Montag, 14. Oktober 2013

Jeune & Jolie

Es wäre einfach, den 14. Film François Ozons, des Subversions-Virtuosen des französischen Kinos, als hohle Provokation zu lesen, deren verschlagene Verstösse gegen etablierte Tabus nichts als eitler Selbstzweck sind. Doch Ozon ist ein zu intelligenter, zu feinsinniger Regisseur, um sich einer so banalen Tätigkeit wie dem grundlosen Schockieren hinzugeben. So liegt auch die Stärke von Jeune & Jolie, einem äusserst geschmackvollen Drama um eine minderjährige Prostituierte, nicht so sehr in seiner Darstellung eines hochgradig heiklen Themas, sondern in seiner unterschwelligen Auseinandersetzung mit einer Gesellschaft, welche ebenso abgestossen wie fasziniert ist von sexueller "Unmoral".

Motiv und Kürzest-Synopsis scheinen unmittelbar auf Belle de Jour (1967) hinzuweisen, den geradlinigsten Film des "neutestamentarischen" Luis Buñuel; der Vergleich hat durchaus seine Berechtigung. Die Geschichte der 17-jährigen Isabelle (Marine Vacth, 23), welche ihre aufkeimende Sexualität nach ihrer enttäuschenden Defloration im Sommerurlaub auslebt, indem sie sich für 300 Euro älteren Männern hingibt, enthält diverse Parallelen zu jener von Catherine Deneuves gelangweilter Hausfrau, die sich in Buñuels Film als "Schöne des Tages" prostituiert: Beide arbeiten nur an Nachmittagen, beide lassen zu Beginn ihrer sinnlichen Abenteuer symbolisch ihre Kindheit hinter sich, vermittelt durch surreale Visionen ihrer selbst; und beide erhalten Kontrolle über ihre Umfeld, indem sie sich in die vermeintlich unterwürfige Position der Edel-Prostituierten begeben.

Doch während Belle de Jour im späten Schaffen des Luis Buñuel eher einen Fremdkörper darstellt, passt Jeune & Jolie nicht nur genau in Ozons Werk; er wirkt bisweilen wie der Film, auf den das Œuvre des Franzosen seit Swimming Pool zugesteuert ist. Kontrolle ist ein zentrales Element in Ozons Universum: Seine literarisch tätigen Protagonisten in Swimming Pool und Dans la maison sind in der Lage, über ihre Zeitgenossen – sowie über das Publikum – zu verfügen, indem sie die Grenzen zwischen Fiktion und (filmischer) Realität verwischen, während die Figuren in 8 femmes und Potiche durch ihr Wissen Macht erhalten.

Darüber hinaus liegt diese Macht fast immer in den Händen von Frauen. Swimming Pool wird getragen von einer Schriftstellerin, in Potiche gelangt eine Fabrik in den Besitz der überaus fähigen Eigentümergattin (wohl nicht umsonst wird auch sie von "Belle de Jour" Catherine Deneuve verkörpert); derweil sich in 8 femmes die Suche nach starken Frauen angesichts des ausschliesslich weiblichen Casts erübrigt. Selbst im von Männern dominierten Dans la maison agiert letztlich eine Frau, die begehrte Hausfrau Emmanuelle Seigner, als Zünglein an der Waage; in ihrer Funktion als Muse bestimmt sie über den jungen Autoren (Ernst Umhauer), welcher einen Lehrer (Fabrice Luchini) mit seinen Erzählungen in seinen Bann zieht.

Schöne des Tages: Die 17-jährige Isabelle (Marine Vacth) prostituiert sich.
© filmcoopi
In Jeune & Jolie, welcher auf Experimente mit Realitätsebenen verzichtet, liegt die Kontrolle eindeutig bei Isabelle – oder Léa, wie sie sich ihren Freiern gegenüber nennt –, deren nie abschliessend geklärte Motivation, ihren Körper zu verkaufen, ihre Familie hoffnungslos überfordert. Als ihr Treiben entdeckt wird, nachdem einer ihrer Stammkunden, der verheiratete Georges (Johan Leysen), während des Beischlafs mit ihr einem Herzinfarkt erliegt, wird sie zur verfemten Ausgestossenen: Ihre Mutter (Géraldine Pailhas) schlägt auf sie ein (während sie "Weisst du, wie sehr mich das verletzt?!" schreit); eine Bekannte lässt sie nur unter Vorbehalt babysitten; ständig wird von ihrer "Tat" gesprochen, als läge ihr Vergehen darin, Georges willentlich umgebracht zu haben.

Bis zum Schluss bleibt Isabelle eine unergründliche und gerade deswegen faszinierende Präsenz (einer Erklärung für ihre Aktionen am nächsten kommt wohl Françoise Hardys Chanson im Abspann: "Je suis moi"). In ihrer jugendlichen Rebellion scheint sie die unbequeme Frage zu stellen, wie die Lage aussähe, wenn sie nicht eines halbes Jahr älter und damit volljährig wäre. Ozon geht diese Punkte nicht direkt an, sondern lässt sie sich organisch aus seinem Plot entwickeln, welcher den Zuschauer immer wieder in die Position des Voyeurs versetzt: Mehrfach späht die Kamera durch halb geöffnete Türen, erhascht einen flüchtigen Blick durch ein Fernglas, eine Menschenmenge oder einen Vorhang. Einzig die Sexszenen inszeniert Ozon in offenherzigen, unverhohlen ästhetischen Totalen – ganz der Philosophie seiner Hauptfigur entsprechend.

Isabelles Umfeld, darunter etwa ihre Mutter (Géraldine Pailhas), ahnt nichts von ihrer Arbeit.
© filmcoopi
Deren moralisierende Antagonisten, denen Ozon nicht die einfache Erklärung eines nebulösen Zuhälter-Rings gewährt, werden indes in ihrer ganzen bürgerlichen Heuchelei enttarnt: Isabelles Mutter, welche das "schmutzig" verdiente Geld ihrer Tochter einer "karitativen Vereinigung zur Wiedereingliederung von Prostituierten" zukommen lassen will, trifft sich heimlich mit einem Freund der Familie; Isabelles jüngerer Bruder (Fantin Ravat) vergnügt sich ohne elterlichen Widerspruch mit gewalttätigen Videospielen; gewisse Szenen suggerieren, dass ihr Stiefvater (Frédéric Pierrot) insgeheim ihren Körper bewundert. Die Party eines Schulfreundes, an der Isabelle auf Drängen ihrer Mutter teilnimmt, erweist sich als tieferer Sündenpfuhl als die Hotels, in denen sie sich prostituierte: In einem Zimmer werden Joints geraucht, im nächsten Kokain geschnupft; anderswo lässt sich ein knapp 15-jähriges Mädchen von zwei jungen Männern ablecken.

Dass sich Isabelle schlussendlich selber findet – wenngleich offen gelassen wird, ob sie der Prostitution endgültig entsagt –, ist folgerichtig auch nicht das Verdienst eines Vertreters dieser Gesellschaft, sondern dasjenige der Agente provocatrice schlechthin. Im dritten Akt erhält Isabelle eine Nachricht von Georges' Frau, welche die letzte Frau im Leben ihres Mannes treffen möchte. Gespielt wird sie, in einem Quasi-Cameo-Auftritt, von Charlotte Rampling – jener Schauspielerin, welche im Laufe ihrer Karriere bereits sexuelle Beziehungen zu einem ehemaligen KZ-Wächter (Il portiere di notte) sowie zu einem Schimpansen (Max, mon amour) unterhielt. Mit diesem brillanten Stück Meta-Casting krönt Ozon seinen hintersinnigen, hinterhältigen, herausragend geschriebenen Film – vielleicht seinen bisher besten.

★★★★

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