Mehr als 120 Jahre, nachdem in den Metropolen Europas die ersten von
Elektrizität betriebenen Strassenbahnen die Boulevards, welche des
Abends im Schein elektrischer Laternen strahlten, eroberten, wirkt in
einem kleinen marokkanischen Bergdorf eine einfache Glühbirne wie
ein kleines Wunder. Ifri, gelegen an einem Hang in den Höhen des
Atlas-Gebirges, besteht aus knapp zwei Dutzend Steinbarracken, deren
Bewohner, überwiegend Schaf- und Ziegenhirten, bis vor kurzem ganz
auf ein Leben ohne moderne Annehmlichkeiten eingestellt waren.
Doch im Zuge der Modernisierungspläne der marokkanischen Regierung
kamen staatliche Arbeiter nach Ifri, um den verdutzten Berglern die
Nachricht zu überbringen, ihr Dorf würde schon bald ans nationale
Stromnetz angeschlossen. Beigewohnt hat dieser Entwicklung, welche,
von der ersten angespannten Besprechung zwischen staatlichen
Elektrikern und Dorfältesten bis zum ersten Aufflackern eines
Fernsehers, drei Jahre in Anspruch nahm, der belgische
Dokumentarfilmer Jérôme Le Maire.
Le
thé ou l'electricité ist
der Versuch, diesen epochalen, längst zur Seltenheit gewordenen
Moment einzufangen, in dem eine (vergleichsweise) ursprüngliche
Gesellschaft in die Moderne überführt – oder, sollte man der
Sache kulturpessimistisch gegenüber stehen, gedrängt – wird.
Schon im bedeutend grösseren Marktflecken, dem letzten grösseren
Ort vor Ifri, wo die armen Bauern ihrem Handel nachgehen und am Basar
das breite Angebot an Mobiltelefonen bestaunen, bemerkt ein
Staatsangestellter, man befinde sich "in einer ganz anderen
Welt". Nicht nur dem europäischen Touristen, auch dem urbanen
Marokkaner sind die "typisch arabischen" Basare fremd und
exotisch.
Le
Maires vorzüglich fotografierter Film lebt von solchen –
bedauerlicherweise viel zu dünn gesäten – Miniaturen, subtilen
Verweisen darauf, dass sich die Welt nicht in klar umrissene
Kategorien einteilen lässt. Elektrizität, so eine der impliziten
Moralbotschaften in Le
thé ou l'electricité,
wird Ifri nicht von heute auf morgen in eine strahlende Zukunft
katapultieren – auch wenn die Regierungsgesandten den Dörflern die
neue Technik auf diese Art und Weise schmackhaft zu machen versuchen
("Bei Licht werden die Kinder besser lernen! Ihr entwickelt euch
weiter!"); derweil im Dorf Einigkeit darüber herrscht, dass die
Wiederaufnahme eines abgebrochenen Strassenbauprojekts
substantiellere Vorteile mit sich bringen würde.
Ein Bergdorf im Atlas: Ifri. © Cinélibre |
Unterminiert wird die Dokumentation leider von Le Maires bestenfalls
zweifelhafter Selektion durchgehend undatierter Aufnahmen sowie jenen
Szenen, welche mit ihren raffinierten Kamerawinkel-Wechseln und ihren
geschliffen wirkenden Dialogen der Inszenierung schon gefährlich
nahe zu kommen scheinen. Nicht selten wirkt Le thé ou
l'electricité wie eine undeklarierte Tatsachen-Nachstellung,
vergleichbar mit Danis Tanovics An Episode in the Life of an Iron
Picker (während das Thema an sich eher den halbdokumentarischen
deutschen Publikumsliebling Die Geschichte vom weinenden Kamel in
Erinnerung ruft).
Irritierender ist allerdings die moralisierende Manipulation, welche
Le Maire in den letzten zehn Minuten des (zu langen) 90-minütigen
Films vollzieht. Beschränkte er sich zuvor noch auf eine mehr oder
minder neutrale Darstellung der Geschehnisse – Fly-on-the-Wall- und
Interview-Sequenzen, in denen, weder explizit noch implizit, ein
abschliessendes Urteil über die Elektrifizierung Ifris gefällt wird
–, verabschiedet er sich schlussendlich von jeglicher
dokumentarischer Integrität. Detailaufnahmen weit aufgerissener
Augen und verstört starrender Kinder, während im Off
Fernsehgeräusche zu hören sind, unterstreichen die ärgerlich
dogmatische Moral, welche Le thé ou l'electricité unterschwellig
zu vermitteln scheint: Mit der Ankunft des Fernsehens verschwindet
die Harmonie aus dem idyllischen Ifri. Am Ende sind die dörflichen
Steinpfade leer gefegt – bedeutungsschwangere Einstellungen, die
mittels Parallelmontage mit Bildern von fernsehenden Dörflern
verschaltet werden.
Ifri soll ans marokkanische Stromnetz angeschlossen werden. © Cinélibre |
Dass Technik diesen Effekt zeitigen kann, liegt durchaus im Bereich
des Möglichen. So zeigt etwa eine der besten Szenen des Films, wie
sich die jungen Erwachsenen von Ifri auf der Schafsweide treffen und
sich, statt ein Auge auf die Herden zu werfen, mit ihren neu
erworbenen Mobiltelefonen beschäftigen ("Heute habe ich
Empfang!"). Die Installation des Stromnetzes schürt schwelende
Konflikte: Wer kann sich Licht im ganzen Haus leisten? Werden sich
die Dorfreichsten mit ihren vielen Steckdosen brüsten? Werden sie
Geld dafür verlangen, bei ihnen fernzusehen? Am Ende scheint die oft
geäusserte Linie "Der einzige Gott ist Allah" tatsächlich
an Gültigkeit verloren zu haben; der technologische Fortschritt
verdrängt nicht die Religion, er wird selber zur Religion, der
Fernseher zum Altar.
Diesen Konflikt zwischen Tradition und Moderne aber in eine reine
Dichotomie zu verwandeln – "Tee oder Elektrizität", das
traditionelle Getränk oder die neumodische Verlockung –, zeugt
nicht nur von schlechtem Geschmack (zumal sich viele Bewohner Ifris
trotz allem über die neuen Annehmlichkeiten freuen), sondern von
einem fast schon herablassenden, dem Rest des Films diametral
entgegengesetzten Weltbild, in dem genügsame Armut ("Man
überlebt wenigstens") als moralischer eingestuft wird als eine
fortschrittsorientiertere Gesellschaft. Hier überschreitet Le Maire
die Grenzen seiner Autorität. Denn dies aus der Geschichte von Ifri
abzuleiten, wäre schon ein heikles Unterfangen gewesen, wenn Le
thé ou l'electricité von einem Marokkaner gemacht worden wäre.
★★
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