Mittwoch, 31. Juli 2013

La grande bellezza

La grande bellezza in seiner ganzen schwindelerregenden, 142-minütigen Pracht durchzustehen, bedeutet, ihn noch einmal sehen zu müssen. Von den Einschränkungen realer Begebenheiten befreit, welche in Il divo der Fazination ab- und der Frustration zuträglich waren, zieht Regisseur Paolo Sorrentino alle Register und setzt seinem Publikum ein verwirrendes, überwältigendes Werk vor, ein Opus magnum im klassischen Sinne, übersprudelnd mit Ideen, Motiven, Themen und Kreativität.

Der filmhistorische Präzedenzfall zur "grossen Schönheit", so die deutsche Übersetzung des Titels, ist schnell gefunden. Pate beim bizarren Rom-Spaziergang stand, neben sekundären Einflüssen wie Ettore Scola oder Marco Ferreri, offenkundig Federico Fellini mit seinen überbordenden Film-Fantasien La dolce vita, und Roma, in denen sich Menschen eben jener Schönheit hingaben, beobachtet von einem Protagonisten (zweimal Marcello Mastroianni) auf der Suche nach dem Sinn dahinter.

Tatsächlich wirkt die Hauptfigur des 65-jährigen Jep Gambardella (Toni Servillo) wie ein alt gewordener Mastroianni, der immer noch mit gediegen gelangweilter Miene durch die Strassen Roms schlendert, der vielleicht schönsten Stadt der Welt, und sich fragt, ob das Leben wirklich einen Sinn haben kann, wenn man es in der sinnentleerten Gegenwelt der feierwütigen Bourgeoisie verbringt. Gambardella, der sich fast nur in mit genüsslicher Gravitas vorgetragenen Zitaten auszudrücken scheint, ist ein gefeierter Journalist; seine Spezialität sind Interviews mit Leuten, welche dafür berühmt sind, berühmt zu sein. Mastroiannis Traum vom eigenen Roman hat er sich schon vor Jahrzehnten erfüllt, doch für ein Nachfolgewerk fehlt ihm der Antrieb.

Jetzt ist die Zeit gekommen, wo er seiner hedonistischen Lebensweise überdrüssig wird. Er beginnt, nach Inspiration zu suchen. Doch im sich um sich selber drehenden Chaos der ewigen Stadt lauern nur Enttäuschungen: Seine einzige grosse Liebe ist gestorben, sein bester Freund sehnt sich nach der Ruhe der Provinz – eine Art Umkehr von Fellinis I vitelloni –, die selbstgerechten Intellektuellen-Dîners auf seinem Balkon gegenüber dem golden beleuchteten Kolosseum sind unausweichlich und nur in seinen Erinnerungen ist er mit sich und der Welt wirklich im Reinen.

Gestrandeter Hedonist: Journalist Jep Gambardella (Toni Servillo) blickt auf ein Leben von Party-Exzessen zurück.
© Pathé Films AG
Sorrentino erzählt diese Geschichte ohne feste Bezugspunkte – von den unverwüstlichen Hauptakteuren Jep und Rom einmal abgesehen –, ohne lineare Struktur und ohne Respekt für jedwede objektive Logik. "Unsere Reise hier findet ganz und gar in unserer Fantasie statt. Das ist ihre Stärke", kündigt schon das imposante Zitat von Louis-Ferdinand Céline an, mit dem La grande bellezza beginnt. Was folgt, ist ein Bewusstseinsstrom, in dem die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit zusehends verschwimmen und man als Zuschauer nach und nach akzeptiert, die beiden Ebenen nicht mehr voneinander unterscheiden zu können. Manche Sprünge, die Sorrentino vollführt, sind nur schwer nachvollziehbar, zahlreiche Bilder entbehren eines direkt ersichtlichen Sinns, vieles ist, ganz der Römer Hautevolee entsprechend, purer, pompöser Selbstzweck – die kleinwüchsige Chefredaktorin (Giovanna Vignola), die Performance-Künstlerin mit rot gefärbtem Schamhaar, in das ein Hammer-und-Sichel-Symbol einrasiert ist, die groteske Botox-Praxis.

Und mittendrin in diesem mitunter frustrierenden Panoptikum steht Jep, eine Figur irgendwo zwischen Voltaires Candide und Fitzgeralds Jay Gatsby – klüger als Ersterer und souveräner als Letzterer –, der unter Sorrentinos suggestiv-assoziativer Regie zur Projektionsfläche für alle erdenklichen Interpretationen wird. Durch ihn erhält man Einblick in das selbstverliebte, marode Italien, welches Silvio Berlusconi nach fast eineinhalb Jahrzehnten an der Spitze des Staates hinterlässt. Ein Land, welches vom Geld neureicher Emporkömmlinge regiert wird, die anlässlich ihrer Scheidungen Partys geben und sich zum Geburtstag Frieden in Nahost wünschen. Ein Land auch, in dem sich die Mafia angewidert von der Finanzwirtschaft abwendet und sich als jenes Organ versteht, welches die wahren italienischen Interessen vertritt.

Heilig ist in Jeps Rom nichts mehr, auch nicht der Hobbykoch-Kardinal Bellucci (Roberto Herlitzka).
© Pathé Films AG
Auch der Katholizismus ist ein Thema, der Vatikan ein Ausbund der Lächerlichkeit, was aber kaum jemandem aufzufallen (oder aber ihn zu stören) scheint. Statt den Papst besucht "La Santa" (Giusi Merli), eine 104-jährige Nonne, die in 22-Stunden-Schichten Kranke pflegt und in ihren Audienzen Katholiken, Protestanten, Orthodoxe, Muslime, Juden, Buddhisten und Sikhs gleichermassen begeistert, Jep, begleitet von einem bewunderten Kardinal, dessen Sermone sich auf das Beschreiben von Rezepten beschränken. Hier erinnert La grande bellezza an A Serious Man; die angebliche Heiligkeit ist nur noch Fassade, der Akt des Predigens wichtiger als der eigentliche Inhalt. Bei Joel und Ethan Coen eignete sich ein Rabbi Songtexte von Jefferson Airplane an, bei Sorrentino verleiht der Favorit für das Pontifikat einer Anleitung für die Zubereitung eines ligurischen Kaninchenbratens spirituelle Tiefe.

Doch abseits von politischen und religiösen Lesarten ist La grande bellezza auch ein Film über das Altern und den Frieden, den man mit seinem Leben schliessen kann und sollte. Denn schliesslich folgert Jep, dass der Schönheit, welcher er sich 65 Jahre lang hingegeben hat, keine inhärente Bedeutung zu Grunde liegt, dass ihr Sinn vielmehr darin liegt, sie als solche zu erkennen und zu geniessen. Wem es gelingt, dies im richtigen Masse zu tun, findet wenigstens ein Quäntchen Glück. Es ist ein antiklimaktisches, aber durchaus stimmiges Ende zu einem wilden, wirren, grossartig in Szene gesetzten Film.

★★★★★

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