Wie
hängen Kunst und Realität zusammen? Ken Loach sagte einmal, der
einzige Grund, einen Film über die Vergangenheit zu machen, sei das
Bestreben, etwas über die Gegenwart sagen zu wollen. Wie, wenn
überhaupt, fügt sich der Dokumentarfilm in dieses Schema ein?
Einige, zum Beispiel der Genre-Pionier Robert Flaherty, versuchen
just dies – zeitgenössische Ideale hinterfragen –, andere
(Searching for Sugar Man,
Martin Scorseses einschlägige Projekte) wollen eine Geschichte
erzählen, viele (Blackfish,
The Invisible War, das
Gesamtwerk von Michael Moore) zielen auf Agitation und politische
Veränderung.
Bei
Les invisibles
gestaltet sich die Kategorisierung schwieriger. Politisch aufgeladen
ist der Film an sich nicht, jedenfalls nicht explizit, obgleich er
unter der Regie des bekannten Queer-Regisseurs Sébastien Lifshitz
entstand. Seine aktuellsten politischen Äusserungen betreffen
französische Provinzpolitik, die konkreten Parolen fallen lediglich
im Zusammenhang mit der Pariser 68er Bewegung. Dass der ausladende,
klassisch inszenierte Zeitzeugenbericht kein Wort über seine
mutmassliche Motivation verliert, ist, so scheint es, raffiniertes
Kalkül seitens von Lifshitz.
Denn
Les invisibles handelt
von Homosexuellen, ein Thema, welches seit geraumer Zeit die Gemüter
in Frankreich erhitzt und seit einigen Monaten sogar – lange
nachdem der Film bei den Césars als beste Dokumentation
ausgezeichnet wurde – die Menschen zu Hunderttausenden auf die
Strassen treibt. Stolz bezeichnen sich die Demonstranten, oftmals
jünger als 30 Jahre, als "les homophobes"; die von
Präsident François Hollande initiierte Gleichstellung von Homo- und
Heteroehe finden sie inakzeptabel.
Lifshitz tritt dieser wachsenden konservativen Bewegung mit einer
simplen Affiche entgegen: Seine Gesprächspartner sind
schwule/lesbische Menschen im Spätherbst ihres Lebens, geboren in
den Zwischenkriegsjahren. Sie alle haben miterlebt, wie die
LGBT-Gemeinschaft in den letzten 65 unaufhaltsam gewachsen ist und
sich ihren Platz in der Gesellschaft erstritten hat, gegen staatliche
Diskriminierung und soziale Prüderie. Sie sind lebende Beweise, dass
nicht-heteronormative Vorlieben keine Jugendflausen sind, dass
Homosexualität nicht eine rebellische Trotzreaktion, sondern eine
natürliche Veranlagung ist. "Warum soll ich mich dauernd
quälen", fragt der Mittachtziger Pierrot, "indem ich mich
frage, ob ich mit Männern oder Frauen glücklicher bin"? Liebe,
wo die Liebe hinfällt – ob das Objekt dieser Zuneigung nun
männlich oder weiblich ist, ist letztlich zweitrangig.
Monique, die Alt-68erin. © Arthouse Commercio Movie AG |
Pierrot, stolzer bisexueller Ziegenhirte, ist ohnehin der lebendigste
von Lifshitz' Interviewten. Ohne Hemmungen erzählt er, wie er als
Teenager einem Knecht bei der Selbstbefriedigung assistierte ("Das
hat mir gefallen"); sein Gesicht verzieht sich zu einem breiten
Grinsen, wenn er erklärt, dass auch Ziegenböcke grossen Gefallen am
Masturbieren finden. In diesen Anekdoten enthalten ist ein direkter
Angriff auf jene prüden Apologeten, welche damals (und wohl auch
noch heute) keusche Enthaltsamkeit respektive Sex als blosses Mittel
zur Fortpflanzung – worin homosexuelle Verhältnisse natürlich
nicht eingeschlossen sein können – als höchstes Ideal der Natur
zu verstehen glauben. (Als wollte er diese Verehrung von
zielgerichteter Fortpflanzung ironisch kommentieren, eröffnet
Lifshitz seinen Film mit der wunderschönen Geburtshilfe, welche das
Paar Yann und Pierre, offenbar Betreiber einer Volière, einem
schlüpfenden Vogel leisten.)
Andere erzählen von ihrer Kindheit, von der Entdeckung der eigenen
Präferenzen, von den Erlebnissen, die sie über die Jahre gemacht
haben. Es sind Geschichten von allumfassender Ausgrenzung: Pierre
wurde streng katholisch erzogen und nach seinem Coming-Out von
Freunden und Familie verfemt; Yann widerfuhr dasselbe in seinem
kommunistisch geprägten Umfeld; Christian war so stark von seiner
religiösen Erziehung geprägt, dass er jahrzehntelang mit
Depressionen kämpfte; derweil Catherine und Eilsabeth, nachdem sie
beide auf Grund ihrer Sexualität entlassen wurden, den Entschluss
fassten, der Stadt den Rücken zu kehren und im Südwesten ein altes
Bauerngut zu übernehmen.
Lifshitz, der niemals durch hörbare Fragen in den Vordergrund tritt,
lässt sich Zeit, dem Publikum diese Atmosphäre der Intoleranz, wie
sie in Frankreich noch weit bis in die Achtzigerjahre herrschte, zu
vermitteln, um dann vom kleinen zum grossen Rahmen überzugehen und
einige seiner Gegenüber, vornehmlich die Frauen, von den
Studentenunruhen im Frühsommer 1968 erzählen zu lassen. Mit grosser
Leidenschaft erzählt Monique, begleitet von illustrierenden
Originalaufnahmen, wie ihre feministischen Proteste von begeisterten
Grossmüttern am Strassenrand lauthals unterstützt wurden und wie,
trotz nach wie vor weitreichender Ablehnung, der Triumph der
Frauenbewegung auch ein Triumph der LGBT-Sache war. Les invisibles
funktioniert auch als verständnisvolle Verteidigung des
blauäugigen, heute gerne verspotteten Idealismus jener Tage; das
Video einer jungen Demonstrantin, welche ein Traktat gegen die
traditionelle Familie verlautbart, wird mit einem dünkelhaften
englischen Bericht über eine Schwulenbar und zaghaften, ja
ängstlichen, Berichten aus der damaligen französischen Presse über
"le phénomène homo" gekontert.
Spätes Glück: Bernard und Jacques. © Arthouse Commercio Movie AG |
Der Film verliert sich stellenweise in diesen interessanten, aber
repetitiven Passagen. Mit zunehmender Dauer verwandeln sich die
ergreifend dargelegten Einzelschicksale in nacherzählte historische
Abhandlungen. Les invisibles müsste nicht 115 Minuten lang
sein. Doch Lifshitz findet schlussendlich in die Spur zurück, indem
er seine Protagonisten nicht bloss als Homosexuelle, sondern als
homosexuelle Senioren versteht, welche die gleichen Dinge umtreiben
wie ihre heterosexuellen Alterskollegen. Thérèse spricht davon, wie
Sex im Alter zur Unmöglichkeit wird, wenn man sich erst einmal davon
losgesagt hat. Mit tränenverhangenen Augen philosophiert Monique
über den Bahnhof in ihrem Heimatort und wie die alten Gemäuer eine
eigene Erinnerung haben müssen. Pierrot ist zufrieden mit seinem
Leben, welches erfüllt war von zahllosen "Eroberungen",
wie er es nennt. "Gott ist nichts!", resümiert er. "Deinen
Nächsten sollst du lieben". Lifshitz beendet seinen Film, der
erst mit dem Wissen des Zuschauers um seinen politischen Hintergrund
zum wichtigen Werk wird, mit den spät zusammen gekommenen, stets
liebevoll flachsenden Bernard und Jacques auf einer Marseiller Fähre.
Der eine legt den Arm auf die Schulter des anderen; gemeinsam
geniessen sie das Panorama – ein schönes Bild. Warum sollte
irgendjemand Anstoss daran nehmen, dass es sich bei den beiden um
zwei Männer handelt?
★★★★
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