo Sorrentino alle Register und setzt seinem Publikum
ein verwirrendes, überwältigendes Werk vor, ein Opus magnum im
klassischen Sinne, übersprudelnd mit Ideen, Motiven, Themen und
Kreativität.
Der
filmhistorische Präzedenzfall zur "grossen Schönheit", so
die deutsche Übersetzung des Titels, ist schnell gefunden. Pate beim
bizarren Rom-Spaziergang stand, neben sekundären Einflüssen wie
Ettore Scola oder Marco Ferreri, offenkundig Federico Fellini mit
seinen überbordenden Film-Fantasien La dolce vita,
8½ und Roma,
in denen sich Menschen eben jener Schönheit hingaben, beobachtet von
einem Protagonisten (zweimal Marcello Mastroianni) auf der Suche nach
dem Sinn dahinter.
Tatsächlich wirkt die Hauptfigur des 65-jährigen Jep Gambardella
(Toni Servillo) wie ein alt gewordener Mastroianni, der immer noch
mit gediegen gelangweilter Miene durch die Strassen Roms schlendert,
der vielleicht schönsten Stadt der Welt, und sich fragt, ob das
Leben wirklich einen Sinn haben kann, wenn man es in der
sinnentleerten Gegenwelt der feierwütigen Bourgeoisie verbringt.
Gambardella, der sich fast nur in mit genüsslicher Gravitas
vorgetragenen Zitaten auszudrücken scheint, ist ein gefeierter
Journalist; seine Spezialität sind Interviews mit Leuten, welche
dafür berühmt sind, berühmt zu sein. Mastroiannis Traum vom
eigenen Roman hat er sich schon vor Jahrzehnten erfüllt, doch für
ein Nachfolgewerk fehlt ihm der Antrieb.
Jetzt
ist die Zeit gekommen, wo er seiner hedonistischen Lebensweise
überdrüssig wird. Er beginnt, nach Inspiration zu suchen. Doch im
sich um sich selber drehenden Chaos der ewigen Stadt lauern nur
Enttäuschungen: Seine einzige grosse Liebe ist gestorben, sein
bester Freund sehnt sich nach der Ruhe der Provinz – eine Art
Umkehr von Fellinis I vitelloni –,
die selbstgerechten Intellektuellen-Dîners auf seinem Balkon
gegenüber dem golden beleuchteten Kolosseum sind unausweichlich und
nur in seinen Erinnerungen ist er mit sich und der Welt wirklich im
Reinen.
Gestrandeter Hedonist: Journalist Jep Gambardella (Toni Servillo) blickt auf ein Leben von Party-Exzessen zurück. © Pathé Films AG |
Sorrentino
erzählt diese Geschichte ohne feste Bezugspunkte – von den
unverwüstlichen Hauptakteuren Jep und Rom einmal abgesehen –, ohne
lineare Struktur und ohne Respekt für jedwede objektive Logik.
"Unsere Reise hier findet ganz und gar in unserer Fantasie
statt. Das ist ihre Stärke", kündigt schon das imposante Zitat
von Louis-Ferdinand Céline an, mit dem La grande bellezza
beginnt. Was folgt, ist ein
Bewusstseinsstrom, in dem die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit
zusehends verschwimmen und man als Zuschauer nach und nach
akzeptiert, die beiden Ebenen nicht mehr voneinander unterscheiden zu
können. Manche Sprünge, die Sorrentino vollführt, sind nur schwer
nachvollziehbar, zahlreiche Bilder entbehren eines direkt
ersichtlichen Sinns, vieles ist, ganz der Römer Hautevolee
entsprechend, purer, pompöser Selbstzweck – die kleinwüchsige
Chefredaktorin (Giovanna Vignola), die Performance-Künstlerin mit
rot gefärbtem Schamhaar, in das ein Hammer-und-Sichel-Symbol
einrasiert ist, die groteske Botox-Praxis.
Und
mittendrin in diesem mitunter frustrierenden Panoptikum steht Jep,
eine Figur irgendwo zwischen Voltaires Candide und Fitzgeralds Jay
Gatsby – klüger als Ersterer und souveräner als Letzterer –,
der unter Sorrentinos suggestiv-assoziativer Regie zur
Projektionsfläche für alle erdenklichen Interpretationen wird.
Durch ihn erhält man Einblick in das selbstverliebte, marode
Italien, welches Silvio Berlusconi nach fast eineinhalb Jahrzehnten
an der Spitze des Staates hinterlässt. Ein Land, welches vom Geld
neureicher Emporkömmlinge regiert wird, die anlässlich ihrer
Scheidungen Partys geben und sich zum Geburtstag Frieden in Nahost
wünschen. Ein Land auch, in dem sich die Mafia angewidert von der
Finanzwirtschaft abwendet und sich als jenes Organ versteht, welches
die wahren italienischen Interessen vertritt.
Heilig ist in Jeps Rom nichts mehr, auch nicht der Hobbykoch-Kardinal Bellucci (Roberto Herlitzka). © Pathé Films AG |
Auch
der Katholizismus ist ein Thema, der Vatikan ein Ausbund der
Lächerlichkeit, was aber kaum jemandem aufzufallen (oder aber ihn zu
stören) scheint. Statt den Papst besucht "La Santa" (Giusi
Merli), eine 104-jährige Nonne, die in 22-Stunden-Schichten Kranke
pflegt und in ihren Audienzen Katholiken, Protestanten, Orthodoxe,
Muslime, Juden, Buddhisten und Sikhs gleichermassen begeistert, Jep,
begleitet von einem bewunderten Kardinal, dessen Sermone sich auf das
Beschreiben von Rezepten beschränken. Hier erinnert La
grande bellezza an A
Serious Man; die angebliche
Heiligkeit ist nur noch Fassade, der Akt des Predigens wichtiger als
der eigentliche Inhalt. Bei Joel und Ethan Coen eignete sich ein
Rabbi Songtexte von Jefferson Airplane an, bei Sorrentino verleiht
der Favorit für das Pontifikat einer Anleitung für die Zubereitung
eines ligurischen Kaninchenbratens spirituelle Tiefe.
Doch
abseits von politischen und religiösen Lesarten ist La
grande bellezza auch ein Film
über das Altern und den Frieden, den man mit seinem Leben schliessen
kann und sollte. Denn schliesslich folgert Jep, dass der Schönheit,
welcher er sich 65 Jahre lang hingegeben hat, keine inhärente
Bedeutung zu Grunde liegt, dass ihr Sinn vielmehr darin liegt, sie
als solche zu erkennen und zu geniessen. Wem es gelingt, dies im
richtigen Masse zu tun, findet wenigstens ein Quäntchen Glück. Es
ist ein antiklimaktisches, aber durchaus stimmiges Ende zu einem
wilden, wirren, grossartig in Szene gesetzten Film.
★★★★★
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