Noch beherrscht Bollywood, das mächtige Mumbaier Studiosystem, mit
seinen Musical-Romanzen das indische Kino. Doch unter dem
inoffiziellen Patronat des Regisseurs Anurag Kashyap hat sich eine
unabhängige Gegenkultur formiert, deren vorläufiger Höhepunkt
Kashyaps Gangs of Wasseypur darstellt.
In einem Kinosessel werden 300 Minuten – volle fünf Stunden, also
knapp ein Fünftel eines Tages – für die meisten Menschen zu einer
ungemein langen Zeit. Filme mit Aussicht auf kommerziellen Erfolg
überschreiten selten die 180-Minuten-Marke; es existieren nur einige
wenige international bekannte Werke mit einer Laufzeit von über fünf
Stunden – Béla Tarrs remodernistisches Opus magnum Sátántangó (430 Minuten) etwa, Claude Lanzmanns Holocaust-Dokumentation Shoah (610 Minuten) oder Jacques Rivettes berüchtigter Out 1, dessen
Visionierung mehr als einen halben Tag in Anspruch nimmt (773
Minuten).
Derartige Überlegungen, sowie das Problem der Rentabilität, haben
wohl dazu geführt, Anurag Kashyaps fulminantes, an Francis Ford
Coppolas The Godfather angelehntes Gangster-Epos in zwei
Kapitel à je 155 Minuten aufzuteilen. Vom geschäftlichen Standpunkt
aus ist dies sicherlich eine sinnvolle Entscheidung. Ob man dasselbe
von der künstlerischen Perspektive aus sagen kann, steht zur
Debatte. Denn der erste Teil von Gangs of Wasseypur ist ein
Meisterwerk des fesselnden Erzählkinos; man verlässt den Saal nicht
ermüdet, sondern mit der Motivation, den Geschichten aus der
ostindischen Unterwelt weitere zweieinhalb Stunden zu folgen.
Kashyap, der seine Regie-Karriere 1999 begann, aber erst mit der
Romanverfilmung Dev D (2009) zum renommierten Filmemacher
avancierte, berichtet in Gangs of Wasseypur, basierend auf
realen Begebenheiten, von kriminellen Intrigen und Machenschaften,
Irrungen und Wirrungen, welche sich in Wasseypur, einem Vorort von
Indiens "Kohle-Hauptstadt" Dhanbad, zwischen 1941 und 2009
zutragen (Teil eins endet Anfang der Neunzigerjahre). Der Film ist an
keine übermächtige Hauptfigur gebunden; stattdessen fokussiert sich
Kashyap auf die Fehden dreier muslimischer Clans: Die Qureshis
verbannten einst Shahid Khan (Jaideep Ahlawat) aus der Stadt, welcher
daraufhin beim Unternehmer Ramadhir Singh (der grandiose Tigmanshu
Dhulia) anheuert. Als Singh Khan wegen Betrugs ermorden lässt,
schwört sich Khans Sohn Sardar (Manoj Bajpai – der eigentliche
Hauptdarsteller), sich am mittlerweile politisch tätigen Singh zu
rächen.
Sardar Khan (Manoj Bajpai, links) will sich am mächtigen Politiker
Ramadhir Singh (Tigmanshu Dhulia) für den Tod seines Vaters rächen.
© polyband
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Wollte man sämtliche thematischen und inhaltlichen Stränge des
Films zusammenführen, so käme man zweifelsohne zu dem Schluss, dass
sich Kashyap im grossen Stil mit der Geschichte des modernen,
unabhängigen Indien auseinandersetzt: Die von den Engländern
zurückgelassenen Einrichtungen – hier sind es Dhanbads Kohleminen
– fallen korrupten Mogulen wie Ramadhir Singh in die Hände, welche
ihrerseits in der Politik mitmischen und sich dabei mit lokalen Gangs
wie den Qureshis oder den Khans (Sardar gründet selber einen
Verbrecher-Clan, dem später auch seine Söhne Danish und Faizal
angehören) arrangieren muss.
Doch der mit forschem Tempo sowie einem gesunden Sinn für Humor
vorgetragene Gangs of Wasseypur – Part 1 zeichnet sich primär
durch seine direkteren filmischen Werte aus. Mit der beide Teile
überspannenden Laufzeit von fünf Stunden ist Kashyap in der Lage,
ein faszinierendes Kontinuum von Figuren und Motivationen zu
kreieren, in dem jeder der zahllosen Akteure eingehend
charakterisiert wird. Auch Ton und Bild begeistern: Kameramann Rajeev
Ravis Kompositionen sind eine Augenweide; die Musik –
passenderweise immer ein paar Dezibel zu laut – setzt sich zusammen
aus G. V. Prakash Kumars Score und dem von Sneha Khanwalkar
zusammengestellten Soundtrack, welcher traditionelle indische Klänge
mit Bollywood-Pop vermischt. 155 Minuten sind vorbei und bislang hat
sich Gangs of Wasseypur als grossartiger Film erwiesen.
★★★★★
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