Montag, 7. Oktober 2013

Gravity

"Life in space is impossible", verkündet eine der Texttafeln, mit denen Alfonso Cuaróns Weltraum-Drama Gravity, sein erster Film seit 2006 und Children of Men, eingeleitet wird. Gemeint ist damit natürlich primär der "leere" Raum (vage erinnert man sich an eine entfernte Chemie- oder Physikstunde, in der gesagt wurde, dass auch das interstellare Nichts kein perfektes Vakuum ist) zwischen den Himmelskörpern, wo, so haben wir es in zahllosen Science-Fiction-Streifen erfahren, extreme Temperaturen herrschen, kein Sauerstoff vorhanden ist, die Bewegungsmöglichkeiten dramatisch beschränkt sind und wo – selbstverständlich – "dich niemand schreien hört".

Im Lichte einer womöglich wörtlicheren Lesart jedoch wird aus dieser kühl formulierten Information plötzlich ein hintersinniges Aperçu. Ist "Life in space is impossible" nicht auch die blauäugige Aussage eines Menschen, welcher glücklich und zufrieden unter einem blauen Himmel in einer sauerstoffreichen Atmosphäre steht, ohne sich der Tatsache gewahr zu werden, dass sich sein Leben – verbracht auf einem überdimensionierten Stein, welcher um einen noch grösseren Gasball rast – in eben jenem lebensfeindlichen Weltraum abspielt?

Dieser demütige Gedanke bildet die philosophische Basis von Cuaróns Film, nämlich, dass jedes erdenkliche menschliche Unternehmen – jeder Krieg, jede Entdeckung, jede Errungenschaft – im Angesicht der endlosen Weite des Alls, in der die Erde nur "ein blasser blauer Punkt" ist, letztlich unbedeutend ist. Ist nicht das die ultimative Crux der Condition humaine, die Existenzkrise des Weltraumzeitalters – die für manche befreiende, für andere verheerende Erkenntnis, im wohl grössten aller Zusammenhänge nicht einmal eine Nebenrolle zu spielen?

Anders als Stanley Kubrick in 2001: A Space Odyssey (in dessen gigantischem Schatten sich Gravity wacker schlägt) beschäftigt sich Cuarón nicht explizit mit diesen Fragen und Motiven, sondern gliedert sie, beinahe als Nebenschauplatz, in seine fest in einer narrativen Handlung verankerte Geschichte ein, deren Survival-Dramaturgie vertrauten Formeln folgt. Nachdem ein Hagel von Weltraumschrott ihr Shuttle zerstört, wobei der Rest ihrer Crew ums Leben kommt, müssen die NASA-Astronauten Ryan Stone (Sandra Bullock) und Matt Kowalsky (George Clooney) ohne Funkkontakt zur Erde versuchen, eine andere Raumstation zu erreichen.

Ryan Stone (Sandra Bullock) und Matt Kowalsky (George Clooney) arbeiten am Hubble-Teleskop.
© 2013 Warner Bros. Ent.
Mit Ausnahme einiger symbolbeladener Bilder, welche jeweils mindestens indirekt Bezug auf 2001 nehmen – Ryans Embryo-Pose in einer Sojus-Kapsel, die evolutionäre Schlusssequenz –, sowie einem pfiffigen Verweis auf Pixars WALL-E, verschreibt sich Cuarón ganz seinem Plot. Dieser wird in 90 überwiegend packenden, überraschend schnell verfliegenden Minuten abgewickelt – ein angenehmer Gegensatz etwa zu John Sturges' thematisch ähnlichem Marooned, berüchtigt für sein schleppendes Tempo –, emotional getragen von (anfänglich) zwei soliden Darstellern, von denen Clooney mit dem scheinbaren Versuch auf sich aufmerksam macht, stellenweise Donald Sutherlands Darbietung in Space Cowboys zu kanalisieren.

Doch trotz der durchaus brauchbaren, wenngleich mitunter etwas fadenscheinigenf Dramatik ist das Drehbuch, verfasst von Vater (Alfonso) und Sohn (Jonás) Cuarón, wahrlich nicht das stärkste Element in Gravity. Nicht die vereinzelt hölzernen Dialoge und Monologe – darunter die fehlgeleiteten Versuche, Ryan in eine verkappte Actionheldin, modelliert nach Sigourney Weavers Ripley (Alien) zu verwandeln – sind es, welche dem Film seine Kraft, seine Eindringlichkeit verleihen, sondern vielmehr die formale Vision seines Regisseurs; Cuaróns Talent, das legt der Film offen, ist jenes eines Stilisten, nicht eines Wortschmieds.

Gravity ist ein technisches Wunderwerk, in dem Sound- und Bilddesign formidabel ineinander greifen. Kameramann Emmanuel Lubezki, der Architekt hinter den archaisch-entrückten Bilderwelten von Terrence Malicks letzten drei Filmen, komponiert seine lange ausgehaltenen Tableaux mit einem phänomenalen Sinn für die leere Weite des Schauplatzes und die dadurch entstehenden Grössenrelationen, unterstützt von ungemein effektivem Post-Production-3D. Einen Höhepunkt stellt dabei die erste, mehr als zehnminütige Einstellung des Films dar, in welcher die Kamera unabhängig von jeglichen physikalischen Bedenken um das Space Shuttle (die CGI-Ausstattung überzeugt vollauf) kreist, den Blick abwechselnd auf die blau-grüne Fläche "unter" den Protagonisten und die weiss gepunktete Unendlichkeit "hinter" ihnen gerichtet.

Verloren im All.
© 2013 Warner Bros. Ent.
Der Ton beeindruckt indes vorab durch seine Abwesenheit, von Steven Prices Score abgesehen, welcher nahtlos vom elektronischen Ambient- in den hie und da überbetonen orchestralen Modus wechselt. Cuaróns makellos inszenierte Action-Momente, in welchen die Figuren sich konfrontiert sehen mit einer Wolke stählerner Trümmer, die mit einem Tempo von vielen Tausend Stundenkilometern ganze Raumstationen zerfetzt, erhalten durch das fast gänzliche Fehlen von Geräuschen eine unheimliche neue Dimension.

Dass die Defizite der zuweilen gestelzt wirkenden Dialoge durch diese überwältigende formale Virtuosität des Films noch verstärkt werden, überrascht demnach nicht. Insofern ist das – dennoch keineswegs fatale – Hauptproblem des auf der tricktechnisch sicherlich zukunftsweisenden Gravity eines, welches zuletzt zu Zeiten des frühen Tonfilms weit verbreitet war: Er verliert an Tiefe, wenn er seinen Mund öffnet. Doch zu Cuaróns Glück gilt hier ebenso sehr eine Maxime, welche sogar dem Talkie vorausgeht: Manchmal ist die Kamera mächtiger als der Stift.

★★★★

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