Donnerstag, 31. Oktober 2013

Elle s'en va

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Ein Höhenflug des französischen Kinos ist der Emmanuelle Bercot mit ihrem dritten Film, der ziemlich holprigen Wohlfühl-Dramödie Elle s'en va, wahrlich nicht gelungen. Dass das Roadmovie aber dennoch in positiver Erinnerung bleibt, ist Hauptdarstellerin Catherine Deneuve zu verdanken.

Deneuve übernimmt hier die Rolle der Restaurantbesitzerin und ehemaligen Miss Bretagne Bettie, die sich von ihrem eigenen Leben überfordert fühlt. Sie ist unglücklich verliebt; ihrem Gasthaus droht die Insolvenz; mit ihrer Tochter (Camille Dalmais) hat sie sich überworfen; ihre Mutter (Claude Gensac, bekannt aus vielen Louis-de-Funès-Vehikeln) hört nicht auf, sich in ihre Angelegenheiten einzumischen. Eines Tages reisst Bettie der Geduldsfaden: Sie setzt sich ins Auto und fährt davon – mit unbestimmtem Ziel.

Die Geschichte, die Bercot und ihr Co-Autor Jérôme Tonnerre aus dieser Prämisse gewinnen, besteht, in bester Roadmovie-Manier, aus kleineren und grösseren Episoden, welche schlussendlich alle zur unausweichlichen Selbstfindung der Hauptfigur beitragen. "Das Leben geht weiter" lautet die optimistische Moral, welche am Ende von Betties Reise steht, nachdem sie, unter anderem, einem gut 30 Jahre jüngeren Mann verfallen ist, an einem Fototermin für Ex-Schönheitsköniginnen teilgenommen hat sowie ihren überdrehten Enkel Charly (Nemo Schiffman) quer durch Frankreich chauffiert hat.

Manche dieser Vignetten sind amüsant, andere melancholisch, wieder andere sind, primär dank Catherine Deneuves nuancierter Performance, unerwartet emotional. Doch sie vermögen nicht harmonisch ineinander zu greifen; zu lose sind die Impressionen von Betties Odyssee miteinander verbunden, zu abrupt die zahlreichen Wechsel im Tonfall. Bercots und Tonnerres fahriges Drehbuch verzichtet überwiegend auf erzählerische Stringenz und begnügt sich damit, dramaturgisch isolierte Szenen aneinander zu reihen.

Gemeinsam ist man weniger allein: Bettie (Catherine Deneuve) fährt mit ihrem Enkel (Nemo Schiffman) quer durch Frankreich.
© Xenix Filmdistribution
Dass dabei auch die Figurenzeichnung zu kurz kommt, überrascht nicht. Während eine Mehrheit der Nebenfiguren irritierend eindimensional gehalten ist, scheitert das Porträt der Beziehung zwischen Oma Bettie und Enkel Charly vor allem an der erratischen Charakterisierung des 11-jährigen Jungen, welcher im einen Moment altklug-pubertäre Sprüche von sich gibt, nur um im nächsten wie ein sechsjähriger Grundschüler Nonsens-Liedchen zu trällern. Der Grund dafür, dass der Versuch, sich Bettie zu nähern, hingegen zumindest stellenweise von Erfolg gekrönt ist, ist wiederum eher bei Deneuve als beim Duo Bercot/Tonnerre zu suchen: Das Schauspiel der "unnahbaren Blonden" – der Rolle, die sie in Filmen wie Repulsion oder Belle de Jour verkörpert hat – erkundet charakterliche Tiefen, die dem Skript wie auch den unablässigen Nahaufnahmen von Kameramann Guillaume Schiffman (The Artist) stets verborgen bleiben.

Man ist versucht, sich vorzustellen, wie Elle s'en va in den Händen erfahrenerer Filmemacher zu einer ernst zu nehmenden Tragikomödie hätte werden können, wie ein Jean Becker (Dialogue avec mon jardinier), eine Noémie Lvovsky (Faut que ça danse!) oder – würde er noch leben – ein Claude Berri (Ensemble, c'est tout) den Stoff mit ihren unverwechselbaren Stilen bearbeitet hätten. So aber bleibt Emmanuelle Bercots Film eine lediglich passable Angelegenheit, die jedoch, bei all ihre Defiziten, veredelt wird durch die sublime Präsenz der Catherine Deneuve.

★★★

Mittwoch, 30. Oktober 2013

About Time

Dass Zeitreisen der Dreh- und Angelpunkt von Richard Curtis' erster Liebeskomödie seit einem Jahrzehnt sind, entbehrt, auch angesichts seines verunglückten nostalgischen Ausflugs in die wilden Sechzigerjahre in The Boat That Rocked (2009), nicht einer gewissen Ironie, besteht sein angestammtes Territorium doch aus den romantischen Verwicklungen der zeitgenössischen gehobenen englischen Mittelklasse.

Seine einschlägigen Werke – der weihnächtliche Ensemble-Film Love Actually sowie die Drehbücher zu Four Weddings and a Funeral und Notting Hill – verliehen Curtis den Ruf, ein Meister seines Genres zu sein, welcher das Kunststück vollbracht hat, trockenen britischen Humor mit ungehemmter Emotionalität zu verheiraten. Zwar ist ein Grossteil seines Schaffens eher unvorteilhaft gealtert, doch ein Publikum hat er mit seiner bieder-braven Art, welche einzig in den sozialrealistisch angehauchten Passagen von Notting Hill je gebrochen wurde, noch immer gefunden.

Dies wird sich auch mit About Time nicht ändern, wobei sich das "Schüchterner junger Mann trifft charmante Frau seines Lebens"-Narrativ inzwischen etwas zu bekannt anfühlt – trotz der übernatürlichen Variabel. Der schüchterne junge Mann der Gleichung ist hier der 21-jährige Tim Lake (Domhnall Gleeson), dessen Vater (Bill Nighy) ihn in ein Geheimnis einweiht: Alle Männer der Familie Lake können rückwärts durch die Zeit reisen, wenngleich auch nur innerhalb ihres eigenen Lebens ("You can't kill Hitler or shag Helen of Troy, unfortunately"). Diese Fähigkeit nutzt der durchschnittliche Tim ("too tall, too skinny, too orange") dazu, die hübsche Amerikanerin Mary (Rachel McAdams) zu bezirzen.

Was man dem Film zugute halten kann, ist, dass er es nicht, wie so viele andere Romanzen, dabei belässt, Tim um die Gunst von Mary kämpfen zu lassen und nach ihrer Vermählung den Vorhang fallen zu lassen. Vielmehr folgt Curtis' Erzählung einer anekdotischen, chronologisch lose definierten Struktur, wie sie in der britischen Tragikomödie etwa von Mike Leigh gerne verwendet wird. Kaum ein Drittel der Laufzeit ist Tims Werben um Mary gewidmet; Hochzeit, Schwangerschaft und familiäre Tragödien (mit obligater Beerdigung) werden ebenso schnell wie abrupt in den Plot eingewoben.

Dabei kommt Tims Fähigkeit, peinliche Momente rückgängig zu machen und unliebsame Szenarien fast nach Belieben manipulieren zu können, primär die Rolle einer moralisierenden Instanz zu. Hie und da mögen sich spannende Auseinandersetzungen mit der Macht von Zufall und Timing über Entscheidungen und Einstellungen andeuten, doch nach und nach weichen diese den altbekannten Predigten über genügsames, bewusstes Leben. Der Vergleich mit Groundhog Day liegt nicht weit. Da Tim jedoch, anders als Bill Murray in Harold Ramis' Genre-Meilenstein, frei über die Wiederholung von Erlebnissen entscheiden kann, ist der Kniff hier dramatisch weitaus weniger überzeugend. Neben zahlreichen Verstössen gegen die klar etablierte Zeitreise-Logik scheint About Time mit seinen diversen Déjà vus mitunter auch ein wenig an Ort zu treten.

"You're a time traveller, Tim": Tim Lake (Domhnall Gleeson) erfährt von seinem Vater (Bill Nighy), dass er in die Vergangenheit reisen kann.
© Universal Pictures
Von diesem nur sporadisch funktionierenden, der Science-Fiction entlehnten Topos abgesehen, bewegt sich Curtis jedoch eindeutig auf vertrautem Boden. About Time spielt in einer simplen, typisch Curtis'schen Welt, deren Akteure luxuriöse Villen in einem arkadischen Anglo-Griechenland – so jedenfalls wird dem Zuschauer Cornwall präsentiert – oder schicke Appartements im unnatürlich sauberen London bewohnen, wo Geldnot ein Fremdwort ist, Beziehungskrisen sich auf halb lächelnd geführte Dispute beschränken und sich beinahe alles auf abgedroschene Montage-Sequenzen reduzieren lässt, begleitet von verträumt-überschwänglichen Pop-Balladen, von denen einzig Ron Sexsmiths wundervolles "Gold in Them Hills" nachzuhallen vermag. Liebenswert-verschrobene Figuren dominieren wie gewohnt das Geschehen – vom vergesslichen, inhaltlich irrelevanten Onkel Desmond (Richard Cordery) bis zum raubeinig-charmanten Theaterautor Harry (Tom Hollander).

Und obwohl Curtis seine Geschichte auf nie und nimmer zu rechtfertigende 123 Minuten streckt, bleibt die zentrale Beziehung zwischen Tim und Mary sträflich unterentwickelt. Trotz des ideal besetzten Domhnall Gleeson und einer sympathischen Darbietung von Rachel McAdams bleibt die Paarung zu plump, um ihre volle Wirkung zu entfalten, auch weil sich Curtis allzu oft damit begnügt, Mary als stereotype Traumfrau-Schablone zu inszenieren – schüchtern, humorvoll, von der eigenen Schönheit nicht überzeugt –, Zeitlupe und goldene Beleuchtung inklusive, sowie Tims Annäherungsversuche auf unbeholfene Cringe-Comedy zu reduzieren. Tatsächlich ist das wahre emotionale Zentrum des Films eher in der Vater-Sohn-Dynamik zwischen Gleeson und Bill Nighy zu finden, deren gemeinsame Szenen echt anzurühren vermögen.

Mit subtilem Einsatz seiner Zeitreise-Fähigkeit gelingt es Tim, das Herz der Amerikanerin Mary (Rachel McAdams) zu erobern.
© Universal Pictures
Getrübt wird das grundsätzlich gefällige Seherlebnis letztlich aber durch die verdriessliche Normativität, welche About Time hinter seiner fidelen Formelhaftigkeit verbirgt. Zwar ist auch dies in Curtis' Werk keine Neuheit, doch noch selten hat der Autor und Regisseur Anpassung und Konventionalität dermassen explizit als Tugenden dargestellt. Nicht nur ist Heirat für ihn noch immer die Apotheose wahrer Liebe; diesmal geht er gar mit missionarischem Eifer gegen Andersdenkende vor. "Nothing prepares you for the indifference of friends who don't have children", sinniert Tim via Voiceover nach der Geburt seiner ersten Tochter; die Entscheidung der Kinderlosigkeit wird als lachhafte Naivität abgetan.

Ihren Höhepunkt erreicht Curtis' zweifelhafte Liebeserklärung an die Norm jedoch in Form von Tims jüngerer Schwester Kit Kat (Lydia Wilson), eine enthusiastische Exzentrikerin, von Tim als "my favourite person in the whole world" eingeführt, eine Idealistin mit einer Vorliebe für violette Pullover und nackte Füsse. Um soziale Rituale und Protokolle kümmert sie sich nicht. Mit ihr kennt Curtis keine Gnade: Zunächst dichtet er ihr eine Depression an, gefolgt von exzessivem Alkoholkonsum; ihr Unbehagen London gegenüber wird als nicht nachvollziehbare Spinnerei behandelt, ihr Entschluss, von Männern nichts mehr wissen zu wollen, als delirische Absage an das Leben. (Die Implikationen von letzterer "Verfehlung" sind gleich auf mehreren Ebenen heikel: Zum Einen wird insinuiert, dass eine Frau ohne Mann in ihrem Leben keine vollendete Persönlichkeit sein kann; zum anderen, dass Homosexualität aus der Enttäuschung mit dem anderen Geschlecht entwächst.) "We have to fix her", beschliessen Tim und Mary; der freieste Geist in About Time (vielleicht mit Ausnahme von Tims Vater) muss "repariert" werden. Exzentrik, so der Film, ist nur tolerierbar, wenn sie die bürgerliche Norm nicht herausfordert. Dies ist die Botschaft des in Formeln und Konventionen festgefahrenen Films.

★★

Donnerstag, 24. Oktober 2013

The Butler

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.


50 Jahre nach Martin Luther Kings legendärer "I Have a Dream"-Ansprache während des "Marschs auf Washington" erzählt Lee Daniels, der nach Spike Lee wohl einflussreichste afroamerikanische Filmemacher, in The Butler die Geschichte der schwarzen Bürgerrechtsbewegung.

Am Abend des 4. Novembers 2008, als feststand, dass er mit einer beträchtlichen Mehrheit zum ersten dunkelhäutigen Präsidenten der USA gewählt worden war, hielt Barack Obama in Chicago seine Siegesrede – eine rhetorische Meisterleistung, mitreissend in ihrer populistischen Inbrunst. Darin figurierte auch eine damals 106-jährige Frau namens Ann Nixon Cooper, anhand deren Biografie Obama die Veränderungen aufzeigte, welche sich in Amerika seit ihrer Geburt abgespielt hatten. Besonderes Aufsehen unter Analysten erregte dabei die Passage: "She was there for the buses in Montgomery, the hoses in Birmingham, a bridge in Selma, and a preacher from Atlanta who told a people that 'We Shall Overcome'". In einem einzigen Satz hatte der "President-elect" die Bewegung zusammengefasst, als deren vorläufiger Höhepunkt sein Wahlsieg in die Annalen eingehen würde.

Regisseur Lee Daniels, dessen Romanverfilmung Precious zwei Monate nach Obamas Wahl uraufgeführt wurde und ihm in der Folge zu internationalem Renommee verhalf, hat mit The Butler nun – mehr oder minder jedenfalls – diesen einen Satz in einen 130-minütigen Streifzug durch die Geschichte des modernen "Black America" verwandelt. Hierbei wird Cecil Gaines (Forest Whitaker mit einer soliden, wenngleich nicht sonderlich bemerkenswerten Darbietung), basierend auf dem historischen Eugene Allen (1919–2010), zum Avatar des schwarzen Durchschnittsamerikaners: Seine Kindheit verbringt er auf einer Baumwollfarm in Georgia, welche er als Teenager verlässt, um sich zum Butler ausbilden zu lassen; Anfang der Fünfzigerjahre wird er als Bediensteter ins Weisse Haus aufgenommen, wo er bis 1987 arbeitet.

Danny Strongs Drehbuch kontrastiert Cecils Nähe zum politischen Zentrum der USA, wo die Präsdenten Eisenhower (Robin Williams), Kennedy (James Marsden – erstaunlicherweise der überzeugendste Akteur im präsidialen Maskenball), Johnson (Liev Schreiber), Nixon (John Cusack) und Reagan (Alan Rickman) die die schwarze Gemeinschaft emanzipierenden Gesetze verabschieden, mit dem Leben seines Sohnes Louis (David Oyelowo), der aus dramaturgischer Opportunität bei den wichtigsten Episoden des Civil-Rights-Movements stets beteiligt ist: Er sitzt am für Weisse reservierten Tresen im Woolworth von Greensboro (die kraftvollste Szene des Films); er tourt mit den Freedom Riders durch die rassistischen Südstaaten; er gehört zum inneren Zirkel Martin Luther Kings; er tritt den Black Panthers bei. So verbindet Strong Makro- mit Mikrogeschichte, denn diese Diskrepanz führt zu Konfrontationen innerhalb der Familie Gaines, worunter auch Cecils Ehefrau Gloria (Talkmasterin Oprah Winfrey – augenscheinlich auf der Suche nach einem Oscar) leidet.

"In Which We Serve": Über drei Jahrzehnte lang arbeitet Cecil Gaines (Forest Whitaker) als Butler im Weissen Haus.
© Frenetic Films
Der Reiz von The Butler liegt darin, Prominenten (in weiteren Rollen agieren Mariah Carey, Terrence Howard, Vanessa Redgrave, Lenny Kravitz, Jane Fonda und der famose Cuba Gooding Jr.) beim Nachspielen historischer Ereignisse zuzusehen. Dies ist zwar leidlich unterhaltsam, vermag dem Film aber nicht zu emotionaler Zugkraft zu verhelfen. Strongs Forrest Gump-Struktur ist mit Daniels' hohen Ansprüchen, einen Meilenstein des afroamerikanischen Kinos zu schaffen, nicht kompatibel; die pathetisch-sentimentalen Dialoge sowie der Verzicht auf tiefer greifende Auseinandersetzungen untergraben die Ernsthaftigkeit des Projekts. Politische Veränderungen werden in Lee Daniels' The Butler (so der vermessene US-Verleihtitel) erzielt, indem ein Präsident Cecil eine Frage stellt und sich von dessen bescheidener Antwort beeindruckt und inspiriert zeigt. Daniels und Strong mögen aus lobenswerten Motiven gehandelt haben, doch die Pioniere und Protagonisten der Bürgerrechtsbewegung verdienen ein kraftvolleres filmisches Denkmal.

★★

Mittwoch, 23. Oktober 2013

The Look of Love

Paul Raymond, der "King of Soho", eine der schillerndsten Gestalten im Grossbritannien der Sechziger- und Siebzigerjahre, erhält mit Michael Winterbottoms The Look of Love ein unspektakuläres, seltsam begeisterungsarmes Biopic. Seltsam deshalb, weil sich gerade Winterbottom in der Vergangenheit immer wieder als eigenwilliger Auteur erwiesen hat, der kulturelle Zeitgeschichte (24 Hour Party People) ebenso ungewöhnlich und faszinierend inszeniert hat wie grosse britische Literatur (A Cock and Bull Story nach Laurence Sternes Tristram Shandy).

The Look of Love jedoch fehlt die Dringlichkeit, ein Hinweis darauf, warum sich sein Regisseur dazu entschieden hat, die Geschichte des Clubeigners, Erotik-Magazin-Pioniers und Immobilien-Magnaten Raymond, der 2008 83-jährig starb, cineastisch aufzuarbeiten. Winterbottom arbeitet sich ziemlich geradlinig durch die Chronologie der Karriere Raymonds (überzeugend gespielt vom Komiker Steve Coogan), von 1958, als er im Londoner Stadtteil Soho einen erfolgreichen privaten Strip-Club eröffnete, bis 1993, als Debbie (Imogen Poots), seine Tochter und Erbin in spe, einer Kokain- und Heroin-Überdosis zum Opfer fiel. Der Film ist nüchtern erzählt, durchsetzt mit beabsichtigt nostalgisch-antiquitiert wirkenden Montagesequenzen und fast gänzlich frei von dramatischen Höhepunkten.

Doch gerade darin könnte sein subversives Potential liegen. Es fällt schwer, The Look of Love für seinen Mangel an klassischer dramatischer Spannung zu massregeln, weil er offenbar nicht aktiv nach dieser sucht. Vielmehr hat Winterbottom einen Film gedreht, der sich ganz auf der Wellenlänge seiner schamlosen, ungerührten und oft gefühlskalten Hauptfigur bewegt. Von seinem kontinuierlich ergrauenden, jeweils im Stil der entsprechenden Dekade frisierten Haarschopf abgesehen, verändert sich Raymond während der 100 Minuten Laufzeit kaum. Er bleibt stets das undurchdringliche, unbewegte und unbewegliche Zentrum eines selbstzerstörerisch dekadenten Geschäfts. Kollegen, mit denen er sich jahrelang mittels Publicity-Stunts und immer gewagteren Fotostrecken in seinen Herrenmagazinen gegen die "engstirningen, puritanischen Bastarde" des britischen Establishments auflehnte, verprassen ihr verdientes Geld, verfallen den Drogen und verlieren, manchmal ohne es zu merken, die Kontrolle über ihr eigenes Leben.

Sohos König Midas: Paul Raymond (Steve Coogan) wird mit seinem Erotik- und Immobilien-Imperium zu einem der mächtigsten Männer Grossbritanniens.
© Rialto Film AG
Raymond, so The Look of Love, ist anders. Zwar folgt auch er diesem Lebensstil, doch er ist sich im Klaren darüber, dass er ihn nur überleben kann, wenn er sich ihm nicht gänzlich ergibt. Er schnupft Kokain, doch er legt Wert darauf, es von verlässlichen Quellen geliefert zu bekommen; er verbringt seine Nächte mit vier bis fünf Frauen in seinem Bett, doch sein Vertrauen gilt, wenn überhaupt, nur einer erlesenen Gruppe von Verwandten und Bekannten. Er überlebt den Exzess, doch den Preis, den der ehrgeizige Unternehmer, unverkennbar eine Midas-Figur, dafür zahlt, ist der der Einsamkeit und der Langeweile; die Liebe tauscht er früh in seiner Karriere für den Schein von Liebe, den "Look of Love", ein. Kaum eine Szene vergeht, ohne dass nicht irgendwo mindestens ein nackter Frauenkörper zu sehen ist; Drogen werden in The Look of Love in einem Masse konsumiert, wie man es seit Fear and Loathing in Las Vegas nicht mehr gesehen hat. Für den Zuschauer, wie wohl auch für Raymond, wird dieses Milieu bald repetitiv. Kalkulation seitens Winterbottoms? Ausschliessen lässt sich dies nicht.

Insofern erzählt dieses Biopic nicht von den Höhen und Tiefen im Leben seines Protagonisten, sondern von den Katastrophen und den gescheiterten Existenzen, welche ihn in seiner Laufbahn umgaben, von den flüchtigen Bekanntschaften (auf der Meta-Ebene symbolisiert durch Kurzauftritte von Matt Lucas, David Walliams und Stephen Fry) und den eben nur scheinbar innigen Beziehungen, die er pflegte. Winterbottoms Annäherung an dieses Konzept – welches mitunter an die Filme des Duos Rob Epstein/Jeffrey Friedman erinnert – besteht darin, die in der Erzählung vorhandene Dramatik zu zeigen, doch sie, ganz im Sinne Raymonds, an sich abprallen zu lassen, während der Blick auf Raymond selber dennoch stets der Blick eines Aussenstehenden ist; fiktive Fernsehdokumentationen sowie ein sein Leben Revue passieren lassender Raymond bilden die Rahmenhandlungen. Das daraus resultierende Seherlebnis ist herausfordernd und bisweilen auch ein wenig frustrierend, doch The Look of Love ist einer jener Filme, welche mit Verzögerung eine gewisse Faszination verströmen.

★★★

Montag, 21. Oktober 2013

Filth

© Ascot Elite

★★★

"In spite of its very obvious flaws, the absence of any properly conceived side characters being one of them, Filth is an effective – and surprisingly watchable – black comedy that remains intriguing throughout. It is particularly the second half that proves to be quite affecting, as reality starts to crumble around Bruce, giving way to genuinely unsettling jump scare hallucinations."

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).

Samstag, 19. Oktober 2013

Le thé ou l'electricité

Mehr als 120 Jahre, nachdem in den Metropolen Europas die ersten von Elektrizität betriebenen Strassenbahnen die Boulevards, welche des Abends im Schein elektrischer Laternen strahlten, eroberten, wirkt in einem kleinen marokkanischen Bergdorf eine einfache Glühbirne wie ein kleines Wunder. Ifri, gelegen an einem Hang in den Höhen des Atlas-Gebirges, besteht aus knapp zwei Dutzend Steinbarracken, deren Bewohner, überwiegend Schaf- und Ziegenhirten, bis vor kurzem ganz auf ein Leben ohne moderne Annehmlichkeiten eingestellt waren.

Doch im Zuge der Modernisierungspläne der marokkanischen Regierung kamen staatliche Arbeiter nach Ifri, um den verdutzten Berglern die Nachricht zu überbringen, ihr Dorf würde schon bald ans nationale Stromnetz angeschlossen. Beigewohnt hat dieser Entwicklung, welche, von der ersten angespannten Besprechung zwischen staatlichen Elektrikern und Dorfältesten bis zum ersten Aufflackern eines Fernsehers, drei Jahre in Anspruch nahm, der belgische Dokumentarfilmer Jérôme Le Maire.

Le thé ou l'electricité ist der Versuch, diesen epochalen, längst zur Seltenheit gewordenen Moment einzufangen, in dem eine (vergleichsweise) ursprüngliche Gesellschaft in die Moderne überführt – oder, sollte man der Sache kulturpessimistisch gegenüber stehen, gedrängt – wird. Schon im bedeutend grösseren Marktflecken, dem letzten grösseren Ort vor Ifri, wo die armen Bauern ihrem Handel nachgehen und am Basar das breite Angebot an Mobiltelefonen bestaunen, bemerkt ein Staatsangestellter, man befinde sich "in einer ganz anderen Welt". Nicht nur dem europäischen Touristen, auch dem urbanen Marokkaner sind die "typisch arabischen" Basare fremd und exotisch.

Le Maires vorzüglich fotografierter Film lebt von solchen – bedauerlicherweise viel zu dünn gesäten – Miniaturen, subtilen Verweisen darauf, dass sich die Welt nicht in klar umrissene Kategorien einteilen lässt. Elektrizität, so eine der impliziten Moralbotschaften in Le thé ou l'electricité, wird Ifri nicht von heute auf morgen in eine strahlende Zukunft katapultieren – auch wenn die Regierungsgesandten den Dörflern die neue Technik auf diese Art und Weise schmackhaft zu machen versuchen ("Bei Licht werden die Kinder besser lernen! Ihr entwickelt euch weiter!"); derweil im Dorf Einigkeit darüber herrscht, dass die Wiederaufnahme eines abgebrochenen Strassenbauprojekts substantiellere Vorteile mit sich bringen würde.

Ein Bergdorf im Atlas: Ifri.
© Cinélibre
Unterminiert wird die Dokumentation leider von Le Maires bestenfalls zweifelhafter Selektion durchgehend undatierter Aufnahmen sowie jenen Szenen, welche mit ihren raffinierten Kamerawinkel-Wechseln und ihren geschliffen wirkenden Dialogen der Inszenierung schon gefährlich nahe zu kommen scheinen. Nicht selten wirkt Le thé ou l'electricité wie eine undeklarierte Tatsachen-Nachstellung, vergleichbar mit Danis Tanovics An Episode in the Life of an Iron Picker (während das Thema an sich eher den halbdokumentarischen deutschen Publikumsliebling Die Geschichte vom weinenden Kamel in Erinnerung ruft).

Irritierender ist allerdings die moralisierende Manipulation, welche Le Maire in den letzten zehn Minuten des (zu langen) 90-minütigen Films vollzieht. Beschränkte er sich zuvor noch auf eine mehr oder minder neutrale Darstellung der Geschehnisse – Fly-on-the-Wall- und Interview-Sequenzen, in denen, weder explizit noch implizit, ein abschliessendes Urteil über die Elektrifizierung Ifris gefällt wird –, verabschiedet er sich schlussendlich von jeglicher dokumentarischer Integrität. Detailaufnahmen weit aufgerissener Augen und verstört starrender Kinder, während im Off Fernsehgeräusche zu hören sind, unterstreichen die ärgerlich dogmatische Moral, welche Le thé ou l'electricité unterschwellig zu vermitteln scheint: Mit der Ankunft des Fernsehens verschwindet die Harmonie aus dem idyllischen Ifri. Am Ende sind die dörflichen Steinpfade leer gefegt – bedeutungsschwangere Einstellungen, die mittels Parallelmontage mit Bildern von fernsehenden Dörflern verschaltet werden.

Ifri soll ans marokkanische Stromnetz angeschlossen werden.
© Cinélibre
Dass Technik diesen Effekt zeitigen kann, liegt durchaus im Bereich des Möglichen. So zeigt etwa eine der besten Szenen des Films, wie sich die jungen Erwachsenen von Ifri auf der Schafsweide treffen und sich, statt ein Auge auf die Herden zu werfen, mit ihren neu erworbenen Mobiltelefonen beschäftigen ("Heute habe ich Empfang!"). Die Installation des Stromnetzes schürt schwelende Konflikte: Wer kann sich Licht im ganzen Haus leisten? Werden sich die Dorfreichsten mit ihren vielen Steckdosen brüsten? Werden sie Geld dafür verlangen, bei ihnen fernzusehen? Am Ende scheint die oft geäusserte Linie "Der einzige Gott ist Allah" tatsächlich an Gültigkeit verloren zu haben; der technologische Fortschritt verdrängt nicht die Religion, er wird selber zur Religion, der Fernseher zum Altar.

Diesen Konflikt zwischen Tradition und Moderne aber in eine reine Dichotomie zu verwandeln – "Tee oder Elektrizität", das traditionelle Getränk oder die neumodische Verlockung –, zeugt nicht nur von schlechtem Geschmack (zumal sich viele Bewohner Ifris trotz allem über die neuen Annehmlichkeiten freuen), sondern von einem fast schon herablassenden, dem Rest des Films diametral entgegengesetzten Weltbild, in dem genügsame Armut ("Man überlebt wenigstens") als moralischer eingestuft wird als eine fortschrittsorientiertere Gesellschaft. Hier überschreitet Le Maire die Grenzen seiner Autorität. Denn dies aus der Geschichte von Ifri abzuleiten, wäre schon ein heikles Unterfangen gewesen, wenn Le thé ou l'electricité von einem Marokkaner gemacht worden wäre.

★★

Donnerstag, 17. Oktober 2013

Rush

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.


Zwei Dutzend Autos fahren stundenlang im Kreis – eine sonderlich filmreife Angelegenheit sind die Rennen der Formel 1 nicht. Der legendären Rivalität zwischen den Fahrern James Hunt und Niki Lauda entlockt Ron Howards oberflächliches Sportdrama Rush allerdings ungeahnten Unterhaltungswert.

Die Formel-1-Saison 1976 gilt gemeinhin als eines der geschichtsträchtigsten Jahre des Rennsports: Nach neun Rennen stand der eigenbrötlerische Österreicher Niki Lauda unangefochten an der Spitze des Tableaus, weit vor seinem erbittertsten Konkurrenten (und alten Freund – ein Fakt, der in Rush unter den Tisch fällt), dem britischen Lebemann und Heisssporn James Hunt. Doch am 1. August wurde Lauda auf dem Nürburgring Opfer eines verheerenden Unfalls, bei dem er schwerste Brandwunden erlitt, die ihn beinahe das Leben kosteten. Nichtsdestotrotz sass er 42 Tage später, nach nur zwei verpassten Rennen, wieder im Cockpit seines Ferraris und setzte seinen Versuch, seinen Titel zu verteidigen, fort.

Ron Howards Film widmet knapp zwei Drittel seiner Laufzeit dieser turbulenten Saison, welche am 24. Oktober 1976 mit dem hochdramatischen Grand Prix von Japan zu Ende ging. Zuvor liegt der Fokus von Drehbuchautor und "Based on a True Story"-Experte Peter Morgan (The Queen, Frost/Nixon, The Damned United) auf dem Werdegang der beiden Piloten. Beide haben mit der Ablehnung ihrer jeweiligen Familien zu kämpfen, welche ihre Liebe zu schnellen Autos nicht billigen; beide schaffen es nicht nur wegen ihres Talents, sondern auch aufgrund des strategischen Einsatzes von Kapital, in die Formel 1.

Tiefe lassen Howard und Morgan in diesen Passagen nur bedingt walten. James Hunt, überzeugend verkörpert vom Australier Chris Hemsworth (Thor), wird mit einfachsten Mitteln – zumeist gleichförmige Montagesequenzen, in denen One-Night-Stands, Alkohol- und Drogenexzesse angedeutet werden – als hedonistischer Playboy positioniert. Als polares Gegenstück figuriert Lauda, gespielt vom herausragenden Daniel Brühl, den Howard als gewissenhaften, arroganten, gnadenlos analytischen Kopfmenschen inszeniert. Dass letztendlich ausgerechnet der stets die Risiken eiskalt kalkulierende Lauda statt der weitaus aggressivere Hunt aus einem brennenden Wrack gerettet werden muss, ist der ironische Clou dieser Figuren-Gegenüberstellung. (Das Gleichgewicht wird schliesslich wieder hergestellt, als der Zuschauer erfährt, dass Lauda nach seinem Gesamtsieg 1975 noch zweimal Weltmeister wurde, während Hunt 1979 zurücktrat und 1993 45-jährig starb.)

In der Saison 1976 ist die Formel 1 gezeichnet von der erbitterten Rivalität zwischen den Fahrern James Hunt (Chris Hemsworth, links) und Niki Lauda (Daniel Brühl).
© Ascot Elite
Subtil ist an dieser angeblich nicht übermässig fiktionalisierten Rivalität wahrlich wenig: Entwicklungen finden oft zwischen Schnitten statt; Morgans Dialoge sind ungewohnt deklamatorisch; die ominösen symbolischen Vorboten von Laudas Unfall könnten klischierter nicht sein – Feuer ist in jeder Einstellung der vorangehenden Sequenz zu sehen, am Tag des Rennens zeigt die Kamera eine schwarze Spinne neben der Strecke, ein Kommentator bemerkt, Lauda sitze in seinem "blutroten" Ferrari.

Dennoch wird Rush von einer soliden Struktur sowie unbestritten aufregenden – obschon stellenweise etwas verwirrend geschnittenen – Rennszenen getragen, was den Film nicht nur passabel, sondern sogar hochgradig unterhaltsam macht; derweil die sich gegenseitig aufrichtig bewundernden Figuren Hunt und Lauda die ihnen gebührende Tiefe in der allerletzten Szene immerhin verspätet erhalten. Hinter der schnittigen Fassade von Howards Film mag nicht allzu viel Substanz stecken, doch gerade für Formel-1-Banausen bietet Rush süffige Rennsport-Unterhaltung.

★★★

Mittwoch, 16. Oktober 2013

L'écume des jours

Es scheint, als hätte Boris Vians Kult-Roman L'écume des jours (1947) bei seiner dritten Verfilmung endlich den idealen Regisseur gefunden. Nach den in Vergessenheit geratenen Versuchen von Charles Belmont (L'écume des jours, 1968) und Go Riju (Chloe, 2001) hat sich nun Michel Gondry des surrealistischen Stoffs angenommen. Eigentlich müsste die schwelgerisch-bizarre Ästhetik von Filmen wie Eternal Sunshine of the Spotless Mind und La science des rêves perfekt mit der eigenwilligen Vision des Universalkünstlers Vian harmonieren.

Und tatsächlich stehen die Zeichen zu Beginn äusserst gut: In einem atemlosen Vorspann macht Gondry sein Publikum mit dem reichen Bohémien Colin (Romain Duris) und dessen dynamischem Bediensteten Nicolas (Omar Sy – wer Anstoss an dessen Rolle in Intouchables nahm, wird sich wohl auch an dieser wundervollen Darbietung nicht erfreuen können) bekannt. In diesen Anfangsminuten zieht Gondry alle stilistischen Register: Ein Mann im Mauskostüm – in Originalgrösse, versteht sich – hastet durch Colins Wohnung; die morgendlichen Sonnenstrahlen werden zu makellos gestimmten Saiten; Nicolas bereitet mit Hilfe eines Fernsehkochs (ein Cameo von Alain Chabat), der ihm zur Not die richtigen Gewürze durch den Bildschirm reichen kann, ein auffallend lebendiges Frühstück zu: Die Speisen, farbenfrohe Arrangements aus Karton, Filz und Krepppapier, fahren und tanzen in Stop-Motion über den Tisch, während sich Colins Türklingel bei Benutzung in einen kaum aufzuhaltenden Käfer verwandelt.

Überhaupt sind Gondrys Spielereien der weitaus überzeugendste Aspekt seines L'écume des jours; die Momente, in denen er auf seine eigene, stets handgemacht wirkende Weise die ungezügelte Fantasie Vians auf die Leinwand bannt. Sein zeitlich nicht schlüssig zu verortendes Paris – das Milieu ist die Bohème der Vierzigerjahre, die manchmal Tatis Play Time evozierende Einrichtung gehört in die späten Sechzigerjahre, Schlittschuhläufer treffen sich im 1989 geschlossenen Piscine Molitor –, wo die motorischen Gesetzmässigkeiten von Jan Švankmajers Alice zu gelten scheinen, ist die Heimat überdimensionierter Vögel, dehnbarer Kinder und exzentrischer Bonvivants. Zu Letzteren gehören Colins bester Freund Chick (Gad Elmaleh) und dessen Freundin Alise (Aïssa Maïga), beides Verehrer des Star-Philosophen Jean-Sol Partre (Jean-Paul Sartre war ein enger Freund Vians), welcher in L'écume des jours, ähnlich wie Jean-Pierre Melvilles Schriftsteller Parvulescu in À bout de souffle, allgegenwärtig ist, ohne in mehr als drei Szenen effektiv aufzutreten.

Noch ist die Welt von Colin (Romain Duris, links), Chloé (Audrey Tautou) und Nicolas (Omar Sy) in Ordnung.
© Frenetic Films
Der Plot setzt ein, als Colin auf einer Geburtstagsfeier für den Terrier einer Freundin (sic) die hübsche Chloé kennen lernt; diese wird gespielt von Audrey Tautou, welche mit mässigem Erfolg versucht, die leichtfüssige Altklugheit ihrer Amélie-Performance zu reziklieren. Zwischen dem Paar entwickelt sich eine Liebe, die durch eine mysteriöse Krankheit Chloés einem tragischen Ende anheim fällt.

Je länger sich Gondry dieser Handlung widmet, desto deutlicher treten seine Schwierigkeiten im Erzählen linearer Geschichten zutage. Steht nicht seine cineastische Spielfreude im Mittelpunkt des Geschehens, verliert seine Regie an Fahrt und Reiz, insbesondere dann, wenn er sich mit einer tendenziell dünnen, weil parabelhaften, Dramaturgie wie jener Vians konfrontiert sieht. Zwar bleiben dem Film die surrealen Vignetten durchgehend erhalten, doch sobald in L'écume des jours der Plot die Überhand gewinnt, dienen sie nicht mehr der Ausschmückung von Vians fantastischer Welt, sondern der willkommenen Ablenkung. Gondry allein ist dieses Dilemma wohl allerdings nicht zuzuschreiben, da die Gegenüberstellung von Surrealismus und Erzählung in geschriebener Form immer noch am besten funktioniert. So ist sein Versuch, diese Kombination in einen Film zu übersetzen, letztlich gerade gut genug. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

★★★

Montag, 14. Oktober 2013

Jeune & Jolie

Es wäre einfach, den 14. Film François Ozons, des Subversions-Virtuosen des französischen Kinos, als hohle Provokation zu lesen, deren verschlagene Verstösse gegen etablierte Tabus nichts als eitler Selbstzweck sind. Doch Ozon ist ein zu intelligenter, zu feinsinniger Regisseur, um sich einer so banalen Tätigkeit wie dem grundlosen Schockieren hinzugeben. So liegt auch die Stärke von Jeune & Jolie, einem äusserst geschmackvollen Drama um eine minderjährige Prostituierte, nicht so sehr in seiner Darstellung eines hochgradig heiklen Themas, sondern in seiner unterschwelligen Auseinandersetzung mit einer Gesellschaft, welche ebenso abgestossen wie fasziniert ist von sexueller "Unmoral".

Motiv und Kürzest-Synopsis scheinen unmittelbar auf Belle de Jour (1967) hinzuweisen, den geradlinigsten Film des "neutestamentarischen" Luis Buñuel; der Vergleich hat durchaus seine Berechtigung. Die Geschichte der 17-jährigen Isabelle (Marine Vacth, 23), welche ihre aufkeimende Sexualität nach ihrer enttäuschenden Defloration im Sommerurlaub auslebt, indem sie sich für 300 Euro älteren Männern hingibt, enthält diverse Parallelen zu jener von Catherine Deneuves gelangweilter Hausfrau, die sich in Buñuels Film als "Schöne des Tages" prostituiert: Beide arbeiten nur an Nachmittagen, beide lassen zu Beginn ihrer sinnlichen Abenteuer symbolisch ihre Kindheit hinter sich, vermittelt durch surreale Visionen ihrer selbst; und beide erhalten Kontrolle über ihre Umfeld, indem sie sich in die vermeintlich unterwürfige Position der Edel-Prostituierten begeben.

Doch während Belle de Jour im späten Schaffen des Luis Buñuel eher einen Fremdkörper darstellt, passt Jeune & Jolie nicht nur genau in Ozons Werk; er wirkt bisweilen wie der Film, auf den das Œuvre des Franzosen seit Swimming Pool zugesteuert ist. Kontrolle ist ein zentrales Element in Ozons Universum: Seine literarisch tätigen Protagonisten in Swimming Pool und Dans la maison sind in der Lage, über ihre Zeitgenossen – sowie über das Publikum – zu verfügen, indem sie die Grenzen zwischen Fiktion und (filmischer) Realität verwischen, während die Figuren in 8 femmes und Potiche durch ihr Wissen Macht erhalten.

Darüber hinaus liegt diese Macht fast immer in den Händen von Frauen. Swimming Pool wird getragen von einer Schriftstellerin, in Potiche gelangt eine Fabrik in den Besitz der überaus fähigen Eigentümergattin (wohl nicht umsonst wird auch sie von "Belle de Jour" Catherine Deneuve verkörpert); derweil sich in 8 femmes die Suche nach starken Frauen angesichts des ausschliesslich weiblichen Casts erübrigt. Selbst im von Männern dominierten Dans la maison agiert letztlich eine Frau, die begehrte Hausfrau Emmanuelle Seigner, als Zünglein an der Waage; in ihrer Funktion als Muse bestimmt sie über den jungen Autoren (Ernst Umhauer), welcher einen Lehrer (Fabrice Luchini) mit seinen Erzählungen in seinen Bann zieht.

Schöne des Tages: Die 17-jährige Isabelle (Marine Vacth) prostituiert sich.
© filmcoopi
In Jeune & Jolie, welcher auf Experimente mit Realitätsebenen verzichtet, liegt die Kontrolle eindeutig bei Isabelle – oder Léa, wie sie sich ihren Freiern gegenüber nennt –, deren nie abschliessend geklärte Motivation, ihren Körper zu verkaufen, ihre Familie hoffnungslos überfordert. Als ihr Treiben entdeckt wird, nachdem einer ihrer Stammkunden, der verheiratete Georges (Johan Leysen), während des Beischlafs mit ihr einem Herzinfarkt erliegt, wird sie zur verfemten Ausgestossenen: Ihre Mutter (Géraldine Pailhas) schlägt auf sie ein (während sie "Weisst du, wie sehr mich das verletzt?!" schreit); eine Bekannte lässt sie nur unter Vorbehalt babysitten; ständig wird von ihrer "Tat" gesprochen, als läge ihr Vergehen darin, Georges willentlich umgebracht zu haben.

Bis zum Schluss bleibt Isabelle eine unergründliche und gerade deswegen faszinierende Präsenz (einer Erklärung für ihre Aktionen am nächsten kommt wohl Françoise Hardys Chanson im Abspann: "Je suis moi"). In ihrer jugendlichen Rebellion scheint sie die unbequeme Frage zu stellen, wie die Lage aussähe, wenn sie nicht eines halbes Jahr älter und damit volljährig wäre. Ozon geht diese Punkte nicht direkt an, sondern lässt sie sich organisch aus seinem Plot entwickeln, welcher den Zuschauer immer wieder in die Position des Voyeurs versetzt: Mehrfach späht die Kamera durch halb geöffnete Türen, erhascht einen flüchtigen Blick durch ein Fernglas, eine Menschenmenge oder einen Vorhang. Einzig die Sexszenen inszeniert Ozon in offenherzigen, unverhohlen ästhetischen Totalen – ganz der Philosophie seiner Hauptfigur entsprechend.

Isabelles Umfeld, darunter etwa ihre Mutter (Géraldine Pailhas), ahnt nichts von ihrer Arbeit.
© filmcoopi
Deren moralisierende Antagonisten, denen Ozon nicht die einfache Erklärung eines nebulösen Zuhälter-Rings gewährt, werden indes in ihrer ganzen bürgerlichen Heuchelei enttarnt: Isabelles Mutter, welche das "schmutzig" verdiente Geld ihrer Tochter einer "karitativen Vereinigung zur Wiedereingliederung von Prostituierten" zukommen lassen will, trifft sich heimlich mit einem Freund der Familie; Isabelles jüngerer Bruder (Fantin Ravat) vergnügt sich ohne elterlichen Widerspruch mit gewalttätigen Videospielen; gewisse Szenen suggerieren, dass ihr Stiefvater (Frédéric Pierrot) insgeheim ihren Körper bewundert. Die Party eines Schulfreundes, an der Isabelle auf Drängen ihrer Mutter teilnimmt, erweist sich als tieferer Sündenpfuhl als die Hotels, in denen sie sich prostituierte: In einem Zimmer werden Joints geraucht, im nächsten Kokain geschnupft; anderswo lässt sich ein knapp 15-jähriges Mädchen von zwei jungen Männern ablecken.

Dass sich Isabelle schlussendlich selber findet – wenngleich offen gelassen wird, ob sie der Prostitution endgültig entsagt –, ist folgerichtig auch nicht das Verdienst eines Vertreters dieser Gesellschaft, sondern dasjenige der Agente provocatrice schlechthin. Im dritten Akt erhält Isabelle eine Nachricht von Georges' Frau, welche die letzte Frau im Leben ihres Mannes treffen möchte. Gespielt wird sie, in einem Quasi-Cameo-Auftritt, von Charlotte Rampling – jener Schauspielerin, welche im Laufe ihrer Karriere bereits sexuelle Beziehungen zu einem ehemaligen KZ-Wächter (Il portiere di notte) sowie zu einem Schimpansen (Max, mon amour) unterhielt. Mit diesem brillanten Stück Meta-Casting krönt Ozon seinen hintersinnigen, hinterhältigen, herausragend geschriebenen Film – vielleicht seinen bisher besten.

★★★★

Sonntag, 13. Oktober 2013

Behind the Candelabra

© dcm

★★★★

"Behind the Candelabra is by no means an exceptional film but it is undoubtedly the work of a Hollywood professional in every sense of the word; a director with a clear and rigorous vision, which permeates every genre, every subject matter, and every studio constraint."

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).

Donnerstag, 10. Oktober 2013

Gangs of Wasseypur – Part 2

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.


Im zweiten Teil seines insgesamt fünfstündigen Verbrecher-Epos Gangs of Wasseypur wechselt der indische Independent-Regisseur Anurag Kashyap den Protagonisten und mit ihm die Gangart. Der Film wird getragener und zynischer – und büsst dabei nichts von seiner Klasse ein.

Im ostindischen Wasseypur, wo sich die Clans der Khans, der Qureshis und der Singhs seit den Vierzigerjahren bekriegen, ist eine neue Ära angebrochen: Der mächtige Sardar Khan (Manoj Bajpai), dessen Ziel es war, den politisch vernetzten Magnaten Ramadhir Singh (Tigmanshu Dhulia) auszuschalten, wurde von den Schergen Sultan Qureshis (Pankaj Tripathi) ermordet. Als kurz darauf auch sein heissblütiger Erstgeborener Danish (Vineet Kumar Singh), sein designierter Nachfolger, erschossen wird, liegt es am melancholischen Ganja-Kiffer Faizal (Nawazuddin Siddiqui) – von seiner Familie verachtet, von seinen Feinden belächelt –, die Ehre seiner Familie wiederherzustellen und den von Ramadhir orchestrierten Tod seines Grossvaters Shahid zu rächen.

Auf der formalen Ebene macht sich dieser Generationenwechsel gleich in mehrerlei Hinsicht bemerkbar: Zeichnete sich Gangs of Wasseypur – Part 1 noch durch sein berauschend übersetztes Tempo aus, ganz der feurigen Passion Sardars entsprechend, dominiert in Part 2 eine an Faizal ausgerichtete, tranceartigere Atmosphäre, in der schwelgerische Zeitlupenaufnahmen (von Rajeev Ravi unverändert hervorragend eingefangen) und ironische Verfremdungseffekte keine Seltenheit sind; derweil die Mischung aus poppigen Bollywood-Klängen und indischer Folklore auf der Tonspur neu von elektronischen Beats und psychedelischen Loops durchsetzt ist. Darüber hinaus verändert sich mit Faizal auch der Tonfall: Sein Humor ist hintersinniger (und bisweilen auch absurder) als derjenige Sardars; die Gewaltakte werden kälter und emotionsloser.

Analog dazu findet die implizite Chronik des modernen Indiens, welche Kashyap in Teils eins begonnen hat, hier einen neuen Fokus. Die jüngere Generation – Faizal, seine jüngeren Brüder Perpendicular (Aditya Kumar) und Definite (Zeishan Quadri), der abgefeimte Unternehmer Shamshad Alam (Raj Kumar Yadav) –, welche ab der Jahrtausendwende in Wasseypur die Macht übernimmt, orientiert sich in ihren kriminellen Akten nicht mehr ausschliesslich an Prinzipien und geschäftlicher Strategie, sondern eifert den Stars der florierenden Mumbaier Filmindustrie nach. "Alle spulen in ihren Köpfen die Filme ab, verhalten sich wie ihre Helden", spottet Ramadhir Singh, der seine Langlebigkeit seiner Abneigung gegenüber dem Kino zuschreibt. Während er Rivalen beseitigt und Zwischenhändler manipuliert, eignen sich seine junge Konkurrenten Filmposen an und färben sich ihre Haare, um wie die Schauspieler Sanjay Dutt oder Salman Khan auszusehen. "Solange es in Indien das Kino gibt", so Singh, "bleiben alle Vollidioten". (Kashyaps einschlägige Szenen – etwa als Faizal seiner zukünftigen Ehefrau im Bollywood-Stil den Hof macht – bewegen sich stets auf der Grenze zwischen Persiflage und Hommage.)

Im Ganja-Kiffer Faizal (Nawazuddin Siddiqui) findet der Clan der Khans einen neuen, gnadenlosen Anführer.
© polyband
Ansonsten führt der Film, welcher mehrmals unverhofft Aspekte aus Part 1 in veränderter Form wieder aufgreift, das fort, was bereits den ersten Teil zu einem fesselnden Erlebnis gemacht hat: Mit faszinierender Detailverliebtheit porträtiert Kashyap die von Shakespeare'schen Intrigen geprägten Bandenkriege von Wasseypur anhand der Dutzenden von involvierten, einem letztendlich aber bestens vertrauten Figuren. Ihren überstilisiert brutalen Höhepunkt erreicht die Tragödie der jahrzehntelangen Fehde zwischen Khans und Singhs in der furiosen Schlusssequenz, einer westernähnlichen Schiesserei in einem Krankenhaus, in welcher wenigstens Faizal seinen Frieden und sein Lächeln wiederfindet. Es ist das ebenso befriedigende wie wuchtige Ende eines in seiner ganzen 320-minütigen Pracht atemberaubenden Werkes.

★★★★★

Montag, 7. Oktober 2013

Gravity

"Life in space is impossible", verkündet eine der Texttafeln, mit denen Alfonso Cuaróns Weltraum-Drama Gravity, sein erster Film seit 2006 und Children of Men, eingeleitet wird. Gemeint ist damit natürlich primär der "leere" Raum (vage erinnert man sich an eine entfernte Chemie- oder Physikstunde, in der gesagt wurde, dass auch das interstellare Nichts kein perfektes Vakuum ist) zwischen den Himmelskörpern, wo, so haben wir es in zahllosen Science-Fiction-Streifen erfahren, extreme Temperaturen herrschen, kein Sauerstoff vorhanden ist, die Bewegungsmöglichkeiten dramatisch beschränkt sind und wo – selbstverständlich – "dich niemand schreien hört".

Im Lichte einer womöglich wörtlicheren Lesart jedoch wird aus dieser kühl formulierten Information plötzlich ein hintersinniges Aperçu. Ist "Life in space is impossible" nicht auch die blauäugige Aussage eines Menschen, welcher glücklich und zufrieden unter einem blauen Himmel in einer sauerstoffreichen Atmosphäre steht, ohne sich der Tatsache gewahr zu werden, dass sich sein Leben – verbracht auf einem überdimensionierten Stein, welcher um einen noch grösseren Gasball rast – in eben jenem lebensfeindlichen Weltraum abspielt?

Dieser demütige Gedanke bildet die philosophische Basis von Cuaróns Film, nämlich, dass jedes erdenkliche menschliche Unternehmen – jeder Krieg, jede Entdeckung, jede Errungenschaft – im Angesicht der endlosen Weite des Alls, in der die Erde nur "ein blasser blauer Punkt" ist, letztlich unbedeutend ist. Ist nicht das die ultimative Crux der Condition humaine, die Existenzkrise des Weltraumzeitalters – die für manche befreiende, für andere verheerende Erkenntnis, im wohl grössten aller Zusammenhänge nicht einmal eine Nebenrolle zu spielen?

Anders als Stanley Kubrick in 2001: A Space Odyssey (in dessen gigantischem Schatten sich Gravity wacker schlägt) beschäftigt sich Cuarón nicht explizit mit diesen Fragen und Motiven, sondern gliedert sie, beinahe als Nebenschauplatz, in seine fest in einer narrativen Handlung verankerte Geschichte ein, deren Survival-Dramaturgie vertrauten Formeln folgt. Nachdem ein Hagel von Weltraumschrott ihr Shuttle zerstört, wobei der Rest ihrer Crew ums Leben kommt, müssen die NASA-Astronauten Ryan Stone (Sandra Bullock) und Matt Kowalsky (George Clooney) ohne Funkkontakt zur Erde versuchen, eine andere Raumstation zu erreichen.

Ryan Stone (Sandra Bullock) und Matt Kowalsky (George Clooney) arbeiten am Hubble-Teleskop.
© 2013 Warner Bros. Ent.
Mit Ausnahme einiger symbolbeladener Bilder, welche jeweils mindestens indirekt Bezug auf 2001 nehmen – Ryans Embryo-Pose in einer Sojus-Kapsel, die evolutionäre Schlusssequenz –, sowie einem pfiffigen Verweis auf Pixars WALL-E, verschreibt sich Cuarón ganz seinem Plot. Dieser wird in 90 überwiegend packenden, überraschend schnell verfliegenden Minuten abgewickelt – ein angenehmer Gegensatz etwa zu John Sturges' thematisch ähnlichem Marooned, berüchtigt für sein schleppendes Tempo –, emotional getragen von (anfänglich) zwei soliden Darstellern, von denen Clooney mit dem scheinbaren Versuch auf sich aufmerksam macht, stellenweise Donald Sutherlands Darbietung in Space Cowboys zu kanalisieren.

Doch trotz der durchaus brauchbaren, wenngleich mitunter etwas fadenscheinigenf Dramatik ist das Drehbuch, verfasst von Vater (Alfonso) und Sohn (Jonás) Cuarón, wahrlich nicht das stärkste Element in Gravity. Nicht die vereinzelt hölzernen Dialoge und Monologe – darunter die fehlgeleiteten Versuche, Ryan in eine verkappte Actionheldin, modelliert nach Sigourney Weavers Ripley (Alien) zu verwandeln – sind es, welche dem Film seine Kraft, seine Eindringlichkeit verleihen, sondern vielmehr die formale Vision seines Regisseurs; Cuaróns Talent, das legt der Film offen, ist jenes eines Stilisten, nicht eines Wortschmieds.

Gravity ist ein technisches Wunderwerk, in dem Sound- und Bilddesign formidabel ineinander greifen. Kameramann Emmanuel Lubezki, der Architekt hinter den archaisch-entrückten Bilderwelten von Terrence Malicks letzten drei Filmen, komponiert seine lange ausgehaltenen Tableaux mit einem phänomenalen Sinn für die leere Weite des Schauplatzes und die dadurch entstehenden Grössenrelationen, unterstützt von ungemein effektivem Post-Production-3D. Einen Höhepunkt stellt dabei die erste, mehr als zehnminütige Einstellung des Films dar, in welcher die Kamera unabhängig von jeglichen physikalischen Bedenken um das Space Shuttle (die CGI-Ausstattung überzeugt vollauf) kreist, den Blick abwechselnd auf die blau-grüne Fläche "unter" den Protagonisten und die weiss gepunktete Unendlichkeit "hinter" ihnen gerichtet.

Verloren im All.
© 2013 Warner Bros. Ent.
Der Ton beeindruckt indes vorab durch seine Abwesenheit, von Steven Prices Score abgesehen, welcher nahtlos vom elektronischen Ambient- in den hie und da überbetonen orchestralen Modus wechselt. Cuaróns makellos inszenierte Action-Momente, in welchen die Figuren sich konfrontiert sehen mit einer Wolke stählerner Trümmer, die mit einem Tempo von vielen Tausend Stundenkilometern ganze Raumstationen zerfetzt, erhalten durch das fast gänzliche Fehlen von Geräuschen eine unheimliche neue Dimension.

Dass die Defizite der zuweilen gestelzt wirkenden Dialoge durch diese überwältigende formale Virtuosität des Films noch verstärkt werden, überrascht demnach nicht. Insofern ist das – dennoch keineswegs fatale – Hauptproblem des auf der tricktechnisch sicherlich zukunftsweisenden Gravity eines, welches zuletzt zu Zeiten des frühen Tonfilms weit verbreitet war: Er verliert an Tiefe, wenn er seinen Mund öffnet. Doch zu Cuaróns Glück gilt hier ebenso sehr eine Maxime, welche sogar dem Talkie vorausgeht: Manchmal ist die Kamera mächtiger als der Stift.

★★★★

Sonntag, 6. Oktober 2013

Prisoners

Im Zuge des internationalen Erfolgs, den seine oscarnominierte Theaterverfilmung Incendies (2010) feiern konnte, ist der Ruf Hollywoods an den frankokanadischen Regisseur Denis Villeneuve ergangen. Sein US-Debüt, der zweieinhalbstündige Psychothriller Prisoners, trägt thematisch wie ästhetisch seine Handschrift, vermag aber gleichzeitig auch stets den Publikumserwartungen zu trotzen – wenngleich nicht immer im positiven Sinne.

Auf den ersten Blick könnte die Affiche wie durchschnittliche Hollywood-Ware wirken: Auf dem Plakat prangen die Star-Namen Hugh Jackman und Jake Gyllenhaal; ein allzu flüchtiges Studium des Plots reduziert die Handlung auf Kindesentführung und Selbstjustiz – schon wird der Film im Geiste im Dunstkreis von düsteren, aber schnell vergessenen Fliessband-Thrillern wie Law Abiding Citizen oder Contraband (mit dem sich Prisoners den Drehbuchautor teilt) angesiedelt.

Dass Villeneuves Ansprüche aber deutlich höher liegen, ist ab der ersten Szene unübersehbar, in welcher der Frieden des Vaterunsers mit dem Abschuss eines Rehs kontrastiert wird. Prisoners ist über weite Strecken weniger ein Krimi über das Verschwinden zweier Mädchen als ein scharfsinniges Drama über die Reaktion der Menschen, die davon betroffen sind. Mit chirurgischer Präzision sezieren Villeneuve und Autor Aaron Guzikowski die Abgründe der bürgerlichen Gesellschaft, die im Moment der Krise in ein archaisches Ur-Stadium zurückfällt und die Ideale von Sicherheit, Recht und Ordnung, auf welche sie sich zuvor noch so stolz berufen hat, für ungültig erklärt.

Stellvertretend dafür steht hier Keller Dover (Jackman) – persönliches Mantra: "Be ready" –, dessen jüngste Tochter gemeinsam mit derjenigen eines befreundeten Ehepaars (Terrence Howard, Viola Davis) entführt wird. Zwar ergreift Inspektor Loki (Gyllenhaal) schnell den mutmasslichen Täter, den geistig behinderten Alex (Paul Dano), muss diesen aber bald auf freien Fuss setzen, da gegen ihn keinerlei Beweise vorliegen. Also nimmt Keller das Gesetz selber in die Hand: Während seine Frau (Maria Bello) schluchzend das Bett hütet – eine der wenigen fragwürdigen Figurenzeichnungen des Films –, lauert er Alex auf und sperrt ihn in einem verlassenen Appartementkomplex ein, wo er ihm Informationen über den Aufenthaltsort der beiden verschwundenen Mädchen mit Gewalt entlocken will.

Der mehrdeutige Titel von Prisoners bezieht sich demnach nicht ausschliesslich auf die zahlreichen physisch Gefangenen, die den Film bevölkern – von den entführten Mädchen und dem festgehaltenen Alex bis zur mysteriösen Männerleiche, die Loki in einem Kellergewölbe vorfindet –, sondern spricht ebenso das Phänomen der psychischen Gefangenschaft an, welches auch schon in thematisch verwandten Werken wie M, The Night of the Hunter, The Pledge oder Mystic River prominent figurierte. Mit zunehmender Filmdauer wächst Lokis Frustration mit den Auflagen, mit denen sein Vorgesetzter seine Ermittlungen behindert; derweil der religiöse Keller getrieben ist von seinem verzweifelten Hass auf Alex, dessen Leid er mit alttestamentarischer Sühnenmoral rechtfertigt.

Gefangene: Nach der Entführung seiner Tochter setzt Keller (Hugh Jackman, rechts) den ermittelnden Inspektor Loki (Jake Gyllenhaal) unter Druck.
© Ascot Elite
Obwohl gerade diese radikale Verwandlung des rechtschaffenen Arbeiters zum besessenen Berserker Anlass zu Diskussionen darüber geben könnte, inwieweit sie auf die Realität übertragbar ist, so werden dahingehende Bedenken durch Villeneuves kraftvolle Inszenierung, den stringenten Spannungsbogen sowie das durchgehend überzeugende Schauspiel – besonders Jackman und Gyllenhaal brillieren – zerstreut. Getragen wird das Ganze von einer faszinierenden, ungemein effektiven Atmosphäre des Unbehagens, erzeugt durch die stimmungsvoll minimalistische Musik sowie die makellose Fotografie von Roger Deakins, dessen Bilder in herbstlich-verwaschenen Grau-, Braun- und Blautönen gehalten sind und oft mit idiosynkratischem Fokus auf das Motiv der moralischen Ungewissheit hinweisen.

Was den Film aber schliesslich daran hindert, restlos zu befriedigen, ist der Weg, welchen er in seinem ausgedehnten Schlussakt einschlägt. Das komplexe Verhältnis zwischen den Figuren, die nuancierte Darstellung ethischer Dilemmata, die realitätsnahe Aussichtslosigkeit der Situation, der mutige Verzicht auf jedweden Heroismus, die Stringenz – all dies scheint Villeneuve aus seiner Erzählung zu verbannen, um in den letzten, ungewöhnlich und irritierend verworren vorgetragenen 40 Minuten seinem Film eine krude proreligiöse Moral, eine blitzaubere Auflösung sowie ein viel zu harmonisches Ende aufzupfropfen.

Getrieben von seiner Verzweiflung, versucht Keller, den mutmasslichen Täter (Paul Dano) zu einer Aussage zu zwingen.
© Ascot Elite
Beinahe hört man das Verdikt des Dr. H. aus Friedrich Dürrenmatts Versprechen:
"Doch wird leider in all diesen Kriminalgeschichten ein noch ganz anderer Schwindel getrieben. Damit meine ich nicht einmal den Umstand, dass eure Verbrecher ihre Strafe finden. Denn dieses schöne Märchen ist wohl moralisch notwendig. Es gehört zu den staatstragenden Lügen, wie etwa auch der fromme Spruch, das Verbrechen lohne sich nicht ... All dies will ich euch durchgehen lassen, und sei es auch nur aus Geschäftsprinzip, denn jedes Publikum und jeder Steuerzahler hat ein Anrecht auf seine Helden und sein Happy-End ... Nein, ich ärgere mich viel mehr über die Handlung in euren Romanen ... Ihr baut eure Handlungen logisch auf ... Der Wirklichkeit ist mit Logik nur zum Teil beizukommen".
Mehr als 100 Minuten verbringt Prisoners damit, eine Geschichte aufzubauen, in welcher der Fokus nicht auf dem Verbrechen an sich liegt, sondern auf der Fassade der "guten" Gesellschaft, welche dieses aufreisst. In der von Villeneuve konzipierten Welt ist die Hoffnung auf einen friedvollen Abschluss, wie auch die Existenz klar definierter, gesellschaftlich verträglicher Bösewichte, kaum mehr als ein allzu optimistischer, ja naiver Traum; den Protagonisten aber gerade dies zu gewähren, wirkt – bei aller filmemacherischer Brillanz – hohl und unstimmig. Prisoners beginnt in den moralischen Untiefen von Das Versprechen/The Pledge und endet in der enttäuschend blauäugigen Eintracht von Es geschah am hellichten Tag.

★★★★

Donnerstag, 3. Oktober 2013

Gangs of Wasseypur – Part 1

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.


Noch beherrscht Bollywood, das mächtige Mumbaier Studiosystem, mit seinen Musical-Romanzen das indische Kino. Doch unter dem inoffiziellen Patronat des Regisseurs Anurag Kashyap hat sich eine unabhängige Gegenkultur formiert, deren vorläufiger Höhepunkt Kashyaps Gangs of Wasseypur darstellt.

In einem Kinosessel werden 300 Minuten – volle fünf Stunden, also knapp ein Fünftel eines Tages – für die meisten Menschen zu einer ungemein langen Zeit. Filme mit Aussicht auf kommerziellen Erfolg überschreiten selten die 180-Minuten-Marke; es existieren nur einige wenige international bekannte Werke mit einer Laufzeit von über fünf Stunden – Béla Tarrs remodernistisches Opus magnum Sátántangó (430 Minuten) etwa, Claude Lanzmanns Holocaust-Dokumentation Shoah (610 Minuten) oder Jacques Rivettes berüchtigter Out 1, dessen Visionierung mehr als einen halben Tag in Anspruch nimmt (773 Minuten).

Derartige Überlegungen, sowie das Problem der Rentabilität, haben wohl dazu geführt, Anurag Kashyaps fulminantes, an Francis Ford Coppolas The Godfather angelehntes Gangster-Epos in zwei Kapitel à je 155 Minuten aufzuteilen. Vom geschäftlichen Standpunkt aus ist dies sicherlich eine sinnvolle Entscheidung. Ob man dasselbe von der künstlerischen Perspektive aus sagen kann, steht zur Debatte. Denn der erste Teil von Gangs of Wasseypur ist ein Meisterwerk des fesselnden Erzählkinos; man verlässt den Saal nicht ermüdet, sondern mit der Motivation, den Geschichten aus der ostindischen Unterwelt weitere zweieinhalb Stunden zu folgen.

Kashyap, der seine Regie-Karriere 1999 begann, aber erst mit der Romanverfilmung Dev D (2009) zum renommierten Filmemacher avancierte, berichtet in Gangs of Wasseypur, basierend auf realen Begebenheiten, von kriminellen Intrigen und Machenschaften, Irrungen und Wirrungen, welche sich in Wasseypur, einem Vorort von Indiens "Kohle-Hauptstadt" Dhanbad, zwischen 1941 und 2009 zutragen (Teil eins endet Anfang der Neunzigerjahre). Der Film ist an keine übermächtige Hauptfigur gebunden; stattdessen fokussiert sich Kashyap auf die Fehden dreier muslimischer Clans: Die Qureshis verbannten einst Shahid Khan (Jaideep Ahlawat) aus der Stadt, welcher daraufhin beim Unternehmer Ramadhir Singh (der grandiose Tigmanshu Dhulia) anheuert. Als Singh Khan wegen Betrugs ermorden lässt, schwört sich Khans Sohn Sardar (Manoj Bajpai – der eigentliche Hauptdarsteller), sich am mittlerweile politisch tätigen Singh zu rächen.

Sardar Khan (Manoj Bajpai, links) will sich am mächtigen Politiker Ramadhir Singh (Tigmanshu Dhulia) für den Tod seines Vaters rächen.
© polyband
Wollte man sämtliche thematischen und inhaltlichen Stränge des Films zusammenführen, so käme man zweifelsohne zu dem Schluss, dass sich Kashyap im grossen Stil mit der Geschichte des modernen, unabhängigen Indien auseinandersetzt: Die von den Engländern zurückgelassenen Einrichtungen – hier sind es Dhanbads Kohleminen – fallen korrupten Mogulen wie Ramadhir Singh in die Hände, welche ihrerseits in der Politik mitmischen und sich dabei mit lokalen Gangs wie den Qureshis oder den Khans (Sardar gründet selber einen Verbrecher-Clan, dem später auch seine Söhne Danish und Faizal angehören) arrangieren muss.

Doch der mit forschem Tempo sowie einem gesunden Sinn für Humor vorgetragene Gangs of Wasseypur – Part 1 zeichnet sich primär durch seine direkteren filmischen Werte aus. Mit der beide Teile überspannenden Laufzeit von fünf Stunden ist Kashyap in der Lage, ein faszinierendes Kontinuum von Figuren und Motivationen zu kreieren, in dem jeder der zahllosen Akteure eingehend charakterisiert wird. Auch Ton und Bild begeistern: Kameramann Rajeev Ravis Kompositionen sind eine Augenweide; die Musik – passenderweise immer ein paar Dezibel zu laut – setzt sich zusammen aus G. V. Prakash Kumars Score und dem von Sneha Khanwalkar zusammengestellten Soundtrack, welcher traditionelle indische Klänge mit Bollywood-Pop vermischt. 155 Minuten sind vorbei und bislang hat sich Gangs of Wasseypur als grossartiger Film erwiesen.

★★★★★

Mittwoch, 2. Oktober 2013

L'inconnu du lac

Die Literaturtheorie kennt viele Konnotationen für Wasser: Für das Leben kann es stehen, ebenso für den Tod, sein nie endender Fluss symbolisiert Veränderung und Ewigkeit; einige sehen in ihm auch einen archetypisch weiblichen Raum. Insofern ist es kaum überraschend, dass Alain Guiraudie seinen neuen Film explizit um ein Gewässer herum konstruiert hat. L'inconnu du lac verlässt diesen Rahmen nie, seine Figuren sind ausschliesslich im Kontext von Wasser, Strand, Parkplatz und Uferwäldchen zu sehen.

In diesem Kontinuum bedient sich Guiraudie einer Vielzahl von Einflüssen. Der See, den alles umkreist, ist Thoreaus Walden Pond und die Seine in Jean Renoirs Partie de campagne zugleich, ein Mikrokosmos abseits gesellschaftlicher Normen und Einengungen, wo die Zwänge und Regeln des Alltags keine Bedeutung haben. Die feine erotische Spannung, die am von homosexuellen Männern frequentierten FKK-Strand zu spüren ist, evoziert François Ozons verschlagenes Queer-Drama Swimming Pool. Beobachtet wird das Geschehen am See, dessen scheinbarer Idylle man nie richtig trauen mag, vom passiven Bisexuellen Henri (Patrick Dassumçao), einem Neuankömmling "vom anderen Ufer", der oft (und nicht nur aufgrund seiner Korpulenz) wie eine Erweiterung von Gérard Depardieus Figur in Francis Vebers subversiver LGBT-Komödie Le placard wirkt.

Unter seinen Augen verliebt sich die Hauptfigur, der junge Franck (Pierre Deladonchamps), in den muskulösen Michel (Christophe Paou). Zusammen verziehen sich diese, ganz den Gepflogenheiten in diesem südfranzösischen Eden entsprechend, wo das Ablegen von Kleidern zum guten Ton gehört, ins nahe Wäldchen, wo sich die Strandbekanntschaften zu Schäferstündchen treffen. Für Franck wird dies zunehmend zur psychischen Belastung, da er nur wenige Tage zuvor beobachtet hat, wie Michel seinen letzten Liebhaber brutal ertränkte (eine Szene, deren starre Inszenierung entfernt – und gänzlich unverhofft – an Irréversible erinnert).

Dieser Mord verleiht L'inconnu du lac auch eine Krimi-Dynamik, welche jedoch genauso diskret behandelt wird wie der mysteriöse Todesfall in Claude Chabrols Bellamy. Das Ableben einer an sich unwichtigen Nebenfigur öffnet den persönlichen Dilemmata der Figur(en) Tür und Tor; ob der Schuldige letztendlich gefasst wird, steht nicht im Zentrum. Selbst der zuständige Inspektor (Jérôme Chappatte, ein Mann der sanften, dafür zahlreichen, Gesten) ist nicht in Eile, das Verbrechen aufzuklären; vielmehr scheint sein Interesse den versteckten amourösen Vorgängen am See zu gelten. Beinahe mitleidig konstatiert er, dass sich Homosexuelle sogar an diesem geschützten Ort der Heimlichkeit verschrieben haben; man kennt sich nur vom Strand, Namen werden kaum je ausgetauscht. (Es ist bezeichnend, dass Franck, Michel und Henri erst nach rund 40 Minuten Namen erhalten).

Franck (Pierre Deladonchamps, rechts) verliebt sich in den mysteriösen Michel (Christophe Paou).
© Xenix Filmdistribution
So handelt L'inconnu du lac auch von der Einsamkeit, vor der auch der Aufenthalt unter Gleichgesinnten und -geborenen nicht schützt. Solange man im heteronormativen Alltag nicht mit Toleranz rechnen kann, ist die vollständige Befreiung auch unter Seinesgleichen nicht möglich. Guiraudie konterkariert diese triste Feststellung allerdings mit unumwundenen Szenen stürmischer, körperlich ausgelebter Liebe, welche mit Hilfe des natürlichen Lichts der Sommersonne Südfrankreichs zu legitimen Nachfolgern der impressionistischen Malerei nach Monet und (Pierre-Auguste) Renoir werden.

Das vielleicht grösste Problem von Guiraudies Film ist indes sein Hang zur mitunter ermüdenden Repetition. Während L'inconnu du lac zwar immer wieder neue, spannende Dimensionen für das Element Wasser findet – für Michels Opfer bringt es den Tod, für Franck Entspannung und Erlösung; es zu durchqueren bedeutet das Absolvieren eines Übergangsritus; die Tatsache, dass es hier ein rein männlicher Raum ist, lädt ein zur Reflexion über die Geschlechtergrenzen –, verhält sich sein Plot weniger flexibel: Die Dramaturgie scheint im dritten Akt zu stagnieren, wenngleich durchaus die Möglichkeit besteht, dass auch dies auf einen jener Gegensätze verweist, die man dem Wasser nachsagt – die Opposition zwischen Fluss und Stillstand. Dass man gewillt ist, L'inconnu du lac diese Interpretation einzuräumen, spricht für seine Qualität.

★★★