Trotz der unübersehbaren Parallelen zwischen dem Kino und dem
Theater – das Starsystem, die Erzählform, das Zuschauererlebnis –
hat sich in der Filmgeschichtsschreibung über die Jahre hinweg die
Meinung durchgesetzt, dass nicht das Bühnenstück die wichtigste
Vorform zum narrativ eingesetzten bewegten Bild darstellt, sondern
die Kultur der Jahrmarktsattraktion, dass im Kino das Spektakel die
Handlung gebar.
Dennoch
fungiert das Theater seit nunmehr 120 Jahren immer wieder als Quell
der Inspiration für Filmemacher, oft als Material zur
Leinwand-Adaption, hin und wieder aber auch als Konzept an sich –
man denke an Louis Malles diesbezüglichen Meilenstein Vanya
on 42nd Street.
In diesem Sinn und Geist haben sich unlängst gleich drei Regisseure
von Weltrang mit der Frage auseinandergesetzt, ob und wo sich Theater
und Kino kreuzen. Während die italienischen Brüder Paolo und
Vittorio Taviani (I
sovversivi,
Padre padrone,
La notte di San
Lorenzo),
82 respektive 84 Jahre alt, in Cesare
deve morire indirekt
zu ihren journalistisch-dokumentarischen Wurzeln zurückkehren,
präsentiert der 91-jährige Franzose Alain Resnais (Hiroshima
mon amour,
L'année dernière
à Marienbad)
mit Vous n'avez
encore rien vu
ein Werk von raffinierter Vielschichtigkeit.
Es
ist schwer zu sagen, wo in Cesare
deve morire die
Theaterverfilmung aufhört und die Dokumentation anfängt. Denn
eigentlich erzählt der Film von einer Gruppe von Gefangenen –
vorab Mörder, Drogenhändler und Mafia-Schergen – im
Hochsicherheitstrakt des Römer Rebibbia-Gefängnisses, welche im
Rahmen eines Theaterprojekts William Shakespeares Julius
Caesar einstudieren.
Die Prämisse ist echt, die Akteure ebenso. Gezeigt wird jedoch nicht
– zumindest nicht explizit –, wie diese mit der kulturellen
Herausforderung umgehen und im Laufe der sechsmonatigen Proben den
anspruchsvollen Text meistern. Vielmehr inszenieren die Tavianis
Cesare deve morire
als
hochgradig originelle Shakespeare-Adaption; der Zuschauer wohnt
formvollendeten "Proben" bei, welche in Zellen, in Gängen,
im Gefängnishof stattfinden und in denen die Darsteller mit Ausnahme
kleiner persönlicher Vignetten und Soliloquien niemals aus ihren
Rollen fallen.
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Cäsar muss sterben: Die Gefangenen des Römer Rebibbia-Gefängnisses proben Shakespeares Julius Caesar.
© Camino |
Viele Kritiker haben in ihren Rezensionen und Analysen Wert darauf
gelegt, hierbei Realität und Fiktion voneinander zu trennen. Welche
Proben sind echt, welche gestellt? Werden Paolo und Vittorio Taviani
den Insassen von Rebibbia wirklich gerecht, wenn sie ihnen innere
Monologe andichten? Der Drang, diese Fragen zu stellen, ist
verständlich, aber für die Beurteilung des Films letztlich nicht
hilfreich. Über die Grenze zwischen (scheinbarer) Wahrheit und
Inszenierung lässt sich genauso lange diskutieren wie darüber, ob
Julius Cäsar (hier gespielt von Giovanni Arcuri, dessen
eindrucksvolle Präsenz einen schnell an James Gandolfinis Tony
Soprano denken lässt) überhaupt jemals "Et tu, Brute?"
gesagt hat.
Es
ist bezeichnend, dass der Film
seinen
schwächsten Punkt erst dann erreicht, als er den zu lebenslanger
Haft verurteilten Cosimo Rega (im Stück Brutus' Mitverschwörer
Cassius) die allzu offensichtliche Linie "Seitdem ich weiss, was
Kunst ist, ist diese Zelle zum Gefängnis geworden" in die
Kamera sprechen lässt – der einzige Moment, in dem die Tavianis
auf jegliche Ambivalenz verzichten.
Ansonsten
aber ist Cesare
deve morire eine
der besten Shakespeare-Verfilmungen der vergangenen Jahre, ein
faszinierendes Kunstwerk, in dem die Trennlinien zwischen Theater und
Film sowie Fiktion und Wirklichkeit unablässig verwischt werden, in
dem Kunst als höhere Wahrheit verstanden wird. Getragen wird dieser
herausragende, zutiefst menschliche Film von seinen grandiosen
Laien-Darstellern – allen voran Salvatore Striano (Brutus) und
Antonio Frasca (Marcus Antonius) –, deren intensives Spiel
Shakespeares Dialogen über Mord und die ihn rechtfertigende Moral
spannende neue Dimensionen verleiht. So sieht lebendiges, "atmendes"
Theater aus.
Alain
Resnais' Vous
n'avez encore rien vu
ist im Vergleich zwar weniger zugänglich, aber nicht weniger
spannend. Mit 13 Schauspielern, von denen die meisten bereits einmal
unter ihm agierten – viele davon in Les
herbes folles von
2009 –, vermischt er auf der Leinwand zwei Werke des französischen
Dramatikers Jean Anouilh: Eurydice
(1941)
und Cher Antoine
ou l'Amour raté (1969).
Passend zu Resnais' Hintergrund als Nouvelle-Vague-Intellektueller,
steht der "Tod des Autors" nach Roland Barthes,
buchstäblich und metaphorisch, am Anfang von allem. Der Film beginnt
mit einer Serie von Anrufen, in welchen der sich selber spielende
Cast visuell vorgestellt – Mathieu Amalric (hervorragend), Pierre
Arditi (hervorragend), Sabine Azéma, Jean-Noël Brouté, Anne
Consigny, Anny Duperey, Hippolyte Girardot, Gérard Lartigau, Michel
Piccoli, Michel Robin, Jean-Chrétien Sibertin-Blanc, Michel
Vuillermoz und Lambert Wilson – und, innerhalb des filmischen
Rahmens, über die Situation aufgeklärt wird: Der renommierte
Bühnenregisseur Antoine d'Anthac (Denis Podalydès) sei gestorben;
überbracht wird die Mitteilung von seinem Bediensteten (Andrzej
Seweryn), welcher die trauernden Mimen sogleich zur
Testamentsvollstreckung bittet.
Angekommen
in d'Anthacs Haus, wird den Besuchern, welche alle einst in
verschiedenen Eurydice-Inszenierungen
des Verstorbenen mitwirkten, ein Video des Meisters abgespielt, der
sie darum bittet, sich die Aufnahme einer neuen Interpretation eben
jenes Anouilh-Stücks anzusehen (aufgeführt von der Gruppe La
Compagnie de la Colombe, entstanden unter der Regie von Bruno
Podayldès).
Der
physische Tod seines "Autors" (Eurydice
wird konsequent als Schöpfung d'Anthacs behandelt) befreit demnach
den Text. Ungebunden durch die Autorität seines Verfassers, wird das
dezent surreale, nichtsdestoweniger aber relativ geradlinige Drama zu
einem mehrdimensionalen Raum. Denn unter dem Eindruck der
modernistischen Colombe-Adaption fallen die versammelten Darsteller,
jung und alt, in ihre Rollen zurück: Es beginnt eine Meditation über
das Verhältnis zwischen Leben und Literatur, über den Fluss der
Zeit und den Platz des Menschen darin (ohnehin ein für Resnais
typischer Topos).
Resnais,
der vehement verneint, bei Vous
n'avez encore rien vu
handle es sich um sein cineastisches Testament (was Barthes' Theorie
von der Trennung von Werk und Autor ebenfalls entspricht), schafft
ein komplexes Kontinuum von Wahrheits- und Handlungsebenen, in dem
etwa das Liebespaar Eurydice und Orphée vervielfacht auftritt,
einerseits als bestehende Figuren aus der griechischen Mythologie,
andererseits als Colombe-Schauspieler (Vimala Pons, Sylvain Dieuaide)
auf d'Anthacs Heimkino-Leinwand und obendrein als verschiedenaltrige
frühere Besetzungen im Zuschauerraum (Pierre Arditi und Lambert
Wilson als Orphées, Sabine Azéma und Anne Consigny als Eurydices).
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Lebendiges Theater: Sabine Azéma (Eurydice) und Pierre Arditi (Orphée) fallen in ihre alten Rollen zurück.
© Frenetic Films |
Wie
Shakespeares Dialoge über gerechtfertigten Mord in Cesare
deve morire durch
ihren Gebrauch vor einem Gefängnis-Hintergrund an Tiefe zu gewinnen
scheinen, so erhalten Anouilhs philosophische Exkurse über das
Gedächtnis des Unbelebten, von Wänden, Räumen und Objekten, und
dessen Implikationen zusätzliches Gewicht, wenn sie auf drei
Generationen von Schauspielern ausgeweitet werden, die Inkarnationen
von Charakteren mimen, welche ihrerseits bereits über 2000 Jahre alt
sind.
Virtuos
arbeitet Resnais hierbei mit Split-Screen, Wiederholung,
Parallelmontage und optischen Mitteln. So zieht er etwa einen
deutlichen visuellen Kontrast zwischen "seiner" Eurydice
und jener der Compagnie de la Colombe. Während die von Bruno
Podalydès geleitete Aufführung in ausgebleichten Farben und klaren
Konturen gehalten ist, macht er selber fast schon inflationär von
der Weichzeichnung Gebrauch. Alte Filmschule trifft auf moderne
Retro-Ästhetik; der Stil markiert den Altersunterschied. Als ebenso
faszinierend erweist sich die brillante Austattung in beiden
Adaptionen: Die Colombe-Truppe erzählt Anouilhs Geschichte in einer
alten Fabrikhalle; Resnais' Darsteller in d'Anthacs Anwesen sowie
einer Fantasiewelt, welche beide grundsätzlich Theaterbühnen zu
sein scheinen. Die Inversion ist komplett: Die Filmschauspieler
visionieren eine in einem denkbar ungewöhnlichen Rahmen aufgeführte
Theaterinszenierung in einem Kino, während sie selber für ein
reales Kinopublikum Theater spielen.
Mit
diesem verschachtelten, oft scheinbar widersprüchlichen Konzept
bleibt sich Resnais durchaus selber treu. Vous
n'avez encore rien vu
ist zweifellos ein Film, wie man ihn nur nach einer langen,
distinguierten Karriere drehen kann, eine Reflexion über die
unendlich variable Natur von gespielter Fiktion – und ihre
unbegrenzten Möglichkeiten. Das kann mitunter ein wenig überborden;
auch das abgehackte Anti-Happy-End vermag nicht vollends zu
überzeugen. Doch wie den Tavianis ist es auch Resnais letztendlich
gelungen, das Subgenre der Theaterverfilmungen in aufregende neue
Richtungen zu expandieren.
Denn
das Theater, wenngleich kein direkter Vorfahr des Kinos, ist, wie
Vous n'avez encore
rien vu und
Cesare deve morire
zeigen,
dennoch eng mit dem Lichtspiel-Spektakel verbunden – als ewige
Inspiration zum Einen, als geistesverwandte Kunst zum anderen. Die
Camera magica fängt das Leben ein in seiner ganzen Vielfalt; das
Theater nimmt sich dessen tiefere Wahrheiten in stilisierter Form
vor. Beide bewegen sich frei in diesem Spektrum, bald näher an der
Realität, bald näher an der reinen Metapher. Und manchmal treffen
sie sich. Die Resultate lassen sich sehen.
Cesare deve morire – ★★★★
Vous n'avez encore rien vu – ★★★★