Donnerstag, 29. August 2013

Pain & Gain

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.


Bombastisches, oft niveauarmes Actionkino bildet das Kerngeschäft des Michael Bay. Vielen gilt er als Inbegriff des anspruchslosen Popcorn-Blockbusters, manchen gar als Totengräber des Mediums. In seinem neuen Film, der unsteten Krimikomödie Pain & Gain, fordert er beide Standpunkte heraus.

Die vielleicht am stärksten nachhallende Einstellung in Pain & Gain dauert knapp zwei Sekunden. Angesiedelt ist sie in einer längeren Montagesequenz – in deren Dramaturgie sie keine essentielle Rolle einnimmt – und sie zeigt eine der Hauptfiguren als Silhouette im goldenen Abendlicht von Miami, wie sie neben einem Baum steht, dessen imposantes Geäst weit in den Bildrahmen hineinragt. Es ist eine beinahe perfekte Spiegelung eines ikonischen Tableaus, welches in Victor Flemings Hollywood-Klassiker Gone with the Wind zu finden ist. Michael Bay, der von zahllosen Cinephilen verachtete Regisseur von – finanziell erfolgreichen – Fliessband-Krachern wie Bad Boys (schrecklich) Armageddon (schrecklich) oder der Transformers-Trilogie (schrecklich), zitiert Gone with the Wind, den majestätischen Publikumsliebling von 1939.

Dies weist zwar nicht auf eine tief schürfende Veränderung in Bays Schaffen hin – er ist und bleibt der oberflächliche Ex-Werbefilmer –, wohl aber darauf, dass der bald bitterböse, bald infantile Pain & Gain in seiner Filmografie einen speziellen Platz einnimmt. Für einmal scheint Bay nicht ausschliesslich auf billige Unterhaltung abzuzielen. Die auf wahren Begebenheiten aufbauende, unverkennbar von den Werken der Coen-Brüder inspirierte Entführungskomödie lässt in ihren besten Momenten durchaus subversiv-satirische Züge erkennen.

Im Zentrum steht dabei der Amerikanische Traum und die für viele Menschen ernüchternde Realität. Mit dieser wird auch der muskelbepackte Fitnesstrainer Danny (Mark Wahlberg) konfrontiert, der Mitte der Neunzigerjahre unermüdlich für den persönlichen Erfolg schuftet. Doch nach und nach stellt der zwar sympathische, aber nicht sonderlich helle, junge Mann fest, dass es nicht die sich abrackernden "Macher" sind, welche von der boomenden Wirtschaft profitieren, sondern selbstgerechte Schnösel wie der milliardenschwere Unternehmer Victor Kershaw (Tony Shalhoub), der unter Dannys Aufsicht seinen Körper stählen will. Zusammen mit seinem besten Freund Adrian (Anthony Mackie) und dem frommen Ex-Sträfling Paul (Dwayne Johnson) plant Danny einen Coup: Victor soll entführt und dazu gezwungen werden, dem Trio sein Vermögen zu überschreiben. Einwandfrei gelingen will die Ausführung aber nicht.

Viele Muskeln, wenig IQ: Mit einer Entführung wollen Danny (Mark Wahlberg, Mitte), Adrian (Anthony Mackie, rechts) und Paul (Dwayne Johnson) reich werden.
© 2012 Paramount Pictures
Zu sagen, dass Bay sich in Pain & Gain als gereifter Filmemacher erweist, wäre übertrieben. "Reif" ist der Film mit seinen breit gestreuten Witzen über Sexspielzeug und Schwule fast ebenso wenig wie das stereotype "schwarze" Roboter-Zwillingspaar in Transformers: Revenge of the Fallen; Frauen sind einmal mehr blosse Staffage, leicht zu beeindruckende Stripperinnen, deren IQ sich sogar unter jenen von Danny, Adrian und Paul befindet.

Doch ein Blick hinter die Fassade lohnt sich. Bay, dessen Stil oft so wirkt, als habe er sich nie über die Werbe-Ästhetik der Neunzigerjahre hinaus entwickelt, erzählt in Pain & Gain eine fest in jener überschwänglichen Dekade verwurzelte Geschichte um Immigrantensöhne und -enkel, deren Nachnamen Lugo, Doorbal, Doyle oder DuBois lauten, und die frustriert sind von dem Versprechen, welches ihre Vorfahren einst nach Amerika lockte. Überall wehen die "Stars and Stripes", doch, so konstatieren die diversen Erzähler, ihre Ideale sind längst korrumpiert worden – durch die eigennützige Hochfinanz, durch lateinamerikanische Drogenbarone, durch asiatische Tiger-Ökonomien. Ähnlichkeiten mit den zeitgenössischen USA sind nicht von der Hand zu weisen.

Bay stellt dies in grellen, bisweilen auch drastischen Bildern und mit sich in stetigem Wandel befindlichem Filmmaterial dar, als wolle er nebst seiner kritischen Kommentare auch über seine eigene Karriere in Werbungen, Videoclips und Kinofilmen reflektieren. Das ist virtuos gemacht und hilft einem über die vielen ärgerlichen Passagen hinweg, welche Pain & Gain, Bays besten Film seit The Rock (1996), heimsuchen.

★★★

Donnerstag, 22. August 2013

Elysium

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Mit seinem zupackenden Langspielfilm-Debüt, dem parabelhaften Science-Fiction-Thriller District 9, schaffte es der südafrikanische Regisseur Neill Blomkamp nach Hollywood. Sein Zweitwerk Elysium schlägt in die gleiche Kerbe, wird aber durch die erzwungene Gesellschaftskritik beeinträchtigt.

Wenn Blomkamp als Filmemacher eine markante Schwäche hat, dann die, dass er sich in der Rolle des subversiv-ideologischen Revolutionärs zu sehr gefällt, dass er seinen kritischen Kommentaren zum Zeitgeist in seiner Arbeit zu viel Bedeutung beimisst. Zurückverfolgen lässt sich dies bis zu seinem viel beachteten Kurzfilm Alive in Joburg, die Basis zu District 9: Die fünfminütige Mockumentary besteht aus diversen Interviews, in denen sich Johannesburger Passanten scheinbar zu den Ausserirdischen äussern, welche, so die Prämisse, vor einigen Jahren in der Stadt gelandet und mittlerweile in Slums abgeschoben worden sind. Was erst im Nachhinein klar wird: Die oft unverhohlen rassistischen Aussagen der Befragten sind Originalzitate von echten Bürgern, welche ihrem Ärger über Gastarbeiter aus Simbabwe Luft machten. Spannend war dieses Konzept zweifellos, doch als Zuschauer hätte man gerne mehr über die Aliens erfahren, ihren Hintergrund, ihre Geschichte, ihre Interaktion mit Menschen. Also produzierte Blomkamp zusammen mit Peter Jackson District 9, welcher in drastischen Bildern vom brutalen Umgang der Menschen mit den extraterrestrischen Besuchern (dargestellt von lebensechten Puppen) erzählte.

Der Subtext blieb erhalten, doch er wurde angereichert mit einer anregenden, überraschend emotionalen Geschichte eines Alien-Jägers, der sich gezwungen sieht, mit einem seiner Opfer zu kooperieren. In District 9 erwies sich Blomkamp, einfach gesagt, als ein besserer Geschichtenerzähler als Sozialkritiker. Entsprechend wirkt Elysium diesbezüglich oft wie ein Rückschritt. Die Dystopie spielt im Jahr 2154 und zeigt eine ausgebeutete, verpestete Erde, auf der die Arbeiterklasse ein sklavisches Dasein fristet, während sich die Oberschicht auf dem rieisgen Weltraum-Habitat "Elysium" den technischen Annehmlichkeiten hingibt, zu denen auch die Fähigkeit gehört, sämtliche Krankheiten binnen Sekunden heilen zu können.

Blomkamps Plot dreht sich um den Arbeiter Max (Matt Damon), der bei einem Strahlenunfall mit Krebs infiziert wird und sich daraufhin in den Dienst eines Schwarzmarkt-Händlers stellt, um genügend Geld für eine Reise nach Elysium aufbringen zu können. Doch auf der entscheidenden Mission entführen er und seine Mitstreiter einen regierungsnahen Geschäftsmann, was Elysiums Verteidigungsministerin (Jodie Foster, welche aus nicht näher definierten Gründen Französisch spricht) dazu veranlasst, den skrupellosen Söldner Kruger (ein herausragender Sharlto Copley) damit zu beauftragen, Max zu fassen.

Bewaffnet mit einem modernen Exoskelett, versucht der arme Max (Matt Damon), auf die Luxus-Raumstation Elysium zu gelangen.
© 2012 Sony Pictures Releasing GmbH
Subtil ist an der Botschaft von Elysium wenig. Blomkamp, der betont, der Film sei ein Abbild der Welt von heute, arbeitet sich durch abgedroschene Tropen wie restriktive Einwanderungspolitik, das korrumpierte (amerikanische) Gesundheitswesen, Wohlstandsschere und Standesdünkel (ein Elysium-Abgesandter herrscht einen Arbeiter an: "Don't breathe on me"). Dabei durchläuft die mit einwandfreiem CGI auf die Leinwand gebannte Raumstation im dritten Akt eine klassisch marxistische Entwicklung; vom kapitalistischen Despotismus über die Diktatur des Proletariats Kruger) bis zur quasi-sozialistischen Erlösung der unschuldigen Menschheit, symbolisiert durch die rehäugige, leukämiekranke Tochter einer Freundin von Max.

Doch obwohl der Film weit weniger gewichtig ist, als er sich geriert, und obschon die Emotionen hier, anders als noch in District 9, hohl und konstruiert wirken, zeichnet sich Blomkamp auch im dichten, stringenten, äusserst effizient gemachten Elysium als talentierter Action-Regisseur aus, der sich an den richtigen Stellen vom "körperlichen" Stil eines David Cronenberg inspirieren lässt, und die von ihm ersonnene Welt mit seinen typischen Kameraflügen (und inflationärem Gebrauch von Zeitlupe) zum Leben erweckt. Trotz offenkundiger Defizite hebt sich auch sein zweiter Film vom gleichförmigen Gros der US-Actionstreifen ab.

★★★

Mittwoch, 21. August 2013

The Bling Ring

In einer perfekten Welt würde The Bling Ring nicht existieren und Regisseurin Sofia Coppola ist sich dessen vollauf bewusst. Der Film beruht auf den Titel gebenden "Bling Ring"-Einbrüchen, welche zwischen 2008 und 2009 die Prominenz der Hollywood Hills in Atem hielten. Jugendliche stiegen in die Anwesen von Stars wie Orlando Bloom, Megan Fox oder Paris Hilton ein und bedienten sich bei deren reichen Sammlungen von Mode-Produkten. Privilegierte Vorstadt-Bengel bestahlen superreiche Schauspieler und Models. Zu reellem Schaden ist niemand gekommen; im Grunde ist das Ganze also eine Lappalie.

Da aber die "Opfer" nun einmal bekannte Menschen aus Film und Fernsehen waren, wurde aus der an sich belanglosen Geschichte ein nationales Drama. Unter Federführung des multimedialen Promi-Klatschmagazins TMZ, welches regelmässig mit vernichtenden Editorialen über kleidertechnische "Todsünden" auffällt, stürzten sich die US-Medien – einschliesslich CNN und New York Times – auf die Raubzüge. Insider-Reporte über die Schuldigen folgte, darunter Nancy Jo Sales' Vanity Fair-Artikel "The Suspects Wore Louboutins", auf dem Sofia Coppolas Drehbuch aufbaut.

Namen wurden verändert, Vorgänge vereinfacht, doch die Geschichte, die facettenreich vom perversen amerikanischen Prominentenkult erzählt, blieb erhalten: Irgendwann im Jahr 2008 wechselt der Aussenseiter Marc (Israel Broussard) an die Indian Hills High School in Calabasas nahe Los Angeles. Dort freundet er sich mit Rebecca (Katie Chang) an, die einem ganz speziellen Hobby frönt: Diebstahl. Als diese sich jedoch von "normalen", auf allen vier Fronten verglasten Villen nicht mehr genügend herausgefordert fühlt, beginnt sie, sich mit Marc Zugang zu den Häusern berühmter Leute zu verschaffen. Bald formiert sich um die beiden eine modebewusste Räuber-Clique, bestehend aus Nicki (Emma Watson), Chloe (Claire Julien) und Sam (Taissa Farmiga), die sich die Accessoires iher Stil-Ikonen aneignen.

In der Bearbeitung dieses doch eher unfilmischen Stoffs treten Stärken wie auch Schwächen von Coppolas Stil hervor. Wieder einmal erweist sie sich als Virtuosin der langen, statischen Einstellung – unvergessen sind ihre diesbezüglichen Anfangsbilder, von Scarlett Johanssons Gesäss in Lost in Translation bis zu den sinnlosen Rennbahn-Runden, die Stephen Dorff in Somewhere mit seinem schwarzen Ferrari dreht. Hier bleibt vor allem die unbewegte Kamera in Erinnerung, deren kalter, teilnahmsloser Blick auf das Haus von Model-Sternchen Audrina Patridge gerichtet ist und wo der Zuschauer von ferne dazu eingeladen wird, Rebeccas und Marcs Streifzug durch die verschiedenen Räume zu beobachten.

Diebische Jeunesse dorée: Marc (Israel Broussard), Chloe (Claire Julien, Mitte) und Rebecca (Katie Chang).
© Pathé Films AG
Andererseits aber stösst Coppolas kontemplativer Stil in The Bling Ring mehrmals an seine Grenzen. Die geradezu frustrierende Neutralität, mit der sie die Auswüchse von Starkult porträtiert – bis zum Punkt, an dem der unterschwellige Zynismus kaum mehr als solcher erkannt wird –, stellt zwar ein brillantes Stück Provokation dar, doch sie behindert mitunter eben auch den Erzählfluss. Mit Ausnahme einiger inszenierter Interviewfetzen, in denen die "Beteiligten" (i.e. die Schauspieler im Rahmen der Film-Fiktion) ihre Sicht der Dinge schildern, verläuft ein Grossteil der Handlung irritierend gleichförmig: Einbruch, Feier, kurze Planung, nächster Einbruch.

Ihre dennoch nicht unbeträchtliche Schlagkraft entwickelt die Satire schliesslich in der Interaktion ihrer beiden Leitmotive, der ungesunden amerikanischen Faszination mit "Glitzer und Glamour" und der selbstgefälligen, zugleich prätentiösen oberen Mittelschicht, die sich, sei es aus Minderwertigkeitskomplexen, sei es aus unschuldiger Naivität, besonders hingerissen zeigt von TMZ-Artikeln und Perez-Hilton-Blogeinträgen. Anschauliches Beispiel dafür ist hier Laurie Moore, Mutter von Nicki und Adoptivmutter von Sam, von der herausragend besetzten Leslie Mann zu oberflächlicher Perfektion gespielt, welche ihre Töchter zu "wissenschaftlich-religiösen" New-Age-Betzirkeln zusammenruft, inspirative Collagen zu Ehren von Angelina Jolie bastelt und ihr Haus in grellen Barbie-Pastellfarben dekoriert hat.

Unter diesem Einfluss überrascht es nicht, dass die nächste Generation zu verzogenen, verwöhnten, gelangweilten, in Nickis Fall skrupellosen, in Marcs Fall beeinflussbaren, Narzissten heranwachsen, die Smartphone-Kamera stets auf sich selbst gerichtet, nach ihrer Verhaftung grosse Reden über "Amerikas ungesunde Bonnie-und-Clyde-Faszination" oder den eigenen humanitären Einsatz schwingend. Coppola gelingt dieses Porträt besser als Harmony Korine im ähnlich zynischen, aber weitaus dogmatischeren Spring Breakers, nicht zuletzt dank ihrer scharfen, von den jungen Schauspielern (Broussard, Chang und Julien sind Neulinge) treffsicher vorgetragenen Dialoge, die Substanz in der Leere und der sprunghaften Unehrlichkeit ("Just kidding! OMG! Chill!") des Bling-Ring-Idioms finden. Diskurse wie "Oh my god!" – "I know, right?" – "No way" – "Wow" – "Wow" (Originalzitat ohne Auslassung) deuten schmerzlich darauf hin, wie sinnentleert ein Leben wird, wenn man es ausschliesslich an Menschen ausrichtet, deren Berühmtheitsgrad bestenfalls zweifelhaft ist. The Bling Ring ist, passend zu seinem Thema, frustrierend brillant.

★★★★

Montag, 19. August 2013

Les invisibles

Wie hängen Kunst und Realität zusammen? Ken Loach sagte einmal, der einzige Grund, einen Film über die Vergangenheit zu machen, sei das Bestreben, etwas über die Gegenwart sagen zu wollen. Wie, wenn überhaupt, fügt sich der Dokumentarfilm in dieses Schema ein? Einige, zum Beispiel der Genre-Pionier Robert Flaherty, versuchen just dies – zeitgenössische Ideale hinterfragen –, andere (Searching for Sugar Man, Martin Scorseses einschlägige Projekte) wollen eine Geschichte erzählen, viele (Blackfish, The Invisible War, das Gesamtwerk von Michael Moore) zielen auf Agitation und politische Veränderung.

Bei Les invisibles gestaltet sich die Kategorisierung schwieriger. Politisch aufgeladen ist der Film an sich nicht, jedenfalls nicht explizit, obgleich er unter der Regie des bekannten Queer-Regisseurs Sébastien Lifshitz entstand. Seine aktuellsten politischen Äusserungen betreffen französische Provinzpolitik, die konkreten Parolen fallen lediglich im Zusammenhang mit der Pariser 68er Bewegung. Dass der ausladende, klassisch inszenierte Zeitzeugenbericht kein Wort über seine mutmassliche Motivation verliert, ist, so scheint es, raffiniertes Kalkül seitens von Lifshitz.

Denn Les invisibles handelt von Homosexuellen, ein Thema, welches seit geraumer Zeit die Gemüter in Frankreich erhitzt und seit einigen Monaten sogar – lange nachdem der Film bei den Césars als beste Dokumentation ausgezeichnet wurde – die Menschen zu Hunderttausenden auf die Strassen treibt. Stolz bezeichnen sich die Demonstranten, oftmals jünger als 30 Jahre, als "les homophobes"; die von Präsident François Hollande initiierte Gleichstellung von Homo- und Heteroehe finden sie inakzeptabel.

Lifshitz tritt dieser wachsenden konservativen Bewegung mit einer simplen Affiche entgegen: Seine Gesprächspartner sind schwule/lesbische Menschen im Spätherbst ihres Lebens, geboren in den Zwischenkriegsjahren. Sie alle haben miterlebt, wie die LGBT-Gemeinschaft in den letzten 65 unaufhaltsam gewachsen ist und sich ihren Platz in der Gesellschaft erstritten hat, gegen staatliche Diskriminierung und soziale Prüderie. Sie sind lebende Beweise, dass nicht-heteronormative Vorlieben keine Jugendflausen sind, dass Homosexualität nicht eine rebellische Trotzreaktion, sondern eine natürliche Veranlagung ist. "Warum soll ich mich dauernd quälen", fragt der Mittachtziger Pierrot, "indem ich mich frage, ob ich mit Männern oder Frauen glücklicher bin"? Liebe, wo die Liebe hinfällt – ob das Objekt dieser Zuneigung nun männlich oder weiblich ist, ist letztlich zweitrangig.

Monique, die Alt-68erin.
© Arthouse Commercio Movie AG
Pierrot, stolzer bisexueller Ziegenhirte, ist ohnehin der lebendigste von Lifshitz' Interviewten. Ohne Hemmungen erzählt er, wie er als Teenager einem Knecht bei der Selbstbefriedigung assistierte ("Das hat mir gefallen"); sein Gesicht verzieht sich zu einem breiten Grinsen, wenn er erklärt, dass auch Ziegenböcke grossen Gefallen am Masturbieren finden. In diesen Anekdoten enthalten ist ein direkter Angriff auf jene prüden Apologeten, welche damals (und wohl auch noch heute) keusche Enthaltsamkeit respektive Sex als blosses Mittel zur Fortpflanzung – worin homosexuelle Verhältnisse natürlich nicht eingeschlossen sein können – als höchstes Ideal der Natur zu verstehen glauben. (Als wollte er diese Verehrung von zielgerichteter Fortpflanzung ironisch kommentieren, eröffnet Lifshitz seinen Film mit der wunderschönen Geburtshilfe, welche das Paar Yann und Pierre, offenbar Betreiber einer Volière, einem schlüpfenden Vogel leisten.)

Andere erzählen von ihrer Kindheit, von der Entdeckung der eigenen Präferenzen, von den Erlebnissen, die sie über die Jahre gemacht haben. Es sind Geschichten von allumfassender Ausgrenzung: Pierre wurde streng katholisch erzogen und nach seinem Coming-Out von Freunden und Familie verfemt; Yann widerfuhr dasselbe in seinem kommunistisch geprägten Umfeld; Christian war so stark von seiner religiösen Erziehung geprägt, dass er jahrzehntelang mit Depressionen kämpfte; derweil Catherine und Eilsabeth, nachdem sie beide auf Grund ihrer Sexualität entlassen wurden, den Entschluss fassten, der Stadt den Rücken zu kehren und im Südwesten ein altes Bauerngut zu übernehmen.

Lifshitz, der niemals durch hörbare Fragen in den Vordergrund tritt, lässt sich Zeit, dem Publikum diese Atmosphäre der Intoleranz, wie sie in Frankreich noch weit bis in die Achtzigerjahre herrschte, zu vermitteln, um dann vom kleinen zum grossen Rahmen überzugehen und einige seiner Gegenüber, vornehmlich die Frauen, von den Studentenunruhen im Frühsommer 1968 erzählen zu lassen. Mit grosser Leidenschaft erzählt Monique, begleitet von illustrierenden Originalaufnahmen, wie ihre feministischen Proteste von begeisterten Grossmüttern am Strassenrand lauthals unterstützt wurden und wie, trotz nach wie vor weitreichender Ablehnung, der Triumph der Frauenbewegung auch ein Triumph der LGBT-Sache war. Les invisibles funktioniert auch als verständnisvolle Verteidigung des blauäugigen, heute gerne verspotteten Idealismus jener Tage; das Video einer jungen Demonstrantin, welche ein Traktat gegen die traditionelle Familie verlautbart, wird mit einem dünkelhaften englischen Bericht über eine Schwulenbar und zaghaften, ja ängstlichen, Berichten aus der damaligen französischen Presse über "le phénomène homo" gekontert.

Spätes Glück: Bernard und Jacques.
© Arthouse Commercio Movie AG
Der Film verliert sich stellenweise in diesen interessanten, aber repetitiven Passagen. Mit zunehmender Dauer verwandeln sich die ergreifend dargelegten Einzelschicksale in nacherzählte historische Abhandlungen. Les invisibles müsste nicht 115 Minuten lang sein. Doch Lifshitz findet schlussendlich in die Spur zurück, indem er seine Protagonisten nicht bloss als Homosexuelle, sondern als homosexuelle Senioren versteht, welche die gleichen Dinge umtreiben wie ihre heterosexuellen Alterskollegen. Thérèse spricht davon, wie Sex im Alter zur Unmöglichkeit wird, wenn man sich erst einmal davon losgesagt hat. Mit tränenverhangenen Augen philosophiert Monique über den Bahnhof in ihrem Heimatort und wie die alten Gemäuer eine eigene Erinnerung haben müssen. Pierrot ist zufrieden mit seinem Leben, welches erfüllt war von zahllosen "Eroberungen", wie er es nennt. "Gott ist nichts!", resümiert er. "Deinen Nächsten sollst du lieben". Lifshitz beendet seinen Film, der erst mit dem Wissen des Zuschauers um seinen politischen Hintergrund zum wichtigen Werk wird, mit den spät zusammen gekommenen, stets liebevoll flachsenden Bernard und Jacques auf einer Marseiller Fähre. Der eine legt den Arm auf die Schulter des anderen; gemeinsam geniessen sie das Panorama – ein schönes Bild. Warum sollte irgendjemand Anstoss daran nehmen, dass es sich bei den beiden um zwei Männer handelt?

★★★★

Sonntag, 18. August 2013

Rebelle

Kim Nguyens mit zehn kanadischen Screen Awards ausgezeichnetes Drama Rebelle ist ein Film in der Schwebe: zwischen abgründigem Realismus und märchenhafter Entrücktheit, zwischen drastischer Gewalt im Cinéma-vérité-Stil und kunstvollen, einfacher zu vermarktenden visuellen Euphemismen, zwischen kultureller Spezifität und skizzenhafter Vagheit.

Nguyens Titel gebende Hauptfigur ist Komona (die hervorragende Rachel Mwanza), die im Alter von zwölf Jahren von Rebellen entführt und zur Soldatin ausgebildet wird. Mittels hallzuinogener "magischer Milch" ist sie in der Lage, Geister zu sehen, was ihr schon bald den Ruf einbringt eine Hexe zu sein – sehr zum Gefallen des Rebellenführers (Mizinga Mwinga).

Dieser Teil der Handlung allein, welcher nur knapp die Hälfte des gesamten Filmes ausmacht, ist voller Ambiguität, welche mitunter Abbas Kiarostamis Kino der ewigen Unsicherheiten in Erinnerung ruft. Nguyen zeigt Mut, indem er Komonas Alltag als Kindersoldatin nicht partout als Hölle auf Erden inszeniert. Deserteure werden zwar erschossen, Jungen und Mädchen, viele kaum grösser als die Kalaschnikows, die sie tragen, als Zwangsarbeiter ausgebeutet; Fussballspiele und Geschichten am Lagerfeuer genügen nicht als Entschädigung. Doch auch Komonas nur kurz beleuchtetes Familienleben in baufälligen Barracken an einem mit Plastikmüll verschmutzten Flusslauf ist keine Utopie. Vielmehr stellt Nguyen ihr Leben in einen grösseren Zusammenhang; er erzählt von der Ausweg- und Perspektivlosigkeit im bürgerkriegsversehrten Afrika. So wird denn auch nicht abschliessend geklärt, wo Rebelle spielt. Gedreht wurde in der Demokratischen Republik Kongo, doch der Schauplatz steht in seiner Anonymität stellvertretend für so viele subsaharische Staaten, in denen Kinder für militärische Zwecke instrumentalisiert werden – Sierra Leone, Burundi, Uganda.

Dem gegenüber steht ein heitereres Intermezzo, in dem Komona mit dem etwas älteren Albino-Soldaten "Magicien" (Serge Kanyinda) die Flucht ergreift und Schutz bei dessen Onkel (Ralph Prosper) sucht, wobei auch hier gewichtige und heikle Fragen aufgeworfen werden. Gründet die aufblühende Liebe zwischen den beiden traumatisierten Jugendlichen darauf, dass Komona nach Monaten unter Magiciens Aufsicht dem Stockholm-Syndrom erlegen ist? Und wie glücklich kann man mit einer derartigen Vergangenheit im Leben überhaupt werden? Auch in jenen humoristisch angehauchten Episoden – etwa Magiciens Jagd nach einem weissen Hahn, den Komona als Preis für ihr Jawort verlangt – ist die düstere Realität nicht fern: Hausfrauen verteidigen Hab und Gut mit Sturmgewehren; ein in den Boden eingegrabener Autoreifen dient als subtiles Mahnmal an die Erzählung vom ungehorsamen Rebellen-Soldat, der einst dasselbe Schicksal erlitten haben soll.

Das vorübergehende Idyll: Komona (Rachel Mwanza) und Magicien (Serge Kanyinda) sind aus einem Kindersoldaten-Lager geflohen.
© Agora Films
Es ist ein tristes Bild, welches Nguyen vom modernen Afrika malt – natürlich hat die idyllische Zweisamkeit von Komona und Magicien nicht lange Bestand –, doch eines, welches weit über die Darstellung von Kriegsschrecken hinaus geht. Auch hier erweist sich Rebelle als ein Film der variablen Bezugspunkte. Wie Youssouf Djaoro in Mahamat Saleh-Harouns Un homme qui crie symbolisiert Komona die Pein vieler von Krieg und Armut geschundener afrikanischer Völker, doch durch ihre Geschichte erhält man auch Einblick in die komplexe Identität der multikulturell und -religiös geprägten Region zwischen Sahara und Kalahari.

In Rebelle treffen Stammestraditionen auf christliche Dogmen, abrahamitisch geprägten Aberglauben und politische Führerkulte. Für seine Rebellen ist Mizinga Mwingas Anführer eine mythische Figur mit dem verklärenden Titel "Grosser Tiger", ein Schamane weiht in Trance die Gewehre der Kindersoldaten, während Komona sich in ihrem Voiceover oft an einen frustrierend gleichgültig scheinenden Gott wendet und als angebliche Hexe bald verehrt, bald verteufelt wird. (Nguyens kreatives Meisterstück ist in diesem Zusammenhang die äusserst wirkungsvolle archaische Gestaltung von Komonas Geistervisionen – stumme, weiss bemalte Menschen mit leeren Augen, Figuren, die aus Souleymane Cissés Yeelen stammen könnten.) Doch trotz der Faszination, welche diese Vision einer afrikanischen "Pidgin-Religion" ausübt, stösst hier die Diskrepanz zwischen vager Andeutung und spezifischer Anspielung an ihre Grenzen. Es fällt schwer, ihr Glauben zu schenken, wenn sie nicht in einem zumindest grob definierten Kulturkreis angesiedelt ist.

Dennoch ist Nguyen mit seinem erst dritten Langspielfilm ein bemerkenswertes Werk voller spannender Implikationen gelungen, deren stimmiges oder – wenn man ein derartiges Projekt in den Händen eines Vietnam-Kanadiers so zu deuten beliebt – herablassendes Fazit eine Version des afrikanischen Sprichworts ist, dass eine Reise in der Gruppe am weitesten führt. Frieden herrscht in Rebelle, von der Albino-Parallelgesellschaft bis zu in Armut vereinten Anhaltern, nur in der Gemeinschaft.

★★★★

Samstag, 17. August 2013

The Sapphires

Man möchte meinen, dass ein auf wahren Begebenheiten beruhender Film über eine aus australischen Ureinwohnerinnen zusammengesetzte Sechzigerjahre-Soulband, welche gegen Vorurteile und Rassismus zu kämpfen hat, seine Energie, seine Seele, aus der ermächtigenden Kraft der Musik schöpft, die er in den Mittelpunkt rückt. Sicher nicht zu erwarten ist, dass er erst durch die anregende Präsenz eines irischen Fernsehschauspielers, der in den vergangenen Jahren vor allem durch Nebenrollen in derben US-Komödien wie Bridesmaids oder This Is 40 aufgefallen ist, zu jener vergleichsweise denkwürdigen Wohlfühl-Dramödie wird, die er ist.

Doch genau das passiert in The Sapphires: Wayne Blairs beschwingte Verfilmung von Tony Briggs' gleichnamigem Theaterstück ist zuallererst ein Beleg für die schauspielerische Potenz ihres männlichen Hauptdarstellers Chris O'Dowd. Der durch Graham Linehans Sitcom The IT Crowd bekannt gewordene Komödiant bringt als heruntergekommener Musikproduzent Dave Lovelace Leben in die etwas steife Figurenwelt des von Briggs mitverfassten Skripts, sei es durch scharfzüngige Witze, anrührende kleine Momente oder schlicht die freilaufenden Kadenzen seines durch keine geschriebenen Dialogzeilen gebunden scheinenden Dialekts. O'Dowds nuanciertem Spiel allein ist es zu verdanken, dass Daves Probleme – darunter ein wunderbar subtiler Verweis auf das Scheidungsverbot, welches zu der Zeit, in der The Sapphires spielt (1968), in Irland noch in Kraft war – weniger artifiziell wirken als jene seiner vier singenden Hauptdarsteller-Kolleginnen.

Dies hängt allerdings weniger mit schauspielerischen Defiziten – Deborah Mailman, Jessica Mauboy, Miranda Tapsell und Shari Sebbens spielen und singen ohne Fehl und Tadel – als mit der doch arg formelhaften Dramaturgie zusammen. In ihrem Drehbuch erzählen Briggs, dessen Bühnenstück auf den Erlebnissen seiner Mutter basiert, und Keith Thompson von The Sapphires, eine aus den Schwestern Gail (Mailman), Julie (Mauboy), Cynthia (Tapsell) und der in einem weissen Internat aufgewachsenen Kay (Sebbens) bestehende Soulgruppe, die sich mit Hilfe von Dave Lovelace erfolgreich darum bewirbt, vor den in Vietnam stationierten US-Truppen aufzutreten.

Vor diesem Hintergrund werden Motive aus dem australischen Aborigines-Kino, etwa Phillip Noyces Rabbit-Proof Fence (ebenfalls mit Mailman), mit Anklängen an musikalische Dramen vom Typ Dreamgirls oder Dustin Hoffmans Quartet kombiniert. Mal implizit (ein Taxi hält für die Protagonistinnen nicht an), mal explizit (die "gestohlene Generation" von hellhäutigen Aborigines-Kindern, welche indigenen Familien von den Behörden entrissen wurden, ist zentral) wird auf die bis heute anhaltende Diskriminierung der Aborigines durch das weisse Australien hingedeutet – ein gewichtiges Anliegen, welches Regisseur Blair mitunter augenzwinkernd konterkariert, etwa indem er eine Brücke zwischen engstirnigen Rassen-Bildern und dem Stereotypisieren von Musikern ("lead singer", "the sexy one") schlägt.

Zusammen mit Manager Dave Lovelace (Chris O'Dowd) touren die Soul-Schwestern Kay (Shari Sebbens, links), Cynthia (Miranda Tapsell, Mitte), Gail (Deborah Mailman, 2.v.r.) und Julie (Jessica Mauboy) durch das kriegsversehrte Vietnam.
© Ascot Elite
Ansonsten dreht sich The Sapphires um Familienzusammenhalt und Streitereien unter Geschwistern, um Konflikte, die sich an Liebesdingen, den Gefahren des Kriegsgebietes Vietnam oder der unsteten Band-Hackordnung entzünden. Mit Ausnahme einer erfrischenden, wenn auch kleinformatigen Genre-Subversion – Lovelaces obligates romantisches Interesse gilt nicht der Schönheitskönigin der Band – bewegt sich der in groben Strichen gehaltene Plot in ruhigen, weitgehend überraschungslosen Bahnen, von Blair effizient und ohne penetrantes Verweilen auf Details in Szene gesetzt.

Dissonanzen entstehen im überwiegend solide strukturierten Drehbuch vor allem durch zweifelhafte dramaturgische Entscheidungen – mehrmals stellt gemeinsames Singen (stets mit makelloser Akustik) allzu schnell einen Konsens her, der kurz zuvor noch unerreichbar schien – oder die nur ungenügend redigierte Konzeption des dritten Aktes. Dieser wird mit der unglaubwürdigen Wendung eingeführt, dass Dave und The Sapphires ihren Weg zum letzten Auftrittsort alleine, ohne Militäreskorte finden müssen. Diverse Trailer liessen vermuten, dass dies zu einer Konfrontation mit Vietcong-Soldaten führen würde. Da dies in der finalen Fassung fehlt, entbehrt auch die nachdrückliche Betonung der potentiell fatalen Reisesituation jeglicher dramatischer Berechtigung.

Wer sich jedoch allzu intensiv mit den Mängeln von The Sapphires auseinandersetzt, wird sich schnell in Haarspaltereien (ist diese Reaktion vollumfänglich stimmig?) und Gemeinplätzen (hier wird dem Diktat der Konvention entsprochen) verlieren. "Leave that to the morons who judge by counting faults", lautet ein Zitat aus A Late Quartet, einem anderen Musikfilm jüngeren Datums. Geniesse, was zu geniessen ist. Und zu geniessen gibt es im herzerwärmenden The Sapphires wahrlich genug.

★★★

Donnerstag, 15. August 2013

Trance

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.

Filme wie Trainspotting, Slumdog Millionaire oder 127 Hours bezeugen die unbestrittene Klasse des englischen Regisseurs Danny Boyle. Trance ist zwar virtuos gemacht, doch der verschachtelte Psychothriller ersetzt menschliches Interesse durch blasierte künstlerische Selbstgefälligkeit.

Fast erwartet man, dass, wenn nach 100 Minuten der Abspann über die Leinwand rollt und man immer noch versucht, die unablässig ineinander verzahnten Handlungsebenen des soeben Gesehenen voneinander zu trennen, Danny Boyle sich höchstpersönlich ans Publikum wendet und mit einem frechen Grinsen fragt: "Did you get it? Habt ihr alles kapiert?". Denn Trance ist einer jener Filme, die dem Fehlschluss erlegen sind, dass eine komplizierte Dramaturgie inhaltlicher Substanz gleichkommt, eine Auffassung, die sich im angelsächsischen Kino primär dank des Erfolges von Christopher Nolan angesiedelt hat. Dessen Werke – Memento, The Prestige, The Dark Knight, Inception (mit dem Trance gerne verglichen wird) – jonglieren regelmässig mit der erzählten Chronologie, Figurenperspektiven und unzuverlässigen Erzählern, frei nach Jean-Luc Godards berühmtem Bonmot, ein Film müsse einen Anfang, eine Mitte und einen Schluss haben – wenngleich nicht zwingend in dieser Reihenfolge.

Doch was Nolans (und, ganz nebenbei, auch Godards) Kino über jenes erhebt, welches Boyle in Trance zelebriert, ist das Gefühl für den Zuschauer, das Wissen darum, dass das Publikum nicht von den Haken, die ein Plot schlägt, gefesselt wird, sondern von den Charakteren, den Konflikten, den Ideen, die ihn bevölkern. Dass die Manipulation des Kinogängers zu den Grundfesten des Mediums gehört (man denke an Alfred Hitchcock), entschuldigt nicht den eklatanten Verzicht auf jedweden Respekt für das Publikum.

Der Film handelt vom Dreiecksgespann Simon (James McAvoy), einem verschuldeten Auktionshaus-Angestellten, Franck (der wie gewohnt starke Vincent Casssel), einem mafiösen Nachtclub-Besitzer, und Elizabeth (Rosario Dawson, deren überflüssige Nacktszene ans Pornografische grenzt), einer Hypnotiseurin. Ersterer stiehlt im Auftrag des Zweiten ein unbezahlbares Goya-Gemälde, reisst es sich aber selber unter den Nagel. Weil er jedoch seit einem Schlag auf den Kopf an Amnesie leidet, erinnert sich Simon nicht mehr daran, wo er das Kunstwerk versteckt hat. Also engagiert Franck Elizabeth, deren Therapie die Erinnerung freilegen soll.

Nichts ist, wie es scheint: Hypnotiseurin Elizabeth (Rosario Dawson) versucht, Simons (James McAvoy) Amnesie zu heilen.
© Pathé Films AG
"Where is the painting?", ist ein Satz, den man in Trance sehr oft hört – als hofften Boyle und das Autorenduo Joe Ahearne/John Hodge, denen als Inspiration ein gleichnamiger TV-Film aus dem Jahr 2001 diente, dass dadurch das Interesse an Stoff und Story wachsen würde. In Tat und Wahrheit jedoch bleibt die Suche nach dem gestohlenen Bild, wie auch ihre Protagonisten, stets ein emotional kaltes, distanziertes, gänzlich humorfreies Konstrukt, welches zwar zusehends intensiver, brutaler und verworrener wird, aber niemals zu packen vermag. Alles ist Boyles formal gekonnt in Szene gesetzter Raffinesse unterworfen, die sich jedoch, wie bald klar wird, in endlosen Spiegelungen, Brechungen und den für Kameramann Anthony Dod Mantle typischen Dutch Tilts (Einstellungen in Schräglage) erschöpft.

Dabei sind durchaus Anklänge an klassische Suspense-Thriller im Stile von Alfred Hitchcock erkennbar; gewisse Tendenzen erinnern an Frühwerke David Cronenbergs wie etwa Crash; und mitunter schwingt auch die Atmosphäre von John Boormans verkanntem Meisterstück Point Blank mit. Doch solche Vergleiche befriedigen nicht, denn Trance entbehrt jeglicher Substanz hinsichtlich Narration und Charakterzeichnung. Es ist der oberflächlich elegante, innerlich marode Versuch eines selbstzufriedenen Regisseurs, sein Publikum zu narren – einzig und allein deshalb, weil er es kann. Das ist eitler Selbstzweck. Das ist Betrug.

★★

Mittwoch, 14. August 2013

The Lone Ranger

Western, quo vadis? 36 Jahre nach dem Tod von Howard Hawks, 40 nach dem von John Ford, gar 46 nach dem von Anthony Mann fristet das Genre in Hollywood ein Schattendasein. Genuine Einträge wie Andrew Dominiks The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford oder die True Grit-Neuauflage der Coen-Brüder sind Parodien (Shanghai Noon, Bandidas) und postmodernen Subversionen wie etwa Quentin Tarantinos Django Unchained – wo das Setting ohnehin der Marketing-Affiche "Tarantino macht..." unterworfen ist –, zahlenmässig unterlegen.

Dementsprechend überraschend ist es, dass sich ausgerechnet Gore Verbinskis 225-Millionen-Dollar-Flop The Lone Ranger zu jenen wenigen Werken der jüngeren Vergangenheit gesellt, welche dem Sinn und Geist des altehrwürdigen Genres gerecht werden. Trotz unübersehbarer Defizite beweist Verbinski, Oscargewinner für Rango sowie der Kopf hinter den ersten drei Filmen der Pirates of the Caribbean-Reihe, in diesem kindlich-verspielten Abenteuerfilm, dass er den Western in seiner ganzen Glorie verstanden hat.

Basierend auf dem Titel gebenden Proto-Superhelden, welcher sein Debüt im Januar 1933 in einer Detroiter Radiosendung feierte, erzählt Verbinski ein erfrischend altmodisches Wildwest-Märchen, in dem sich der gutbürgerliche Anwalt John Reid (Armie Hammer) mit dem schrulligen Comanche-Indianer Tonto (Johnny Depp) verbündet, um Jagd auf Butch Cavendish (William Fichtner) zu machen, den Mörder seines Bruders (James Badge Dale), und sich dabei das maskierte Alter Ego "Lone Ranger" aneignet. Hierbei ist die Geschichte des Westerns ähnlich greifbar wie diejenige des Stummfilms in Pablo Bergers Blancanieves; Anspielungen sind im Überfluss vorhanden, doch sie sind fast ausnahmslos vage genug, um als Belege für den anhaltenden Einfluss der alten Meister zu dienen.

Zwar enthält der Film mehrere direkte visuelle Zitate: Die Gruppe von Gaunern, welche vor dem Verschlag eines nervösen Stationsvorstehers auf einen Zug wartet, greift gleichermassen die ikonische Szene in Fred Zinnemanns High Noon respektive Sergio Leones Once Upon a Time in the West auf, während Armie Hammer William Fichter wie einst Eli Wallach Clint Eastwood in The Good, the Bad and the Ugly am Gängelband durch die Wüste führt. Auch John Ford erweist Verbinski seine Reverenz, indem er das Monument Valley, das geografische Zentrum des Ford'schen Westerns, prominent in seine (von Bojan Bazelli hervorragend eingefangene) Bilderwelt integriert – ungeachtet der Tatsache, dass sich das Valley in Utah befindet, The Lone Ranger aber ausdrücklich in Texas angesiedelt ist. Sogar der Stummfilm kommt in Form eines an D. W. Griffiths The Battle at Elderbush Gulch angelehnten Indianer-Angriffs zu seinem Recht.

Ein Hauch von Ford: Monument-Valley-Panorama.
© Disney
Noch spannender ist es allerdings, den Film anhand seiner abstrakteren intertextuellen Verbindungen in den Genre-Kontext zu stellen. Diese sind einerseits technischer Natur: Ohne offenkundige Not macht Verbinski von der heute nur noch selten benutzten "amerikanischen Nacht" Gebrauch, wie man sie in den Filmen Fords und Hawks' oft (und mit variierendem Erfolg) gesehen hat; "Big Sky"-Panoramen sind keine Seltenheit; die gemalte Leinwand, vor der ein gealterter Tonto 1933 die Geschichte des Lone Rangers darlegt, evoziert die Zeit, in der die Wüste im Hollywood-Studio mit Karton-Kakteen und Wagenladungen Sand nachgestellt wurde.

Doch auch der Untergang des alten Westens, das vielleicht zentrale Motiv des Genres, welches in so vielen zeitgenössischen Versuchen ausser Acht gelassen wird, findet in The Lone Ranger Erwähnung. Butch Cavendish entpuppt sich als Handlanger von Latham Cole (Tom Wilkinson), einem fortschrittsbesessenen Eisenbahnmagnaten, der ihn als "the last of a dying breed" bezeichnet: So wird Cavendish zu einem Cousin von Lee Marvins Liberty Valance und Henry Fondas Frank erhoben, Cole implizit zum Geistesverwandten von Gabriele Ferzettis Mr. "Choo Choo" Morton. Und wenn schliesslich der greise Tonto zu bedenken gibt, dass sein jugendlicher Zuhörer (Mason Cook) selber entscheiden muss, ob er die Mär vom Lone Ranger als Wahrheit akzeptiert – die Ehrenrettung eines anderweitig bestenfalls zweifelhaften Erzählelements –, glaubt man, jenen Kernsatz des Westerns zu hören, wie er in The Man Who Shot Liberty Valance gesprochen wurde: "When the legend becomes fact, print the legend".

Aber The Lone Ranger ist eben auch ein Film über einen Vorreiter der genmutierten Supermenschen, welche Ende der Dreissigerjahre die Fantasie der amerikanischen Jugend im Sturm eroberten, ein maskierter Rächer der Unschuldigen und Hilflosen. Und als solcher wird er auch von Verbinski verstanden. Sein Film distanziert sich entschieden vom düsteren Existenzialismus von Iron Man 3, Man of Steel oder Christopher Nolans Batman-Trilogie und feiert John Reid alias Lone Ranger als einen reinherzigen – wenn auch häufig widerwilligen – Helden ohne Anspruch auf jedweden Realitätsbezug.

Rächer der Hilflosen: The Lone Ranger (Armie Hammer, rechts) mit seinem schrulligen Comanche-Freund Tonto (Johnny Depp).
© Disney
Verbinski mag allzu stark Gefallen an dieser Affiche finden – der Film hat mit 150 Minuten leichte Überlänge, vor allem angesichts einiger unnötiger Umwege –, doch es gelingt ihm, ähnlich wie Andrew Stanton im ebenfalls zu Unrecht gefloppten Science-Fiction-Märchen John Carter, die Begeisterung des Zuschauers für das haarsträubende, hoffnungslos antiquierte Treiben auf der Leinwand zu wecken. Somit erübrigen sich Logik-Einwände gegen die finale – brillant inszenierte – Verfolgungsjagd, bei der Reid und Tonto auf zwei fahrenden Zügen atemberaubende Stunts vollführen. Selbst Armie Hammers übertriebenes Mienenspiel wird vor diesem Hintergrund zu einer nostalgischen Verneigung vor der allumfassenden Künstlichkeit der alten Lone Ranger-Serials, welche sich im Amerika der Dreissigerjahre grosser Beliebtheit erfreuten.

Gänzlich entschuldigen können die lobenswerten Aspekte die überdeutlichen Schwachstellen von Verbinskis Film leider nicht. So falliert der Versuch von Humor an vielen Stellen, während der übertriebene Fokus auf Tonto – was wohl auf Johnny Depps Status als Publikumsmagnet zurückzuführen ist – dem Erzählfluss nicht immer zum Vorteil gereicht. Trotzdem bleibt The Lone Ranger positiv in Erinnerung: als stilsichere Liebeserklärung an den Western, als unüblich menschlich ausgerichtete Jerry-Bruckheimer-Produktion, als höchst unterhaltsames Abenteuer, wie man es nur aus dem Kino kennt.

★★★

Donnerstag, 8. August 2013

Gambit

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.


Inspiriert von Ronald Neames Komödie Gambit aus dem Jahr 1966, leitete Produzent Mike Lobell 1997 ein Remake unter gleichem Titel in die Wege. Nach etlichen durch Neubesetzungen und -fassungen verursachten Verzögerungen kommt der Film nun in die Kinos. Das Warten hat sich nicht gelohnt.

Das Sprichwort "Zu viele Köche verderben den Brei" trifft gerade in des Öfteren zu. Ist ein Projekt erst einmal in der sogenannten "Development hell" gefangen, der Entwicklungshölle, in der beraten, neu aufgesetzt und fieberhaft nach interessierten Autoren, Regisseuren und Darstellern gesucht wird, besteht selten Hoffnung auf Rettung. Die wenigsten Filme, welche nach dieser Tortur überhaupt noch realisiert werden, vermögen zu überzeugen. Dies gilt auch für Gambit, mit dem, bevor Michael Hoffman (A Midsummer Night's Dream, The Last Station) als Regisseur übernahm, eine Vielzahl von Namen verbunden wurden. So unterschiedlichen Filmemachern wie Alexander Payne, Mike Nichols, Anand Tucker, Bo Welch, Richard LaGravenese, Doug Liman und sogar Robert Altman wurde der Platz auf dem Regiestuhl angeboten; Prominente wie Reese Witherspoon, Ben Kingsley, Jennifer Aniston, Gerard Butler, Hugh Grant und Sandra Bullock wurden in verschiedenen Projektstadien als Darsteller gehandelt. Am Drehbuch waren neben Mike Lobell, Aaron Sorkin und Frank Cottrell Boyce auch die Brüder Joel und Ethan Coen (Fargo, The Big Lebowski, No Country for Old Men) beteiligt, deren Namen nun das Poster schmücken.

Doch die Frage drängt sich auf, wie viel von Gambit tatsächlich aus der Feder der beiden Meister des absurd-schwarzen Humors stammt. Berichten zufolge soll nämlich Interimsregisseur LaGravenese viele ihrer – vom späteren Hauptdarsteller Colin Firth damals für "brillant" befundenen – Änderungen rückgängig gemacht haben, darunter etwa die Entscheidung, die Handlung des Films, der mittlerweile nur noch marginal mit Ronald Neames Original zusammenhängt, von Grossbritannien in die USA zu verlegen. Davon abgesehen, fehlen dem Skript über weite Strecken der hintersinnige Biss und der Sinn für Subversion, was die Komödien der Coens – auch die unterbewerteten Intolerable Cruelty und The Ladykillers (auch ein Remake) – stets ausgezeichnet hat. Verblieben sind diese Tugenden allenfalls in der angedeuteten, aber nie voll ausgeschöpften Vielschichtigkeit der weiblichen Hauptfigur oder den japanischen Geschäftsmännern, deren Bekräftigung westlicher Vorurteile reine Verhandlungsstrategie ist ("Time to bust out the zen").

Kurator Harry Deane (Colin Firth) spannt das Cowgirl PJ (Cameron Diaz) ein, um einen arroganten Milliardär zu betrügen.
© Ascot Elite
So wurde aus einer einst durchaus attraktiven Affiche einer jener müden Komödien-Versuche, in denen Innovation rar ist und echter Witz nur sporadisch aufblitzt, ein schnell vergessenes Werk im Stile von Dan Mazers I Give It a Year oder Justin Zackhams The Big Wedding. Der Plot, zusammengesetzt aus fragwürdigen Motivationen und versandenden Szenarien, dreht sich um den Londoner Kurator Harry Deane (Colin Firth), der mit Hilfe eines Hobby-Künstlers (Tom Courtenay) seinen unausstehlichen Chef Lionel Shabandar (Alan Rickman) betrügen will, indem er ihm einen gefälschten Monet unterjubelt, den er angeblich im Wohnwagen des Cowgirls PJ (Cameron Diaz) gefunden hat.

Der Geist der Gebrüder Coen ist immerhin in Form der grundlegenden Struktur spürbar, welche dem Ganzen Harrys Vision des perfekten Plans voranstellt und in den darauf folgenden 75 Minuten zeigt, wie die Realität vom eben nur scheinbar einfachen Konzept abweicht. Das Coen-Œuvre ist gespickt mit misslungenen Plänen, deren Ziel das schnelle Geld ist – von Raising Arizona, Fargo und The Big Lebowski bis The Man Who Wasn't There, The Ladykillers, No Country for Old Men und Burn After Reading. Doch hier fehlen neben einem klar ersichtlichen Motiv auch die Feinheiten von Harrys Fischzug. Shabandar wird basierend auf einer knapp zehnsekündigen Rückblende und den offenkundig übertriebenen Fantasien von Harry zum berechtigten Opfer erklärt, während die finale "Wendung" – so einfach wie geistlos – blosse Improvisation als einen alles überragenden Masterplan zu tarnen versucht. Erzählt wird diese unspektakuläre Räuberpistole mit einem entschiedenen Mangel an Witz und Dynamik; einzig die engagierten Darbietungen von Colin Firth und Cameron Diaz sorgen für vereinzelte humoristische Lichtblicke. Zu retten ist dieser verdorbene Brei allerdings nicht.

★★

Freitag, 2. August 2013

Frances Ha

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Region.


Er ist eine angesehene Figur im amerikanischen Indie-Kino, sie ein aufstrebendes Talent in derselben Szene. Nun haben sich Noah Baumbach und Greta Gerwig zu einem gemeinsamen Projekt zusammengefunden, der sympathischen, aber zuweilen etwas allzu leichtgewichtigen Milieustudie Frances Ha.

Darin erzählen Regisseur/Co-Autor Baumbach (The Squid and the Whale, Margot at the Wedding, Greenberg) und Hauptdarstellerin/Co-Autorin Gerwig (Greenberg, Damsels in Distress, To Rome with Love) von der Titel gebenden Frances, 27, deren Leben sich in den New Yorker In-Quartieren zwischen Tribeca, Chinatown und Williamsburg abspielt, wo sich die – zumeist jungen – Menschen durch ironisch verdrehte Äusserungen wie "I got fired a million times – makes you cool" oder "This apartment is very aware of itself" auszeichnen. Es ist ein Hipster-Mekka; markante Brillenrahmen und Fedora-Hüte sind fester Bestandteil des Dresscodes, man trägt altmodische Polaroid-Kameras mit sich herum, künstlerische Ambitionen hegt praktisch jeder.

So auch Frances, seit Jahren aktives, aber hierarchisch untergeordnetes, Mitglied einer Gesellschaft für modernen Tanz. Ihr kleines Gehalt verdient sie sich mit Ballettstunden für Kinder, während ihre Mitbewohnerin und beste Freundin Sophie (die wundervoll nuancierte Mickey Sumner) im "echten Leben" angekommen und fest bei einem Verlagshaus angestellt ist. Zusammen entfliehen sie dem drögen Grossstadtleben mit ihren Idiosynkrasen – spontanen Tanzeinlagen, nachgestellten Faustkämpfen oder Scherz-Kosenamen ("Hey, sexy!").

Als Sophie jedoch zu ihrem Freund zieht, steht Frances auf verlorenem Posten da und muss sich in ihrem Leben neu zurechtfinden; es folgen temporäre Fluchten ins Appartement zweier Freunde (Adam Driver, Michael Zegen), zur Familien-Weihnachtsfeier im kalifornischen Sacramento, nach Paris. Stringent strukturiert sind diese Episoden mitnichten. Die Dramaturgie ist der Geschichte angepasst. Szenen folgen assoziativ aufeinander, grössere Zeitsprünge werden parallel zu Frances' Umzügen durch Adressen als Kapiteltitel markiert. Die eigentliche Erzählung ist wenig mehr als eine Sammlung von Vignetten, die mal Woody Allen'sch-absurd, mal peinlich-unangenehm im Stile von Lena Dunhams TV-Serie Girls sein kann. Das versöhnliche Ende wirkt zu geschmeidig und allumfassend.

Mit Exzentrik gegen den drögen Alltag: Frances (Greta Gerwig, rechts) und ihre beste Freundin und Mitbewohnerin Sophie (Mickey Sumner).
© filmcoopi
Doch Baumbach und Gerwig finden viel Wahrheit in ihren Szenarien. Zwar versteht sich Frances Ha mit seinem schwarzweissen Retro-Chic (der allerdings eher Oh Boy als Manhattan evoziert) und seinen liebevollen Seitenhieben auf die New Yorker Hipster-Kultur entschieden als Teil dieser Szene, doch entbehrt der Film auch nicht eines kritischen, perzeptiven Blicks auf die Generation der digitalen Twentysomethings. Anstatt sie zu stärken, scheinen menschliche Beziehungen durch die stetige Verbundenheit via Facebook und iPhone an Tiefe zu verlieren. Nirgendwo wird dies offensichtlicher als an dem Punkt, als Sophie mit ihrem Zukünftigen nach Tokio übersiedelt und Frances dazu gezwungen ist, das Leben ihrer wohl wichtigsten Bezugsperson ("We're like a lesbian couple who don't have sex anymore") auf einem verlogenen Blog zu verfolgen. Alles ist permanent Schwankungen unterworfen: Abends tingelt man von Party zu Party; Wohnungen werden gewechselt, verliehen und weitergereicht; eine scheinbar feste Entscheidung sogleich rückgängig zu machen, ist normal ("Yes... no").

Schlussendlich überwiegen aber die positiven Aspekte dieses Lebensstils. Niemand, zuallerletzt die optimistische Frances, verfällt je der Hoffnungslosigkeit. Im Verständnis dieser sich bereits alt fühlenden Spätzwanziger ist das Leben zu kurz, um sich von Finanznot und unerfüllten Wünschen deprimieren zu lassen, um nicht seinen Träumen zu folgen. Am Ende, das für Frances ein Aufbruch darstellt, steht die Moral: Tue, was du gern machst. Reich wirst du damit wahrscheinlich nicht. Glücklich schon eher.

★★★

The Wolverine

© 2012 Twentieth Century Fox Film Corporation

★★★

"The Wolverine features an at least somewhat refreshing take on Wolverine in particular and Marvel material in general. In an odd yet ultimately strangely beguiling directorial choice, Mangold does not attempt to circumvent the dissonance between the gritty and the cartoonish, which often plagues Marvel’s films (as opposed to DC, where the cartoonish is all but absent), but actually embraces it. Resulting from this is an interesting variety of mood and imagery."

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).