Die Literaturtheorie kennt viele Konnotationen für Wasser: Für das
Leben kann es stehen, ebenso für den Tod, sein nie endender Fluss
symbolisiert Veränderung und Ewigkeit; einige sehen in ihm auch
einen archetypisch weiblichen Raum. Insofern ist es kaum
überraschend, dass Alain Guiraudie seinen neuen Film explizit um ein
Gewässer herum konstruiert hat. L'inconnu du lac verlässt
diesen Rahmen nie, seine Figuren sind ausschliesslich im Kontext von
Wasser, Strand, Parkplatz und Uferwäldchen zu sehen.
In diesem Kontinuum bedient sich Guiraudie einer Vielzahl von
Einflüssen. Der See, den alles umkreist, ist Thoreaus Walden Pond
und die Seine in Jean Renoirs Partie de campagne zugleich, ein
Mikrokosmos abseits gesellschaftlicher Normen und Einengungen, wo die
Zwänge und Regeln des Alltags keine Bedeutung haben. Die feine
erotische Spannung, die am von homosexuellen Männern frequentierten
FKK-Strand zu spüren ist, evoziert François Ozons verschlagenes
Queer-Drama Swimming Pool. Beobachtet wird das Geschehen am
See, dessen scheinbarer Idylle man nie richtig trauen mag, vom
passiven Bisexuellen Henri (Patrick Dassumçao), einem Neuankömmling
"vom anderen Ufer", der oft (und nicht nur aufgrund seiner
Korpulenz) wie eine Erweiterung von Gérard Depardieus Figur in
Francis Vebers subversiver LGBT-Komödie Le placard wirkt.
Unter seinen Augen verliebt sich die Hauptfigur, der junge Franck
(Pierre Deladonchamps), in den muskulösen Michel (Christophe Paou).
Zusammen verziehen sich diese, ganz den Gepflogenheiten in diesem
südfranzösischen Eden entsprechend, wo das Ablegen von Kleidern zum
guten Ton gehört, ins nahe Wäldchen, wo sich die
Strandbekanntschaften zu Schäferstündchen treffen. Für Franck wird
dies zunehmend zur psychischen Belastung, da er nur wenige Tage zuvor
beobachtet hat, wie Michel seinen letzten Liebhaber brutal ertränkte
(eine Szene, deren starre Inszenierung entfernt – und gänzlich
unverhofft – an Irréversible erinnert).
Dieser Mord verleiht L'inconnu du lac auch eine Krimi-Dynamik,
welche jedoch genauso diskret behandelt wird wie der mysteriöse
Todesfall in Claude Chabrols Bellamy. Das Ableben einer an
sich unwichtigen Nebenfigur öffnet den persönlichen Dilemmata der
Figur(en) Tür und Tor; ob der Schuldige letztendlich gefasst wird,
steht nicht im Zentrum. Selbst der zuständige Inspektor (Jérôme
Chappatte, ein Mann der sanften, dafür zahlreichen, Gesten) ist
nicht in Eile, das Verbrechen aufzuklären; vielmehr scheint sein
Interesse den versteckten amourösen Vorgängen am See zu gelten.
Beinahe mitleidig konstatiert er, dass sich Homosexuelle sogar an
diesem geschützten Ort der Heimlichkeit verschrieben haben; man
kennt sich nur vom Strand, Namen werden kaum je ausgetauscht. (Es ist
bezeichnend, dass Franck, Michel und Henri erst nach rund 40 Minuten
Namen erhalten).
Franck (Pierre Deladonchamps, rechts) verliebt sich in den mysteriösen Michel (Christophe Paou). © Xenix Filmdistribution |
So handelt L'inconnu du lac auch von der Einsamkeit, vor der
auch der Aufenthalt unter Gleichgesinnten und -geborenen nicht
schützt. Solange man im heteronormativen Alltag nicht mit Toleranz
rechnen kann, ist die vollständige Befreiung auch unter
Seinesgleichen nicht möglich. Guiraudie konterkariert diese triste
Feststellung allerdings mit unumwundenen Szenen stürmischer,
körperlich ausgelebter Liebe, welche mit Hilfe des natürlichen
Lichts der Sommersonne Südfrankreichs zu legitimen Nachfolgern der
impressionistischen Malerei nach Monet und (Pierre-Auguste) Renoir
werden.
★★★
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