Sonntag, 6. Oktober 2013

Prisoners

Im Zuge des internationalen Erfolgs, den seine oscarnominierte Theaterverfilmung Incendies (2010) feiern konnte, ist der Ruf Hollywoods an den frankokanadischen Regisseur Denis Villeneuve ergangen. Sein US-Debüt, der zweieinhalbstündige Psychothriller Prisoners, trägt thematisch wie ästhetisch seine Handschrift, vermag aber gleichzeitig auch stets den Publikumserwartungen zu trotzen – wenngleich nicht immer im positiven Sinne.

Auf den ersten Blick könnte die Affiche wie durchschnittliche Hollywood-Ware wirken: Auf dem Plakat prangen die Star-Namen Hugh Jackman und Jake Gyllenhaal; ein allzu flüchtiges Studium des Plots reduziert die Handlung auf Kindesentführung und Selbstjustiz – schon wird der Film im Geiste im Dunstkreis von düsteren, aber schnell vergessenen Fliessband-Thrillern wie Law Abiding Citizen oder Contraband (mit dem sich Prisoners den Drehbuchautor teilt) angesiedelt.

Dass Villeneuves Ansprüche aber deutlich höher liegen, ist ab der ersten Szene unübersehbar, in welcher der Frieden des Vaterunsers mit dem Abschuss eines Rehs kontrastiert wird. Prisoners ist über weite Strecken weniger ein Krimi über das Verschwinden zweier Mädchen als ein scharfsinniges Drama über die Reaktion der Menschen, die davon betroffen sind. Mit chirurgischer Präzision sezieren Villeneuve und Autor Aaron Guzikowski die Abgründe der bürgerlichen Gesellschaft, die im Moment der Krise in ein archaisches Ur-Stadium zurückfällt und die Ideale von Sicherheit, Recht und Ordnung, auf welche sie sich zuvor noch so stolz berufen hat, für ungültig erklärt.

Stellvertretend dafür steht hier Keller Dover (Jackman) – persönliches Mantra: "Be ready" –, dessen jüngste Tochter gemeinsam mit derjenigen eines befreundeten Ehepaars (Terrence Howard, Viola Davis) entführt wird. Zwar ergreift Inspektor Loki (Gyllenhaal) schnell den mutmasslichen Täter, den geistig behinderten Alex (Paul Dano), muss diesen aber bald auf freien Fuss setzen, da gegen ihn keinerlei Beweise vorliegen. Also nimmt Keller das Gesetz selber in die Hand: Während seine Frau (Maria Bello) schluchzend das Bett hütet – eine der wenigen fragwürdigen Figurenzeichnungen des Films –, lauert er Alex auf und sperrt ihn in einem verlassenen Appartementkomplex ein, wo er ihm Informationen über den Aufenthaltsort der beiden verschwundenen Mädchen mit Gewalt entlocken will.

Der mehrdeutige Titel von Prisoners bezieht sich demnach nicht ausschliesslich auf die zahlreichen physisch Gefangenen, die den Film bevölkern – von den entführten Mädchen und dem festgehaltenen Alex bis zur mysteriösen Männerleiche, die Loki in einem Kellergewölbe vorfindet –, sondern spricht ebenso das Phänomen der psychischen Gefangenschaft an, welches auch schon in thematisch verwandten Werken wie M, The Night of the Hunter, The Pledge oder Mystic River prominent figurierte. Mit zunehmender Filmdauer wächst Lokis Frustration mit den Auflagen, mit denen sein Vorgesetzter seine Ermittlungen behindert; derweil der religiöse Keller getrieben ist von seinem verzweifelten Hass auf Alex, dessen Leid er mit alttestamentarischer Sühnenmoral rechtfertigt.

Gefangene: Nach der Entführung seiner Tochter setzt Keller (Hugh Jackman, rechts) den ermittelnden Inspektor Loki (Jake Gyllenhaal) unter Druck.
© Ascot Elite
Obwohl gerade diese radikale Verwandlung des rechtschaffenen Arbeiters zum besessenen Berserker Anlass zu Diskussionen darüber geben könnte, inwieweit sie auf die Realität übertragbar ist, so werden dahingehende Bedenken durch Villeneuves kraftvolle Inszenierung, den stringenten Spannungsbogen sowie das durchgehend überzeugende Schauspiel – besonders Jackman und Gyllenhaal brillieren – zerstreut. Getragen wird das Ganze von einer faszinierenden, ungemein effektiven Atmosphäre des Unbehagens, erzeugt durch die stimmungsvoll minimalistische Musik sowie die makellose Fotografie von Roger Deakins, dessen Bilder in herbstlich-verwaschenen Grau-, Braun- und Blautönen gehalten sind und oft mit idiosynkratischem Fokus auf das Motiv der moralischen Ungewissheit hinweisen.

Was den Film aber schliesslich daran hindert, restlos zu befriedigen, ist der Weg, welchen er in seinem ausgedehnten Schlussakt einschlägt. Das komplexe Verhältnis zwischen den Figuren, die nuancierte Darstellung ethischer Dilemmata, die realitätsnahe Aussichtslosigkeit der Situation, der mutige Verzicht auf jedweden Heroismus, die Stringenz – all dies scheint Villeneuve aus seiner Erzählung zu verbannen, um in den letzten, ungewöhnlich und irritierend verworren vorgetragenen 40 Minuten seinem Film eine krude proreligiöse Moral, eine blitzaubere Auflösung sowie ein viel zu harmonisches Ende aufzupfropfen.

Getrieben von seiner Verzweiflung, versucht Keller, den mutmasslichen Täter (Paul Dano) zu einer Aussage zu zwingen.
© Ascot Elite
Beinahe hört man das Verdikt des Dr. H. aus Friedrich Dürrenmatts Versprechen:
"Doch wird leider in all diesen Kriminalgeschichten ein noch ganz anderer Schwindel getrieben. Damit meine ich nicht einmal den Umstand, dass eure Verbrecher ihre Strafe finden. Denn dieses schöne Märchen ist wohl moralisch notwendig. Es gehört zu den staatstragenden Lügen, wie etwa auch der fromme Spruch, das Verbrechen lohne sich nicht ... All dies will ich euch durchgehen lassen, und sei es auch nur aus Geschäftsprinzip, denn jedes Publikum und jeder Steuerzahler hat ein Anrecht auf seine Helden und sein Happy-End ... Nein, ich ärgere mich viel mehr über die Handlung in euren Romanen ... Ihr baut eure Handlungen logisch auf ... Der Wirklichkeit ist mit Logik nur zum Teil beizukommen".
Mehr als 100 Minuten verbringt Prisoners damit, eine Geschichte aufzubauen, in welcher der Fokus nicht auf dem Verbrechen an sich liegt, sondern auf der Fassade der "guten" Gesellschaft, welche dieses aufreisst. In der von Villeneuve konzipierten Welt ist die Hoffnung auf einen friedvollen Abschluss, wie auch die Existenz klar definierter, gesellschaftlich verträglicher Bösewichte, kaum mehr als ein allzu optimistischer, ja naiver Traum; den Protagonisten aber gerade dies zu gewähren, wirkt – bei aller filmemacherischer Brillanz – hohl und unstimmig. Prisoners beginnt in den moralischen Untiefen von Das Versprechen/The Pledge und endet in der enttäuschend blauäugigen Eintracht von Es geschah am hellichten Tag.

★★★★

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