Es wäre einfach, den 14. Film François Ozons, des
Subversions-Virtuosen des französischen Kinos, als hohle Provokation
zu lesen, deren verschlagene Verstösse gegen etablierte Tabus nichts
als eitler Selbstzweck sind. Doch Ozon ist ein zu intelligenter, zu
feinsinniger Regisseur, um sich einer so banalen Tätigkeit wie dem
grundlosen Schockieren hinzugeben. So liegt auch die Stärke von
Jeune & Jolie, einem äusserst geschmackvollen Drama um
eine minderjährige Prostituierte, nicht so sehr in seiner
Darstellung eines hochgradig heiklen Themas, sondern in seiner
unterschwelligen Auseinandersetzung mit einer Gesellschaft, welche
ebenso abgestossen wie fasziniert ist von sexueller "Unmoral".
Motiv und Kürzest-Synopsis scheinen unmittelbar auf Belle de Jour
(1967) hinzuweisen, den geradlinigsten Film des
"neutestamentarischen" Luis Buñuel; der Vergleich hat
durchaus seine Berechtigung. Die Geschichte der 17-jährigen Isabelle
(Marine Vacth, 23), welche ihre aufkeimende Sexualität nach ihrer
enttäuschenden Defloration im Sommerurlaub auslebt, indem sie sich
für 300 Euro älteren Männern hingibt, enthält diverse Parallelen
zu jener von Catherine Deneuves gelangweilter Hausfrau, die sich in
Buñuels Film als "Schöne des Tages" prostituiert: Beide
arbeiten nur an Nachmittagen, beide lassen zu Beginn ihrer sinnlichen
Abenteuer symbolisch ihre Kindheit hinter sich, vermittelt durch
surreale Visionen ihrer selbst; und beide erhalten Kontrolle über
ihre Umfeld, indem sie sich in die vermeintlich unterwürfige
Position der Edel-Prostituierten begeben.
Doch während Belle de Jour im späten Schaffen des Luis
Buñuel eher einen Fremdkörper darstellt, passt Jeune & Jolie
nicht nur genau in Ozons Werk; er wirkt bisweilen wie der Film,
auf den das Œuvre des Franzosen seit Swimming Pool
zugesteuert ist. Kontrolle ist ein zentrales Element in Ozons
Universum: Seine literarisch tätigen Protagonisten in Swimming
Pool und Dans la maison sind in der Lage, über ihre
Zeitgenossen – sowie über das Publikum – zu verfügen, indem sie
die Grenzen zwischen Fiktion und (filmischer) Realität verwischen,
während die Figuren in 8 femmes und Potiche durch ihr
Wissen Macht erhalten.
Darüber
hinaus liegt diese Macht fast immer in den Händen von Frauen.
Swimming Pool wird
getragen von einer Schriftstellerin, in Potiche
gelangt
eine Fabrik in den Besitz der überaus fähigen Eigentümergattin
(wohl nicht umsonst wird auch sie von "Belle de Jour"
Catherine Deneuve verkörpert); derweil sich in 8
femmes die
Suche nach starken Frauen angesichts des ausschliesslich weiblichen
Casts erübrigt. Selbst im von Männern dominierten Dans
la maison agiert
letztlich eine Frau, die begehrte Hausfrau Emmanuelle Seigner, als
Zünglein an der Waage; in ihrer Funktion als Muse bestimmt sie über
den jungen Autoren (Ernst Umhauer), welcher einen Lehrer (Fabrice
Luchini) mit seinen Erzählungen in seinen Bann zieht.
Schöne des Tages: Die 17-jährige Isabelle (Marine Vacth) prostituiert sich. © filmcoopi |
In
Jeune & Jolie,
welcher auf Experimente mit Realitätsebenen verzichtet, liegt die
Kontrolle eindeutig bei Isabelle – oder Léa, wie sie sich ihren
Freiern gegenüber nennt –, deren nie abschliessend geklärte
Motivation, ihren Körper zu verkaufen, ihre Familie hoffnungslos
überfordert. Als ihr Treiben entdeckt wird, nachdem einer ihrer
Stammkunden, der verheiratete Georges (Johan Leysen), während des
Beischlafs mit ihr einem Herzinfarkt erliegt, wird sie zur verfemten
Ausgestossenen: Ihre Mutter (Géraldine Pailhas) schlägt auf sie ein
(während sie "Weisst du, wie sehr mich das verletzt?!"
schreit); eine Bekannte lässt sie nur unter Vorbehalt babysitten;
ständig wird von ihrer "Tat" gesprochen, als läge ihr
Vergehen darin, Georges willentlich umgebracht zu haben.
Bis
zum Schluss bleibt Isabelle eine unergründliche und gerade deswegen
faszinierende Präsenz (einer Erklärung für ihre Aktionen am
nächsten kommt wohl Françoise Hardys Chanson im Abspann: "Je
suis moi"). In ihrer jugendlichen Rebellion scheint sie die
unbequeme Frage zu stellen, wie die Lage aussähe, wenn sie nicht
eines halbes Jahr älter und damit volljährig wäre. Ozon geht diese
Punkte nicht direkt an, sondern lässt sie sich organisch aus seinem
Plot entwickeln, welcher den Zuschauer immer wieder in die Position
des Voyeurs versetzt: Mehrfach späht die Kamera durch halb geöffnete
Türen, erhascht einen flüchtigen Blick durch ein Fernglas, eine
Menschenmenge oder einen Vorhang. Einzig die Sexszenen inszeniert
Ozon in offenherzigen, unverhohlen ästhetischen Totalen – ganz der
Philosophie seiner Hauptfigur entsprechend.
Isabelles Umfeld, darunter etwa ihre Mutter (Géraldine Pailhas), ahnt nichts von ihrer Arbeit. © filmcoopi |
Deren moralisierende Antagonisten, denen Ozon nicht die einfache
Erklärung eines nebulösen Zuhälter-Rings gewährt, werden indes in
ihrer ganzen bürgerlichen Heuchelei enttarnt: Isabelles Mutter,
welche das "schmutzig" verdiente Geld ihrer Tochter einer
"karitativen Vereinigung zur Wiedereingliederung von
Prostituierten" zukommen lassen will, trifft sich heimlich mit
einem Freund der Familie; Isabelles jüngerer Bruder (Fantin Ravat)
vergnügt sich ohne elterlichen Widerspruch mit gewalttätigen
Videospielen; gewisse Szenen suggerieren, dass ihr Stiefvater
(Frédéric Pierrot) insgeheim ihren Körper bewundert. Die Party
eines Schulfreundes, an der Isabelle auf Drängen ihrer Mutter
teilnimmt, erweist sich als tieferer Sündenpfuhl als die Hotels, in
denen sie sich prostituierte: In einem Zimmer werden Joints geraucht,
im nächsten Kokain geschnupft; anderswo lässt sich ein knapp
15-jähriges Mädchen von zwei jungen Männern ablecken.
Dass
sich Isabelle schlussendlich selber findet – wenngleich offen
gelassen wird, ob sie der Prostitution endgültig entsagt –, ist
folgerichtig auch nicht das Verdienst eines Vertreters dieser
Gesellschaft, sondern dasjenige der Agente provocatrice schlechthin.
Im dritten Akt erhält Isabelle eine Nachricht von Georges' Frau,
welche die letzte Frau im Leben ihres Mannes treffen möchte.
Gespielt wird sie, in einem Quasi-Cameo-Auftritt, von Charlotte
Rampling – jener Schauspielerin, welche im Laufe ihrer Karriere
bereits sexuelle Beziehungen zu einem ehemaligen KZ-Wächter (Il
portiere di notte)
sowie zu einem Schimpansen (Max,
mon amour)
unterhielt. Mit diesem brillanten Stück Meta-Casting krönt Ozon
seinen hintersinnigen, hinterhältigen, herausragend geschriebenen
Film – vielleicht seinen bisher besten.
★★★★
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