Im Zuge des internationalen Erfolgs, den seine oscarnominierte
Theaterverfilmung Incendies (2010) feiern konnte, ist der Ruf
Hollywoods an den frankokanadischen Regisseur Denis Villeneuve
ergangen. Sein US-Debüt, der zweieinhalbstündige Psychothriller
Prisoners, trägt thematisch wie ästhetisch seine
Handschrift, vermag aber gleichzeitig auch stets den
Publikumserwartungen zu trotzen – wenngleich nicht immer im
positiven Sinne.
Auf den ersten Blick könnte die Affiche wie durchschnittliche
Hollywood-Ware wirken: Auf dem Plakat prangen die Star-Namen Hugh
Jackman und Jake Gyllenhaal; ein allzu flüchtiges Studium des Plots
reduziert die Handlung auf Kindesentführung und Selbstjustiz –
schon wird der Film im Geiste im Dunstkreis von düsteren, aber
schnell vergessenen Fliessband-Thrillern wie Law Abiding Citizen
oder Contraband (mit dem sich Prisoners den
Drehbuchautor teilt) angesiedelt.
Dass Villeneuves Ansprüche aber deutlich höher liegen, ist ab der
ersten Szene unübersehbar, in welcher der Frieden des Vaterunsers
mit dem Abschuss eines Rehs kontrastiert wird. Prisoners ist
über weite Strecken weniger ein Krimi über das Verschwinden zweier
Mädchen als ein scharfsinniges Drama über die Reaktion der
Menschen, die davon betroffen sind. Mit chirurgischer Präzision
sezieren Villeneuve und Autor Aaron Guzikowski die Abgründe der
bürgerlichen Gesellschaft, die im Moment der Krise in ein
archaisches Ur-Stadium zurückfällt und die Ideale von Sicherheit,
Recht und Ordnung, auf welche sie sich zuvor noch so stolz berufen
hat, für ungültig erklärt.
Stellvertretend dafür steht hier Keller Dover (Jackman) –
persönliches Mantra: "Be ready" –, dessen jüngste
Tochter gemeinsam mit derjenigen eines befreundeten Ehepaars
(Terrence Howard, Viola Davis) entführt wird. Zwar ergreift
Inspektor Loki (Gyllenhaal) schnell den mutmasslichen Täter, den
geistig behinderten Alex (Paul Dano), muss diesen aber bald auf
freien Fuss setzen, da gegen ihn keinerlei Beweise vorliegen. Also
nimmt Keller das Gesetz selber in die Hand: Während seine Frau
(Maria Bello) schluchzend das Bett hütet – eine der wenigen
fragwürdigen Figurenzeichnungen des Films –, lauert er Alex auf
und sperrt ihn in einem verlassenen Appartementkomplex ein, wo er ihm
Informationen über den Aufenthaltsort der beiden verschwundenen
Mädchen mit Gewalt entlocken will.
Der mehrdeutige Titel von Prisoners bezieht
sich demnach nicht ausschliesslich auf die zahlreichen physisch
Gefangenen, die den Film bevölkern – von den entführten Mädchen
und dem festgehaltenen Alex bis zur mysteriösen Männerleiche, die
Loki in einem Kellergewölbe vorfindet –, sondern spricht ebenso
das Phänomen der psychischen Gefangenschaft an, welches auch schon
in thematisch verwandten Werken wie M,
The Night of the
Hunter, The
Pledge oder Mystic
River prominent
figurierte. Mit zunehmender Filmdauer wächst Lokis Frustration mit
den Auflagen, mit denen sein Vorgesetzter seine Ermittlungen
behindert; derweil der religiöse Keller getrieben ist von seinem
verzweifelten Hass auf Alex, dessen Leid er mit alttestamentarischer
Sühnenmoral rechtfertigt.
Gefangene: Nach der Entführung seiner Tochter setzt Keller (Hugh Jackman, rechts) den ermittelnden Inspektor Loki (Jake Gyllenhaal) unter Druck. © Ascot Elite |
Obwohl gerade diese radikale Verwandlung des rechtschaffenen
Arbeiters zum besessenen Berserker Anlass zu Diskussionen darüber
geben könnte, inwieweit sie auf die Realität übertragbar ist, so
werden dahingehende Bedenken durch Villeneuves kraftvolle
Inszenierung, den stringenten Spannungsbogen sowie das durchgehend
überzeugende Schauspiel – besonders Jackman und Gyllenhaal
brillieren – zerstreut. Getragen wird das Ganze von einer
faszinierenden, ungemein effektiven Atmosphäre des Unbehagens,
erzeugt durch die stimmungsvoll minimalistische Musik sowie die
makellose Fotografie von Roger Deakins, dessen Bilder in
herbstlich-verwaschenen Grau-, Braun- und Blautönen gehalten sind
und oft mit idiosynkratischem
Fokus auf das Motiv der moralischen Ungewissheit hinweisen.
Was den Film aber schliesslich daran hindert, restlos zu befriedigen,
ist der Weg, welchen er in seinem ausgedehnten Schlussakt einschlägt.
Das komplexe Verhältnis zwischen den Figuren, die nuancierte
Darstellung ethischer Dilemmata, die realitätsnahe
Aussichtslosigkeit der Situation, der mutige Verzicht auf jedweden
Heroismus, die Stringenz – all dies scheint Villeneuve aus seiner
Erzählung zu verbannen, um in den letzten, ungewöhnlich und
irritierend verworren vorgetragenen 40 Minuten seinem Film eine krude
proreligiöse Moral, eine blitzaubere Auflösung sowie ein viel zu
harmonisches Ende aufzupfropfen.
Getrieben von seiner Verzweiflung, versucht Keller, den mutmasslichen Täter (Paul Dano) zu einer Aussage zu zwingen. © Ascot Elite |
Beinahe hört man das Verdikt des
Dr. H. aus Friedrich Dürrenmatts Versprechen:
"Doch wird leider in all diesen Kriminalgeschichten ein noch ganz anderer Schwindel getrieben. Damit meine ich nicht einmal den Umstand, dass eure Verbrecher ihre Strafe finden. Denn dieses schöne Märchen ist wohl moralisch notwendig. Es gehört zu den staatstragenden Lügen, wie etwa auch der fromme Spruch, das Verbrechen lohne sich nicht ... All dies will ich euch durchgehen lassen, und sei es auch nur aus Geschäftsprinzip, denn jedes Publikum und jeder Steuerzahler hat ein Anrecht auf seine Helden und sein Happy-End ... Nein, ich ärgere mich viel mehr über die Handlung in euren Romanen ... Ihr baut eure Handlungen logisch auf ... Der Wirklichkeit ist mit Logik nur zum Teil beizukommen".
Mehr als 100 Minuten verbringt
Prisoners damit,
eine Geschichte aufzubauen, in welcher der Fokus nicht auf dem
Verbrechen an sich liegt, sondern auf der Fassade der "guten"
Gesellschaft, welche dieses aufreisst. In der von Villeneuve
konzipierten Welt ist die Hoffnung auf einen friedvollen Abschluss,
wie auch die Existenz klar definierter, gesellschaftlich
verträglicher Bösewichte, kaum mehr als ein allzu optimistischer,
ja naiver Traum; den Protagonisten aber gerade dies zu gewähren,
wirkt – bei aller filmemacherischer Brillanz – hohl und
unstimmig. Prisoners
beginnt in den
moralischen Untiefen von Das
Versprechen/The
Pledge und endet in
der enttäuschend blauäugigen Eintracht von Es
geschah am hellichten Tag.
★★★★
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