Freitag, 29. November 2013

Blue Jasmine

Woody Allens bald 50-jährige Karriere als Filmemacher ist geprägt von den oft zu komödiantischem Effekt eingesetzten Neurosen, die er seinen Figuren, nicht selten verkappten Darstellungen seiner selbst, andichtete. Auch in Blue Jasmine, seiner 44. Regiearbeit, stellt er die Labilität der menschlichen Psyche in den Mittelpunkt, erlaubt es sich aber, dieser nicht mit seinem berühmten lakonischen Schalk, sondern mit (ironisch gebrochener) Empathie zu begegnen.

Das Objekt dieser tragikomischen Studie ist die materiell wie mental tief gefallene Jeanette Francis (Cate Blanchett), einer einst stolzen Vertreterin der New Yorker Park-Avenue-Hautevolee, deren reicher Ehemann Hal (Alec Baldwin) wegen gross angelegten Finanzbetrugs ins Gefängnis wandert, weshalb sie, entehrt und bankrott, sich gezwungen sieht, bei ihrer mittelständlerischen Schwester Ginger (Sally Hawkins) in San Francisco Unterschlupf zu suchen.

Allens nonlinear-assoziative Dramaturgie, welche zwischen der für Jeanette – die sich vor Jahren "Jasmine" zu nennen begann – tristen, von ihr verabscheuten Gegenwart und ihrer Vergangenheit im Überfluss hin- und herschaltet, quasi als Spiegelung der dissonanten Gedankenwelt Jasmines, bewegt sich stets auf der Grenzlinie zwischen feinfühligem Psychogramm und scharfer Satire. Blue Jasmine kennt keine Gnade mit dem angestammten Milieu seiner Hauptfigur; mit spitzer, oftmals überspitzter, Feder zeichnet Allen das Bild einer in eleganter Dekadenz schwelgenden Oberschicht, nach deren Verständnis "extravagant" ein Kompliment und die Unterhaltung mit Angehörigen tiefer liegender Gesellschaftsschichten – etwa mit Ginger und ihrem Ex-Mann Augie (Andrew Dice Clay) –, "harte Arbeit" bedeutet.

Mit dem Profit, den Hal aus dem Geld schlägt, welches er Menschen wie Ginger und Augie abknöpft, um es in seine windigen Geschäfte zu investieren, erfüllt er Jasmine jeden Wunsch; der Doppelsinn des auffallend häufig geäusserten Wortes "spoil" – "Let me spoil you", "You shouldn't spoil me so", "Who else should I spoil?" – wird spätestens dann offensichtlich, als die inzwischen mittellose Jasmine hoch erhobenen Hauptes und mit drei Louis-Vuitton-Taschen im Anschlag an Gingers Tür klopft und verkündet, sie ertrage es nicht, etwas anderes als Business Class zu fliegen. Es scheint, als hätte die jüngste Finanzkrise zwar die monetären Mittel beeinflusst, nicht aber die Attitüde.

"Shaken and stirred": Jasmine (Cate Blanchett) muss die New Yorker Hautevolee hinter sich lassen.
© Frenetic Films
Sympathie vermag diese herablassende, ewig Cocktails schlürfende Jasmine – ein schauspielerischer Höhepunkt in der Filmografie der nachgerade phänomenalen Cate Blanchett – nie zu erwecken, wohl aber mitleidige Faszination. Man erkennt in ihr die ikonische Leinwand-Persona Allens, etwa während der Auflistung ihrer zahlreichen Ängste, doch Jasmines Unfähigkeit (wohl eine zutreffendere Beschreibung als "Weigerung"), sich an ihre neue Situation anzupassen, und ihr Beharren darauf, das Umfeld ihrer Schwester, darunter Gingers neuen Freund (der hervorragende Bobby Cannavale), den für sie weiterhin bestehenden Klassenunterschied spüren zu lassen, entfernen sie merklich von Allens zumindest aus der Distanz liebenswertem Neurotiker.

Jasmines unglückseliger Neuanfang in San Francisco wird jedoch nicht mit hämischer Schadenfreude, sondern mit feiner Melancholie – und einem bisweilen allzu theaterhaften Hang zum erklärenden Dialog – inszeniert; ihre amourösen Missgeschicke mit einem Zahnarzt (Michael Stuhlbarg) und einem ehrgeizigen Politiker (Peter Sarsgaard) sind perzeptive Momente voller absurder Tragik, ebenso ihre fast schon resignierende Einsicht "There's only so many traumas a person can withstand before they take to the streets and start screaming". Den Zenit erreicht Jasmines als niederschmetternd, ja demütigend empfundene Begegnung mit der Realität, als sie erkennen muss, dass ihre Schwester – das genügsame Gegenstück der "substantial person", welche Jasmine sein will –, anders als sie, in der Lage ist, sich mit den Problemen zu arrangieren, die das Schicksal (oder das Drehbuch) ihr aufhalst. Doch ihre Geschichte endet nicht mit einem Schreianfall auf offener Strasse, sondern mit einem der treffendsten und eloquentesten Schlussbilder im Werk des Woody Allen.

★★★★★

Donnerstag, 28. November 2013

The Hunger Games: Catching Fire

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.


Die Verfilmung des zweiten Teils von Suzanne Collins' Hunger Games-Jugendbuch-Trilogie wartet mit einem neuen Regisseur, zwei neuen Autoren sowie dem doppelten Budget des ersten Eintrags auf. Doch wie bereits dieser fordert auch Catching Fire die gängigen Blockbuster-Konventionen heraus.

Panem, gelegen im Nordamerika einer unbestimmten Zukunft, ist zu Beginn von Collins' Roman The Hunger Games (2008) und Gary Ross' gleichnamiger Filmadaption (2012) eingeteilt in zwölf Distrikte, welche vom dekadenten "Capitol" unterjocht werden. Eingeschüchtert wird die Bevölkerung durch die alljährlichen Hunger Games, ein live im Fernsehen übertragenes Sportereignis, in dem sich 24 Teenager – zwei pro Distrikt – so lange bekämpfen, bis schliesslich der letzte Überlebende als Sieger von dannen zieht. Doch im ersten Trilogieteil, im Laufe der 74. Hungerspiele, erhält die strikte Ordnung Risse: Die "Tribute" aus dem ärmsten aller Distrikte, Katniss Everdeen (Jennifer Lawrence) und Peeta Mellark (Josh Hutcherson), umgehen die Spielregeln so, dass sie zu gemeinsam Siegern erklärt werden.

Dieser Akt der Auflehnung hat Konsequenzen: In Catching Fire gärt es in den Distrikten. Um einer Revolution vorzubeugen, zwingt Panems Präsident Snow (Donald Sutherland) Peeta und vor allem Katniss, das inoffizielle Gesicht des Widerstands, dazu, sich als Freunde des Capitols zu zeigen. Als dies seine Wirkung verfehlt, greift Snow zu einem Trick, um die Macht von Katniss und ihresgleichen zu brechen: Zum 75. Jubiläum der Spiele werden die Teilnehmer nicht aus dem Fussvolk ausgelost, sondern aus den bisherigen Siegern. Katniss und Peeta kehren in die Arena zurück.

Will man dem dichten Plot des Hunger Games-Mittelstücks gerecht werden, drängt sich eine detaillierte Einführung – in die Prämisse von Suzanne Collins' Universum einerseits, in die Sachlage der ersten Fortsetzung andererseits – nachgerade auf, gerade weil eine der Stärken von Catching Fire, auf Papier wie Zelluloid, das Vertiefen von Aspekten des ersten Teils ist. Gary Ross schaffte es in The Hunger Games, die beklemmend unmittelbare Atmosphäre von Collins' Roman mit viel Verve auf die Leinwand zu transponieren; in Catching Fire spitzt sich diese Atmosphäre, analog zur Eskalation der Lage in Panem, unter Regisseur Francis Lawrence sowie den oscarprämierten Skripteuren Simon Beaufoy (Slumdog Millionaire) und Michael Arndt (Little Miss Sunshine), zu.

Auf ihrer Siegestour müssen die Hunger-Games-Überlebenden Katniss (Jennifer Lawrence) und Peeta (Josh Hutcherson) Propaganda für die Capitol-Diktatur machen.
© Impuls Pictures AG
Vermittelt wird dies aber nicht, wie man es von einem Projekt dieser Grössenordnung erwarten würde, mit einer höheren Dichte an effekthascherischen Actionszenen (wobei die Action, wenn sie eintritt, äusserst gekonnt inszeniert ist) oder einem Hang zu übertriebenem Pathos. Catching Fire ist ein Blockbuster, der sich dem Stigma des Wortes als Synonym für sinnleeren Kintopp widersetzt. Einfache Antworten und austauschbare Selbstzweck-Unterhaltung finden ebenso wenig statt wie das Anbiedern an jene Fans der Franchise, welche darauf beharren, darin nichts anderes als eine Dreiecks-Liebesgeschichte zwischen Katniss, Peeta und dem rebellischen Gale (Liam Hemsworth) zu sehen – wenngleich der Film stellenweise zu stark auf dieser Konstellation verweilt. Lawrence, Beaufoy und Arndt verstehen den seriösen Subtext von Collins' Büchern und widmen gut zwei Drittel der Laufzeit der Darstellung des Orwell'schen Überwachungsstaates Panem, welcher sein Volk mit belangloser Glamour-Berichterstattung gefügig macht, es mit Sonderberichterstattungen über die Garderobe von Katniss und Peeta von den echten Problemen abzulenken versucht. Catching Fire ist intelligenter und schärfer als man es einer Hollywood-Grossproduktion gemeinhin zutrauen würde; er verlangt einen aktiven und aufmerksamen Zuschauer, der bereit ist, sich mit der gewichtigen Materie auseinanderzusetzen. Ein "Blockbuster", der dies voraussetzt, macht Hoffnung.

★★★★★

Donnerstag, 21. November 2013

Captain Phillips

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.


2009 kaperten vier Piraten ein amerikanisches Frachtschiff vor Somalia. Der britische Regisseur Paul Greengrass hat das Drama nun minutiös aufgearbeitet: Captain Phillips ist zugleich ein packender Tatsachenbericht und ein Lehrstück über Geopolitik, Globalisierung und Terrorismus nach 9/11.

Den Grundstein zu diesem Film legte das Studio Columbia Pictures bereits im Frühling 2009. Kaum ein Monat war seit den turbulenten Ereignissen im westlichen Indischen Ozean vergangen, als sich Produktionsverantwortliche an Richard Phillips, den Kapitän des geenterten Frachters "Maersk Alabama", wandten und sich die Rechte an seiner Geschichte sicherten. Man kann dies als Zeichen für fehlende Sensibilität und die sprichwörtliche Sensationsgier seitens Hollywoods werten, hatte doch Phillips – welcher von den vier jungen somalischen Piraten zum Schluss auf einem Rettungsboot als Geisel gehalten wurde – zu diesem Zeitpunkt wohl sein Trauma noch lange nicht überwunden. Doch immerhin gelangte der hochgradig filmische Stoff in die Hände von Paul Greengrass. Hätten weniger begabte Regisseure Phillips' Tortur vielleicht als ein Stück klassischen Heroismus inszeniert – der aufrechte Amerikaner bezwingt mit eisernem Willen verschlagene Terroristen –, stellt Greengrass in Captain Phillips einmal mehr sein Gespür für Feinheiten und Grautöne unter Beweis.

Wie schon in seinen Aufarbeitungen der nordirischen "Troubles" (Bloody Sunday, 2002) und der Anschläge vom 11. September (United 93, 2006) ist auch hier kein Platz für simple Gut-Böse-Dichotomien; die blutige Beendigung der Krise stellt, wie auch die Tötung Osama Bin Ladens im ähnlich intensiven Zero Dark Thirty, keinen Triumph dar. Vielmehr sind Kapitän Phillips (Tom Hanks) und die gleichermassen sorgfältig beleuchteten Piraten unter dem Kommando des knapp 20-jährigen Muse (Barkhad Abdi) der Spielball von Mächten, welche über ihre Köpfe hinweg operieren ("We all got bosses"), ihre Situation das Resultat einer Welt, deren wirtschaftliche und politische Mechanismen ausser Kontrolle geraten sind. Die Crux der Globalisierung durchdringt Autor Billy Rays Narrativ: Britische Anti-Piraten-Kontrollzentren haben ihren Sitz in Dubai; Hilfsgüter für das im Westen allzu oft als kulturelles Ganzes wahrgenommene Afrika haben bereits eine halbe Weltreise hinter sich, wenn sie im gigantischen omanischen Umschlagplatz, von wo die "Maersk Alabama" ausläuft, ankommen; die Tatsache, dass ein irgendwo in West Virginia gemeldetes Schiff, benannt nach einem US-Südstaat, einen Botengang im Indischen Ozean absolviert, entbehrt nicht einer gewissen impliziten Absurdität.

Das von Richard Phillips (Tom Hanks) kommandierte Frachtschiff wird von somalischen Piraten geentert.
© 2013 Sony Pictures Releasing GmbH
Greengrass kontrastiert dies mit dem beinahe zynischen Pragmatismus von Muse und seinen Männern (zwischen denen im Laufe der Entführung eine angespannte Dog Day Afternoon-Dynamik entsteht), welche aufgrund der kommerziellen Überfischung ihrer Gewässer die Fischerei aufgeben mussten und sich der Piraterie zuwandten – und doch sind drei Kriegsschiffe nötig, um die vier Amateure zu überwältigen. "No Al-Qaeda here. Just business. We want money", lautet ihre Beschwichtigungsformel an Phillips' Besatzung; ihre Angriffe – bezeichnet mit dem kapitalistischen Slogan "No game for the weak" – sehen sie als eine Form von Steuereintreibung.

Letztendlich ist Captain Phillips aber vor allem eines: ein packendes Erlebnis – dramaturgisch reduktionistisch, formvollendet inszeniert, von Barry Ackroyd (The Hurt Locker) atmosphärisch rastlos eingefangen –, welches einem das seltene Gefühl gibt, erst nach der allerletzten Einstellung wieder tief durchatmen zu können. Emotional getragen wird der Film vom magistral aufspielenden Tom Hanks, der mit dem still und minimalistisch vorgetragenen mentalen Zusammenbruch des zuvor stets kühl-analytischen Kapitän Phillips einen erschütternden Schlussstrich unter Greengrass' beeindruckendes Thrillerdrama setzt.

★★★★★

Dienstag, 19. November 2013

La Vénus à la fourrure

"Warum muss man heute alles auf etwas anderes zurückführen?", empört sich der Theaterautor Thomas (Mathieu Amalric), als die Schauspielerin Vanda (Emmanuelle Seigner) bei einem Vorsprechen versucht, seine Bearbeitung von Leopold Sacher-Masochs Novelle Venus im Pelz als Plädoyer gegen Kindesmisshandlung zu lesen. Er verbitte es sich darüber hinaus, mit der masochistisch veranlagten Hauptfigur Severin von Kusiemski identifiziert zu werden; der Text, so Thomas, sei "keine Anthropologie, keine Soziologie, sondern Theater".

Man kann diese Stellen im Quellenmaterial von La Vénus à la fourrure, David Ives' Venus in Fur, suchen und sich, sollte man sie finden, an ihrem Spiel mit der Frage, inwieweit ein Stoff sich an seinem Autor festmachen lässt, erfreuen. Ihre ganze köstliche Doppeldeutigkeit entfaltet sie jedoch erst in der Verfilmung von Ives' Sacher-Masoch-Adaption, denn diese wurde von Roman Polanski inszeniert, jenem Regisseur, dessen beeindruckendes Œuvre (Repulsion, Rosemary's Baby, Chinatown, The Pianist) inzwischen weniger zu reden gibt als der US-Haftbefehl, der seit seiner mutmasslichen Vergewaltigung einer Minderjährigen im Jahre 1977 gegen ihn vorliegt. In die Filmgeschichte eingehen wird er, so scheint es, ebenso als bedeutender Künstler des Mediums wie auch als zwielichtiger Schürzenjäger.

So ist sein La Vénus à la fourrure mitsamt seinen Tiraden gegen die obsessive Interpretationsfreude von Zuschauern und Kritikern auch als Provokation an sein Publikum aufzufassen; dem reichen Subtext des Films, welcher bewusst mit der Ambivalenz von Sacher-Masochs Geschlechterzeichnung spielt, haftet die Warnung an, es handle sich beim vorgeführten Stück weder um eine Allegorie, noch um eine Beichte, noch um eine Apologie: "Keine Anthropologie, keine Soziologie, sondern Theater" (wobei der spitzfindige Betrachter einwenden kann, das vorliegende Werk sei doch in Wahrheit Kino, womit er den von Thomas verschrieenen Interpretationen wiederum Tür und Tor öffnet).

Doch auch Vanda hat ihre Einwände: Ein perverses Machwerk sei die Venus im Pelz, die Machtfantasie eines gemeinen Schreiberlings, "Sadomaso-Pornografie". So spricht sie, die den Text dennoch in- und auswendig kennt, und wirft die Vorlage zu Thomas' Stück ins flackernde (falsche) Bühnen-Kaminfeuer. Es sind Vorwürfe, welche Sacher-Masochs kleinen Roman um die erotischen Abenteuer von Kusiemski und Wanda von Dunajew seit seinem Erscheinen 1870 begleitet haben und hier findet Polanskis Zwei-Personen-Spiel seinen zentralen Konflikt: Wo liegt die Grenze zwischen Kunst und Pornografie? Oder gibt es am Ende etwa gar keine? Als eine Art ironische "Sekundärliteratur" legt Polanski freizügige Gemälde von Tizian und anderen Renaissance-Meistern über den Abspann.

Leopold Sacher-Masochs Venus im Pelz erhält durch die Theaterprobe von Vanda (Emmanuelle Seigner) und Thomas (Mathieu Amalric) eine ganz neue Dimension.
© Ascot Elite
La Vénus à la fourrure zeigt – wie jüngst auch Alain Resnais' Vous n'avez encore rien vu, mit dem sich Polanskis Film den Schnittmeister Hervé de Luze teilt –, wie sich im Theater, jenem mythischen Heterotopia, Realität und Fiktion vermischen. Vanda und Thomas gehen, hitzig über Geschmack und Geschmacklosigkeit debattierend, immer mehr in ihren Rollen auf, bis ihr Spiel schliesslich bitterer Ernst wird. Zwischen Amalric und Seigner knistert die erotische Spannung, die sich, ganz nach Sacher-Masoch, in Akten der Gewalt und der Demütigung entlädt. Übersinnliches ist, man ahnt es, auch am Werk: Die scheinbar allwissende Vanda "schwebt" zu Beginn per POV-Kamerafahrt ins Schauspielhaus, begleitet von Alexandre Desplats karnevalesker Musik, erweist sich im Laufe der Probe als der Erzählung entstiegene Muse, verwandelt sich graduell in eine – der jungen Catherine Deneuve verblüffend ähnlich sehende – Venus und endet als dämonische Bakche, eine jener Frauen, die in Euripides' gleichnamiger Tragödie den in Frauenkleider gehüllten König von Theben verhöhnen.

Die Rolle des Königs fällt hierbei selbstverständlich dem entmachteten Regisseur Thomas zu, welcher im letzten Akt Lippenstift aufträgt, sich in High Heels hinein quält, sich den Titel gebenden Pelz überwirft und von Vanda mit Strumpfhosen an ein übergrosses Phallus-Symbol (einen Papp-Kaktus) gefesselt wird (eine ebenso krude wie hochgradig komische Szene). Ist es Pornografie oder Kunst (oder beides?), wenn die stets kokette Vanda schlussendlich nackt und wilde Fratzen schneidend um den gedemütigten Thomas herumtanzt? Ist es emanzipatorisch oder aber frauenverachtend, eine Frau als Peinigerin darzustellen? Ziemt es sich überhaupt, dass ausgerechnet ein Roman Polanski derartige Fragen aufwirft? Polanski selber lässt sich klugerweise nicht zu einer Antwort bewegen. Es genügt ihm, seinem subversiv provozierten Publikum das oft als sexistisch bezeichnete Epigraph von Sacher-Masochs Novelle (das Bibelzitat "Gott hat ihn gestraft und hat ihn in eines Weibes Hände gegeben") vorzusetzen und den Abspann rollen zu lassen – und das mit einer Nonchalance, wie sie nur ein Meister mit vollem und berechtigtem Vertrauen in die Ausdruckskraft seines Handwerks aufbringen kann.

★★★★

Montag, 18. November 2013

Don Jon

Es führt eine direkte Linie von (500) Days of Summer (2009), dem endgültigen Leinwand-Durchbruch des ehemaligen Teenager-Fernsehstars Joseph Gordon-Levitt (The Powers That Be, Roseanne, 3rd Rock from the Sun), zu Don Jon, seinem Debüt als Langspielfilm-Autor und -Regisseur. Summer wurde von der Mehrheit der Kritiker zu Recht als ein Werk von bewundernswertem Scharfsinn tituliert, als eine intelligente Tragikomödie über die Natur von Liebesbeziehungen im 21. Jahrhundert. Gordon-Levitt wurde als Tom Hansen zum Mitbegründer des "neuen" romantischen Helden, dessen Charme auf Selbstironie und einem Hang zur Tollpatschigkeit beruht.

Vier Jahre später nimmt er nun selber auf dem Regiestuhl Platz und richtet seine Aufmerksamkeit auf eine andere Art der "modernen" Liebe. Schauplatz sind nicht mehr länger die intellektuell geprägten In-Quartiere von Los Angeles (wie in (500) Days of Summer) oder Seattle (wie in 50/50, wo Gordon-Levitt eine Tom-Hansen-Variation spielte), sondern jenes Milieu, das durch die berühmt-berüchtigte Reality-Serie Jersey Shore einem weltweiten Publikum vorgeführt wurde – die Arbeiter-Gemeinden von New Jersey, eine Welt der Undercut-Haarschnitte, der Dubstep-Musik, der flüchtigen One-Night-Stands.

In diesen Kreisen verkehrt auch Jon Martello, gespielt von Gordon-Levitt, der damit, zunächst jedenfalls, radikal mit seiner Leinwand-Persona bricht. Jon ist unter seinen Freunden bekannt als "Don Jon", als Don Juan von New Jersey, welcher Woche für Woche neue Frauen abschleppt, ohne sich danach je wieder bei diesen zu melden. Doch Sex genügt ihm nicht: "Real pussy is great, but it's not as good as porn", erklärt er via Voiceover; wahre Befriedigung verschafft ihm nur das tägliche Masturbieren zu Internet-Pornografie – wofür er bei der sonntäglichen Beichte jeweils Busse tut (die willkürliche Absolutionspolitik der katholischen Kirche wird vom Reform-Juden Gordon-Levitt genüsslich ad absurdum geführt).

In Bedrängnis gerät Jons Routine allerdings dann, als er sich Hals über Kopf in Barbara (Scarlett Johansson) verliebt, welche kein Verständnis für den Pornokonsum ihres neuen Freundes aufbringt. Dass die Beziehung unter keinem guten Stern steht, führt Gordon-Levitt auf die unrealistischen Erwartungen beider Seiten zurück. Während Jon offenherzig darüber spricht, wie sehr er sich wünscht, echter Sex wäre wie Pornografie, sind auch bei Barbara fehlgeleitete Anforderungen zu erkennen: Aufgrund ihrer Liebe zu Filmromanzen (prä-(500) Days) ist sie der Meinung, ihr Traummann müsse sein ganzes Leben ihren Bedürfnissen unterordnen.

Der nach Internet-Pornografie süchtige Jon (Joseph Gordon-Levitt) verliebt sich in in Hollywood-Romanzen vernarrte Barbara (Scarlett Johansson).
© Ascot Elite
Diese Diskrepanzen, diese durch die Medien verzerrten Wahrnehmungen sind vielleicht das Subtilste am ansonsten häufig schrillen, aufgedrehten, lauten Don Jon, der letztlich doch unverkennbar die Handschrift eines Regie-Debütanten trägt. Vieles in diesem Film ist überzeichnet, angefangen bei der klischeehaften Hollywood-Schnulze (mit Cameo-Auftritten von Channing Tatum und Anne Hathaway), welche sich Barbara und Jon im Kino ansehen – der ungezügelten Verballhornung eines schon oft zuvor parodierten Genres durch einen hoch motivierten Neuling. Doch auch an anderen Stellen überbordet Gordon-Levitts Eifer: Musik, Schnitt, Beleuchtung sind – seien sie nun als ironischer Verfremdungseffekt oder als genuines Stilmittel gemeint – stets eine Spur zu betont.

Ähnliches gilt für die rasanten Dialoge – in Inszenierung, Tonfall und Dialekt an David O. Russells Silver Linings Playbook erinnernd –, welche aber trotzdem zu den Stärken des Films gehören, obgleich auch sie zuweilen, vor allem in Anwesenheit von Tony Danzas Jon Martello Senior, auf dem schmalen Grat zwischen famoser Komödie und lächerlicher Karikatur wandeln. Eine stringente Dramaturgie vermag Gordon-Levitt indes nie zu finden; vielmehr speist sich Don Jon aus seinen diversen unbestritten inspirierten Momenten, seinem raffinierten Einsatz von Wiederholungen und den ausnahmslos dynamischen Darbietungen der Schauspieler, einschliesslich jener der spät eingeführten Julianne Moore, unter deren Einfluss Jon – und mit ihm der Film – in ruhigere, harmonischere Bahnen gelenkt wird (Gordon-Levitt tut gut daran, die ödipale Dimension der Beziehung nicht auszuloten). Zwar will hier letzten Endes, wie schon in Steve McQueens Shame, die Lösung des dem Ganzen zugrunde liegenden Porno-Problems nicht restlos überzeugen, doch Don Jon verfügt über genügend dreisten Charme, um als geglückte Regie-Premiere zu gelten.

★★★

Sonntag, 17. November 2013

The Lunchbox

Dass Liebe durch den Magen geht, weiss der Filmfreund spätestens seit Ang Lees Eat Drink Man Woman. Dass sie ihren Weg auch auf dem Briefweg finden kann, ist dank Ernst Lubitschs The Shop Around the Corner – oder Nora Ephrons Remake You've Got M@il – wohlbekannt. Und dass man für sie nie zu alt ist, haben allein in den letzten 15 Jahren As Good As It Gets, Last Chance Harvey, It's Complicated und Something's Gotta Give gezeigt.

Dem Inder Ritesh Batra ist es nun mit der Unterstützung hochkarätiger Produzenten wie Anurag Kashyap (Gangs of Wasseypur) und Danis Tanović (No Man's Land) gelungen, alle diese publikumswirksamen Topoi in einem sympathischen, wenngleich formelhaften, Rührstück zu vereinen. The Lunchbox eroberte die Gunst der indischen Kritkerschaft im Sturm und dürfte auch auf dem internationalen Markt gut abschneiden, dessen Interesse für "authentisches" Kino vom Subkontinent durch Slumdog Millionaire und The Best Exotic Marigold Hotel geweckt geworden zu sein scheint.

Batras Briefromanze, in der eine frustrierte Ehefrau (Nimrat Kaur) und ein kurz vor der Frühpensionierung stehender Buchhalter (Irrfan Khan) dank einer falsch gelieferten Lunchbox (einer sogenannten "Dabba") zueinander finden, mag keine Etüde in cineastischer Brillanz sein, zeichnet sich aber dennoch als Demonstration von effizientem, grundsolidem Filmhandwerk aus. Das Drama, welches das von Batra selbst verfasste Drehbuch aus der Prämisse gewinnt, ist eines der groben Striche; doch die vorzüglichen Figurenvignetten, die gedämpfte Sentimentalität sowie die menschliche – zuweilen wahrlich Lubitsch'sche – Komik genügen The Lunchbox, um seinen Reiz 104 Minuten lang aufrecht zu erhalten.

Nachdem Khans Witwer Saajan Fernandes jenes köstliche Mittagessen verspeist hat, welches Kaurs Ila ihrem distanzierten Gatten (Nakul Vaid, der bald aus der Erzählung verschwindet) zubereitet hat, um dessen eheliche Leidenschaft neu zu entfachen, ensteht zwischen den beiden vom Leben Enttäuschten eine rege Korrespondenz, geführt über Briefchen in der falsch adressierten Dabba, in deren Verlauf persönliche Ängste und Sorgen, aber auch Erlebnisse ausgetauscht werden. Dass dieser Briefwechsel Ansätze von emotionaler Tiefe erkennen lässt, ist allerdings nicht so sehr bei deren Inhalt zu suchen – dafür bedient sich Batra allzu oft bei abgegriffenen Alltagsweisheiten – als beim Schauspiel von Khan und Kaur, deren zurückhaltende Mimik einen willkommenen Gegenpol zum stellenweise übermässig mitteilsamen Skript bildet.

Duft der Liebe: Saajan (Irrfan Khan) erhält versehentlich eine falsche Lunchbox.
© filmcoopi
Zwischen den einzelnen Briefen, deren Themen zuweilen seltsam abrupt eingeführt werden, folgt der Film dem repetitiven Alltag der beiden Protagonisten. Ila schickt ihre Tochter (Yashvi Puneet Nagar) zur Schule, kümmert sich um die Wäsche und bereitet mit Hilfe der in der oberen Etage wohnenden Nachbarin "Aunty" (Bhaarti Achrekar), die sich seit Jahren nur noch der Pflege ihres katatonischen Ehemannes widmet, das Mittagessen vor. (Die Möglichkeit, dass diese nur stimmlich in Erscheinung tretende Nachbarin lediglich ein Produkt von Ilas Einbildung sein könnte – womöglich eine Zukunftsvision ihrer selbst –, erkundet Batra nicht.)

Trotz diverser durchaus komischer Dialoge zwischen Ila und "Aunty" – und trotz der alles überspannenden Liebesgeschichte – ist das schlagende Herz des Films auf Irrfan Khans Seite zu finden, der einmal mehr sein Talent an den Tag legt, mit minimalem Aufwand viel zu suggerieren – eine Gabe, von der unlängst auch Ang Lees Life of Pi profitieren konnte. Der Handlungsstrang beinhaltet Saajans mühselige, ja widerwillige, Einarbeitung seines designierten Nachfolgers Shaikh, einem in seine Heimat zurückgekehrten Gastarbeiter, der sein Glück in Saudi Arabien nicht gefunden hat, gespielt von Nawazuddin Siddiqui. Dessen Darbietung ist in ihrem Tonfall kaum zu vergleichen mit jener, welche er in Gangs of Wasseypur vollführte. Die Trance und der Zynismus des Faizal Khan, den er in Anurag Kashyaps Gangster-Epos darstellte, weichen in The Lunchbox dem bedingungslosen Optimismus des stets vergnügten Shaikh, einem entfernten Verwandten von Sally Hawkins' Poppy in Happy-Go-Lucky. Zunächst befürchtet man fast, Siddiqui sei nicht mehr als eine Narren-Kontrastfigur zum mürrisch-introvertierten Saajan, doch nach und nach entsteht zwischen den beiden eine subtile Freundschaft, die weit über die blosse komödiantische Paarung zweier ungleicher Männer hinaus geht – ohne jedoch ein Jota an Komik zu verlieren.

Zwischen Ila (Nimrat Kaur) und Saajan entwickelt sich eine innige Brieffreundschaft.
© filmcoopi
Vor diesem Hintergrund wirken Batras wiederholte, wenn auch nur kurze, Ausflüge in die Sozialkritik – Saajan beklagt die Menschenmassen von Mumbai ebenso wie den alles dominierenden Geschäftssinn – etwas deplatziert. Linien wie "Life is very busy, and everybody wants what the other one has" evozieren zwar Ang Lees implizite Kommentare zu Taiwans Tiger-Ökonomie in Eat Drink Man Woman, laufen in ihrer Offenheit aber dem menschlichen Kern des Ganzen ein wenig zuwider. Kompromittiert wird der Reiz des Films davon aber letztlich nicht. The Lunchbox bleibt eine liebenswürdige Dramödie, welche das moderne indische Kino endlich einem breiten westlichen Publikum öffnen könnte.

★★★★

Donnerstag, 14. November 2013

Mary, Queen of Scots

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Schon seit Jahren kriselt das Schweizer Kino; Innovationen sind rar. Mit der Filmbiografie Mary, Queen of Scots bemüht sich der Luzerner Thomas Imbach immerhin um ein bisschen Abwechslung. Von Erfolg gekrönt ist dieser Versuch jedoch auch nicht.

"Die Geschichte der Mary ist im modernen Kino noch nicht angekommen", sagte Imbach unlängst in einem Interview. Anstatt sich der tragischen Vita von Maria Stuart (1542–1587) zu widmen, einer "für archaische, aus der Mode gekommene Werte stehende" Figur, würden zeitgenössische Filmemacher, so der Regisseur, deren Cousine und Thron-Rivalin Elizabeth I. (1533–1603) vorziehen. Falsch liegt er damit nicht – Shekhar Kapurs Elizabeth-Zweiteiler erfreut sich eines höheren Bekanntheitsgrades als etwa John Fords Mary of Scotland (1936) oder Charles Jarrotts Mary, Queen of Scots (1971) –, doch man läuft Gefahr, bei dieser Diskussion symbolische und historische Bedeutung zu verwechseln: Elizabeth ist durch ihren Status als eine der mächtigsten Frauen der Weltgeschichte zur Ikone geworden; derweil Marys anhaltende Reputation primär auf ihr von Enttäuschungen und Tragödien geprägtes Leben zurückzuführen ist.

Entsprechend konzentriert sich Imbach in Mary, Queen of Scots weniger auf die wichtigsten Momente während der Regentschaft Marys (gespielt von der hölzernen Camille Rutherford) und die englische Politik des 16. Jahrhunderts (was eine Herausforderung für die mit der Materie nicht vertrauten Kinogänger darstellt) als auf die Psychologie der Titelfigur. Als Eckdaten genügen ihm ihr bis 1560 währendes Exil in Frankreich, ihre Rückkehr in ihr heimisches Schottland, wo sie über ein von Glaubenskriegen zwischen Katholiken und Protestanten zerrissenes Volk regiert, sowie ihre drei zum Scheitern verurteilten Ehen. Fasziniert ist die katholische Monarchin Zeit ihres Lebens von der englischen Königin Elizabeth, deren Titel sie begehrt und mit deren Position sie sich identifiziert.

"Les adieux à la reine": Maria Stuart (Camille Rutherford) kehrt nach Jahren im französischen Exil nach Schottland zurück.
© Pathé Films AG
Imbach, der auch für das – lose auf Stefan Zweigs Maria Stuart basierende – Drehbuch zeichnet, behandelt das Thema mit künstlerischem Eifer: Seine karge Bildästhetik – nebelverhangene Hügel, winterliche Felder, leere Schlosshöfe – und seine oftmals knappen Dialoge evozieren den Stil eines Andrei Tarkovsky, die dominante Kerzen-Beleuchtung Stanley Kubricks Kostümdrama Barry Lyndon, der bisweilen aufkeimende Cinéma-verité-Chic den Tarkovsky-Bewunderer Lars von Trier. Viele von Rainer Klausmanns Einstellungen sind wunderschöne Gemälde, doch bleiben sie stets just das: Tableaux. Mit Ausnahme der linkisch gefilmten Dialogszenen komponiert Imbach ohne Fehl und Tadel, versäumt es aber, diese Bilder weiterzuentwickeln, sie anregend zu inszenieren.

So kommt es, dass Mary, Queen of Scots eine enttäuschend statische Angelegenheit ist, formal wie auch erzählerisch. Imbachs Regie nimmt seinem Skript – und der Thematik – die Kraft; Marys Leidensweg bleibt ein emotional weitestgehend entrücktes Konstrukt, dessen suggestives Potential irgendwo in dieser zweistündigen Aneinanderreihung steifer Szenen verloren geht. Über den Abspann wird eine Coverversion von Bob Dylans grandiosem hyperliterarischen Song "Changing of the Guards" gespielt, in der Hoffnung, der vorangegangene Film sei ein Werk von ähnlich wuchtiger, archaischer Poesie. Die Hoffnung bestätigt sich nicht.

★★

Montag, 11. November 2013

Thor: The Dark World

© Marvel

★★

"As is all too often the case with Marvel’s nonetheless likeable cinematic yarns, the actual plot rarely adds up to all that much, resting on largely incomprehensible pseudo-scientific expository dialogue and stupendously inconsistent in-universe rules that regularly choose to leave glaring questions unanswered."

Ganze Kritik auf The Zurich English Student (online einsehbar).

Donnerstag, 7. November 2013

The Fifth Estate

Diese Kritik erschien zuerst in gedruckter Form in der Wochenzeitung Heimat.

Hollywood konnte nicht warten: Noch während der australische Hacker und WikiLeaks-Gründer Julian Assange in der ecuadorianischen Botschaft in London festsitzt, ist bereits ein Film über ihn erschienen. The Fifth Estate ist dynamisch, aber erwartungsgemäss halbgar.

Noch vor drei Jahren war die WikiLeaks-Website, auf der Whistleblower aus aller Welt streng geheime, weil belastende, Regierungs-, Militär- und Geschäftsinterna ohne Furcht um ihre persönliche Sicherheit ausplaudern konnten, in aller Munde. Es schien, als würde wöchentlich wieder ein Staatsoberhaupt oder ein Unternehmensmogul durch die Enthüllungen der Seite in Bedrängnis gebracht. Die Leaks der US-Soldatin Chelsea Manning deckten hässliche Episoden aus den amerikanischen Kriegen im Irak und in Afghanistan auf. Julian Assange, so schien es, war einer der einflussreichsten Männer der Welt, unterstützt in seiner Mission für totale Informationsfreiheit von hochrangigen Publikationen wie Guardian und Spiegel. Inzwischen hat der Wind gedreht: Vergewaltigungsvorwürfe und ein internationaler Haftbefehl zwangen den weisshaarigen Exzentriker ins politische Exil; das Bild des Kämpfers für transparente, rechenschaftspflichtige Politik wich dem des egomanischen Frauenfeindes; der Amerikaner Edward Snowden stieg zur neuen Gallionsfigur der Leaker-Gemeinde auf.

Man kann dies, wie viele WikiLeaks-Verehrer, für eine perfide Hetzkampagne halten; man kann darin auch die (gerechtfertigte?) Entthronung eines heuchlerischen Moralapostels sehen. Dass sich The Fifth Estate in dieser Frage nicht endgültig festlegt, gehört zu seinen grössten Verdiensten. Für Regisseur Bill Condon und Autor Josh Singer ist Assange (der den Verfassern beider Bücher, auf denen der Film basiert, mit einer Klage drohte) zugleich ein Pionier und eine Ikarus-Figur: Mit der Gründung von WikiLeaks hat er eine revolutionäre "fünfte Gewalt" geschaffen, welche ihren Teil zu einer besseren, offeneren Welt beitragen kann, gegen deren Maximen er mit seinem beträchtlichen Ego – und seinem Beharren darauf, Dokumente ohne Kürzungen, also ohne Schwärzung der Namen gefährdeter Personen, zu veröffentlichen – verstossen hat.

Daniel Domscheit-Berg (Daniel Brühl, rechts) geht dem WikiLeaks-Gründer Julian Assange (Benedict Cumberbatch) beim Veröffentlichen von Whistleblower-Berichten zur Hand.
© Ascot Elite
Dramaturgisch folgen Condon und Singer dabei der Formel des IT-Biopics, wie sie David Fincher und Aaron Sorkin 2010 in The Social Network etabliert haben. Ohne jemals das Niveau dieses Subgenre-Meisterwerks zu erreichen – aber auch ohne sich je den Tiefen von Joshua Michael Sterns amateurhaftem Schmierentheater Jobs zu nähern –, erzählen auch Condon und Singer vom Zerwürfnis zweier einst befreundeter Mitstreiter. 2007 schliesst sich der deutsche Hacker Daniel Domscheit-Berg (Daniel Brühl) dem Feldzug Assanges (brillant verkörpert vom Briten Benedict Cumberbatch) an, beflügelt von den frühen Erfolgen von WikiLeaks, darunter der Aufdeckung illegaler Machenschaften bei der Schweizer Privatbank Julius Baer. Doch Assange ist, anders als Domscheit-Berg, nicht gewillt, dauerhaft mit grossen Zeitungen zu kooperieren und sich mit deren Redaktionsauflagen zu arrangieren. Im Laufe der Manning-Affäre kommt es zum Bruch.

The Fifth Estate ist ein rasant vorgetragener Politthriller Marke Hollywood: Condon, der das unfilmische Milieu mit oft bizarren Spielereien – darunter der Entscheidung, Cumberbatch als Assange die Schluss-Texttafeln kritisieren zu lassen – attraktiv auf die Leinwand zu bannen versucht, schneidet im Eiltempo zwischen unzähligen Schauplätzen hin und her; innert weniger als zehn Minuten hat man als Zuschauer Berlin, London, Zürich, Liège und Nairobi besucht. Am Rande der Erzählung drängeln sich eine unnütze Liebesgeschichte, ein Subplot beim Guardian (mit Peter Capaldi und David Thewlis) sowie Schaltungen ins US-Aussenministerium, wo eine Beamtin (Laura Linney) ihren Kollegen (Stanley Tucci, Anthony Mackie) den Einfluss Assanges erläutert ("It's a huge media empire!", "Welcome to the revolution!"). Condon und Singer mag es damit zwar gelingen, die Faszination WikiLeaks zumindest ansatzweise wieder aufleben zu lassen, doch eine sonderlich befriedigende Geschichte finden sie nie.

★★★

Mittwoch, 6. November 2013

Leviathan

Wie nicht wenige andere ambitionierte Filmwerke, so beginnt auch Leviathan mit einem Bibelzitat: "He maketh the deep to boil like a pot / He maketh the sea like a pot of ointment / He maketh a path to shine after him / One would think the deep to be hoary / Upon earth there is not his like / Who is made without fear", steht in verschnörkelten Lettern auf der Leinwand. Die Stelle stammt aus dem Buch Hiob und beschreibt das Meeresungeheuer Leviathan, den Schrecken aus der Tiefe, der Tier und Mensch ins Verderben zieht.

In der absolut einzigartigen Dokumentation der Anthropologen und Harvard-Dozenten Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel jedoch ist das Untier kein Wesen aus Fleisch und Blut. Vielmehr beziehen sich Titel und Eingangszitat auf den Schauplatz des Films: einen mittelgrossen Fischkutter, ein stählernes Ungetüm, welches in gleichmässigem Tempo durch den Nordatlantik pflügt und dessen Schleppnetze dazu beitragen, Nordamerika mit Nahrung aus dem Meer zu versorgen. So lautet jedenfalls die Implikation, denn Leviathan fehlen die Texttafeln, die erörternden Voiceovers, die narrative Struktur, die Botschaft, welche über die Jahre zu festen Grössen im Dokumentarfilm-Genre geworden sind.

Und gerade weil dieses Ehrfurcht gebietende Kunstwerk praktisch auf sämtliche diesbezüglichen Erläuterungen und Abstraktionen verzichtet, handelt es sich dabei um einen wahrhaft dokumentarischen Film. Castaing-Taylor und Paravel platzieren ihre wasserdichten Digitalkameras in Netzen, halten sie, an Stangen und Seilen befestigt, über Bord, reichen sie den sich auf Deck abrackernden Arbeitern, immer dicht am Geschehen; Überblick ist unmöglich. Die daraus resultierenden Bilder sind kaum bearbeitet; die Tonspur ist mit Ausnahme gewisser notwendiger Mischpult-Eingriffe unverfälscht. Regentropfen und Salzwasser verschmieren die Linse; an Bord summt, ächzt und dröhnt es wie in einer Fabrikhalle. Die Einblicke in den Fischerei-Alltag sind ungekürzt; geschnitten wird erst, wenn der Seemann seine Dusche beendet hat, wenn der Fischer alle gefangenen Muscheln und Krabben vom Boden aufgesammelt hat, wenn der vom Tageswerk erschöpfte Kranführer vor dem Fernseher eingeschlafen ist (eine in ihrer untypischen Bewgungslosigkeit überwältigende Szene). Es ist nur schwer vorstellbar, einen Film zu machen, welcher der "Realität" näher kommt.

Paradoxerweise gelingt den beiden Regisseuren damit aber just das Gegenteil von vollendetem Cinéma vérité: Indem sie mit ihrem radikalen Naturalismus die Künstlichkeit des "normalen" Kinos aufdecken, wirkt ihr kompromissloser Dokumentarismus abstrahiert, ja übernatürlich. Unterstützt durch das Fehlen einer wertenden Stimme oder einer stringenten Dramaturgie, öffnet sich so der Raum für eine Vielzahl von Interpretationen, von denen sich die meisten wohl höchstens marginal mit den Intentionen von Castaing-Taylor und Paravel verbinden liessen.

"He maketh the deep to boil like a pot"
© Independencia Distribution
Leviathan zeigt, wie der Mensch im Laufe seiner Entwicklung selber zu jenem Monster geworden ist, welches er einst in den düsteren Untiefen der See vermutete. Ist in einigen Sequenzen zwar noch schwach der Einfluss des Avantgarde-Experiments Moods of the Sea (1941) von Slavko Vorkapich und John Hoffman zu spüren, bewegt sich der Film überwiegend eher in die Richtung von Le sang des bêtes (1949), Georges Franjus erschütterndem Kurzporträt der Schlachthöfe von Paris. Wenn an Deck des Kutters die Netze geleert werden, befindet sich der Zuschauer mitten unter den gefangenen Fischen. Mit weit aufgerissenen, glasigen, aufgeblähten Augen liegen sie da, manche tot, manche noch zuckend und zappelnd, an der Luft ertrinkend; einigen hängen Organe zum Maul heraus. Knöcheltief waten die Fischer durch zum Tod verdammte Fischleiber – ein Prozess, wie er sich täglich vielfach wiederholt.

Castaing-Taylor und Paravel sind mit ihren Kameras dabei, wenn den teils noch nach Luft ringenden Fischen die Köpfe abgetrennt werden, wenn Rochen lebendig zerhackt werden, wenn am Ende des industriell-routinierten Massakers die unverwertbaren Reste über Bord gespült werden und sich die stets präsenten, das Schiff umkreisenden Möwen, gleichsam wie Todesengel, auf die Abfallprodukte stürzen. Der mechanische Leviathan, dessen Motorengeräusche unter Wasser tatsächlich zum monströsen, bestialischen Geheul verzerrt werden, wird selber zum Zentrum eines ureigenen Nahrungskreislaufs, dem mitunter auch Menschen und Vögel zum Opfer fallen – so etwa die Möwe, welche mit einem gebrochenen Flügel verzweifelt versucht, abzuheben und schlussendlich, so müssen wir es annehmen, von Bord in ihr Verderben springt.

Weiss gefiederte Todesengel.
© Independencia Distribution
Doch Leviathan ist ein zu übersinnliches Erlebnis, um ihm eine derart profane Botschaft gegen den menschlichen Raubbau an der Natur anzudichten. Vielmehr scheint sich der Film einen neuen, differenzierteren Blick auf die sprichwörtliche Geissel der sieben Meere zu erlauben. Leviathan ist kein Wesen, welches ausserhalb natürlicher Gesetzmässigkeiten existiert, seine Helfer – hier versinnbildlicht durch die Schiffsbesatzung – keine Teufelsanbeter; auch sie sind dem Ozean mit all seinen Tücken und Launen ausgesetzt. Im Abspann werden gesunkene Kutter genannt; als Cast werden neben den Fischern auch die im Film vorkommenden Spezies genannt, gleichberechtigt in alphabetischer Reihenfolge aufgelistet.

Der Prozess, welchen die beiden Regisseure hier aufzeigen, hat indessen weder Anfang noch Ende. Während der Kinogänger zu Beginn erst langsam erkennen muss, dass er dem nächtlichen Einholen eines Netzes beiwohnt, zelebriert der Schluss sein symbolisches Ableben: Die Kamera schiesst durch die Wogen, an schemenhaften, geistergleichen Rochen vorbei; derweil das unheimliche Grollen der Schiffsschraube immer lauter wird, bis man, so scheint es, in diese hineingezogen wird. Als schliesslich auch der Abspann sein Ende findet, kreisen in der Ferne noch immer die Möwen, die aasfressenden Boten des todbringenden Ungeheuers. Leviathan ist reines Kino: Man muss ihn erleben, um ihn fassen zu können.

★★★★★