Woody Allens bald 50-jährige Karriere als Filmemacher ist geprägt
von den oft zu komödiantischem Effekt eingesetzten Neurosen, die er
seinen Figuren, nicht selten verkappten Darstellungen seiner selbst,
andichtete. Auch in Blue Jasmine, seiner 44. Regiearbeit,
stellt er die Labilität der menschlichen Psyche in den Mittelpunkt,
erlaubt es sich aber, dieser nicht mit seinem berühmten lakonischen
Schalk, sondern mit (ironisch gebrochener) Empathie zu begegnen.
Das Objekt dieser tragikomischen Studie ist die materiell wie mental
tief gefallene Jeanette Francis (Cate Blanchett), einer einst stolzen
Vertreterin der New Yorker Park-Avenue-Hautevolee, deren reicher
Ehemann Hal (Alec Baldwin) wegen gross angelegten Finanzbetrugs ins
Gefängnis wandert, weshalb sie, entehrt und bankrott, sich gezwungen
sieht, bei ihrer mittelständlerischen Schwester Ginger (Sally
Hawkins) in San Francisco Unterschlupf zu suchen.
Allens nonlinear-assoziative Dramaturgie, welche zwischen der für
Jeanette – die sich vor Jahren "Jasmine" zu nennen begann
– tristen, von ihr verabscheuten Gegenwart und ihrer Vergangenheit
im Überfluss hin- und herschaltet, quasi als Spiegelung der
dissonanten Gedankenwelt Jasmines, bewegt sich stets auf der
Grenzlinie zwischen feinfühligem Psychogramm und scharfer Satire.
Blue Jasmine kennt keine Gnade mit dem angestammten Milieu
seiner Hauptfigur; mit spitzer, oftmals überspitzter, Feder zeichnet
Allen das Bild einer in eleganter Dekadenz schwelgenden Oberschicht,
nach deren Verständnis "extravagant" ein Kompliment und
die Unterhaltung mit Angehörigen tiefer liegender
Gesellschaftsschichten – etwa mit Ginger und ihrem Ex-Mann Augie
(Andrew Dice Clay) –, "harte Arbeit" bedeutet.
Mit dem Profit, den Hal aus dem Geld schlägt, welches er Menschen
wie Ginger und Augie abknöpft, um es in seine windigen Geschäfte zu
investieren, erfüllt er Jasmine jeden Wunsch; der Doppelsinn des
auffallend häufig geäusserten Wortes "spoil" – "Let
me spoil you", "You shouldn't spoil me so", "Who
else should I spoil?" – wird spätestens dann offensichtlich,
als die inzwischen mittellose Jasmine hoch erhobenen Hauptes und mit
drei Louis-Vuitton-Taschen im Anschlag an Gingers Tür klopft und
verkündet, sie ertrage es nicht, etwas anderes als Business Class zu
fliegen. Es scheint, als hätte die jüngste Finanzkrise zwar die
monetären Mittel beeinflusst, nicht aber die Attitüde.
"Shaken and stirred": Jasmine (Cate Blanchett) muss die New Yorker Hautevolee hinter sich lassen. © Frenetic Films |
Sympathie vermag diese herablassende, ewig Cocktails schlürfende
Jasmine – ein schauspielerischer Höhepunkt in der Filmografie der
nachgerade phänomenalen Cate Blanchett – nie zu erwecken, wohl
aber mitleidige Faszination. Man erkennt in ihr die ikonische
Leinwand-Persona Allens, etwa während der Auflistung ihrer
zahlreichen Ängste, doch Jasmines Unfähigkeit (wohl eine
zutreffendere Beschreibung als "Weigerung"), sich an ihre
neue Situation anzupassen, und ihr Beharren darauf, das Umfeld ihrer
Schwester, darunter Gingers neuen Freund (der hervorragende Bobby
Cannavale), den für sie weiterhin bestehenden Klassenunterschied
spüren zu lassen, entfernen sie merklich von Allens zumindest aus
der Distanz liebenswertem Neurotiker.
Jasmines unglückseliger Neuanfang in San Francisco wird jedoch nicht
mit hämischer Schadenfreude, sondern mit feiner Melancholie – und
einem bisweilen allzu theaterhaften Hang zum erklärenden Dialog –
inszeniert; ihre amourösen Missgeschicke mit einem Zahnarzt (Michael
Stuhlbarg) und einem ehrgeizigen Politiker (Peter Sarsgaard) sind
perzeptive Momente voller absurder Tragik, ebenso ihre fast schon
resignierende Einsicht "There's only so many traumas a person
can withstand before they take to the streets and start screaming".
Den Zenit erreicht Jasmines als niederschmetternd, ja demütigend
empfundene Begegnung mit der Realität, als sie erkennen muss, dass
ihre Schwester – das genügsame Gegenstück der "substantial
person", welche Jasmine sein will –, anders als sie, in der
Lage ist, sich mit den Problemen zu arrangieren, die das Schicksal
(oder das Drehbuch) ihr aufhalst. Doch ihre Geschichte endet
nicht mit einem Schreianfall auf offener Strasse, sondern mit einem
der treffendsten und eloquentesten Schlussbilder im Werk des Woody
Allen.
★★★★★