Wie nicht wenige andere ambitionierte Filmwerke, so beginnt auch
Leviathan mit einem Bibelzitat: "He maketh the deep to
boil like a pot / He maketh the sea like a pot of ointment / He
maketh a path to shine after him / One would think the deep to be
hoary / Upon earth there is not his like / Who is made without fear",
steht in verschnörkelten Lettern auf der Leinwand. Die Stelle stammt
aus dem Buch Hiob und beschreibt das Meeresungeheuer Leviathan, den
Schrecken aus der Tiefe, der Tier und Mensch ins Verderben zieht.
In der absolut einzigartigen Dokumentation der Anthropologen und
Harvard-Dozenten Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel jedoch
ist das Untier kein Wesen aus Fleisch und Blut. Vielmehr beziehen
sich Titel und Eingangszitat auf den Schauplatz des Films: einen
mittelgrossen Fischkutter, ein stählernes Ungetüm, welches in
gleichmässigem Tempo durch den Nordatlantik pflügt und dessen
Schleppnetze dazu beitragen, Nordamerika mit Nahrung aus dem Meer zu
versorgen. So lautet jedenfalls die Implikation, denn Leviathan
fehlen die Texttafeln, die erörternden Voiceovers, die narrative
Struktur, die Botschaft, welche über die Jahre zu festen Grössen im
Dokumentarfilm-Genre geworden sind.
Und gerade weil dieses Ehrfurcht gebietende Kunstwerk praktisch auf
sämtliche diesbezüglichen Erläuterungen und Abstraktionen
verzichtet, handelt es sich dabei um einen wahrhaft dokumentarischen
Film. Castaing-Taylor und Paravel platzieren ihre wasserdichten
Digitalkameras in Netzen, halten sie, an Stangen und Seilen
befestigt, über Bord, reichen sie den sich auf Deck abrackernden
Arbeitern, immer dicht am Geschehen; Überblick ist unmöglich. Die
daraus resultierenden Bilder sind kaum bearbeitet; die Tonspur ist
mit Ausnahme gewisser notwendiger Mischpult-Eingriffe unverfälscht.
Regentropfen und Salzwasser verschmieren die Linse; an Bord summt,
ächzt und dröhnt es wie in einer Fabrikhalle. Die Einblicke in den
Fischerei-Alltag sind ungekürzt; geschnitten wird erst, wenn der
Seemann seine Dusche beendet hat, wenn der Fischer alle gefangenen
Muscheln und Krabben vom Boden aufgesammelt hat, wenn der vom
Tageswerk erschöpfte Kranführer vor dem Fernseher eingeschlafen ist
(eine in ihrer untypischen Bewgungslosigkeit überwältigende Szene).
Es ist nur schwer vorstellbar, einen Film zu machen, welcher der
"Realität" näher kommt.
Paradoxerweise gelingt den beiden Regisseuren damit aber just das
Gegenteil von vollendetem Cinéma vérité: Indem sie mit ihrem
radikalen Naturalismus die Künstlichkeit des "normalen"
Kinos aufdecken, wirkt ihr kompromissloser Dokumentarismus
abstrahiert, ja übernatürlich. Unterstützt durch das Fehlen einer
wertenden Stimme oder einer stringenten Dramaturgie, öffnet sich so
der Raum für eine Vielzahl von Interpretationen, von denen sich die
meisten wohl höchstens marginal mit den Intentionen von
Castaing-Taylor und Paravel verbinden liessen.
"He maketh the deep to boil like a pot" © Independencia Distribution |
Leviathan
zeigt, wie der Mensch im Laufe
seiner Entwicklung selber zu jenem Monster geworden ist, welches er
einst in den düsteren Untiefen der See vermutete. Ist in einigen
Sequenzen zwar noch schwach der Einfluss des Avantgarde-Experiments
Moods of the Sea (1941)
von Slavko Vorkapich und John Hoffman zu spüren, bewegt sich der
Film überwiegend eher in die Richtung von Le sang des
bêtes (1949), Georges Franjus
erschütterndem Kurzporträt der Schlachthöfe von Paris. Wenn an
Deck des Kutters die Netze geleert werden, befindet sich der
Zuschauer mitten unter den gefangenen Fischen. Mit weit
aufgerissenen, glasigen, aufgeblähten Augen liegen sie da, manche
tot, manche noch zuckend und zappelnd, an der Luft ertrinkend;
einigen hängen Organe zum Maul heraus. Knöcheltief waten die
Fischer durch zum Tod verdammte Fischleiber – ein Prozess, wie er
sich täglich vielfach wiederholt.
Castaing-Taylor
und Paravel sind mit ihren Kameras dabei, wenn den teils noch nach
Luft ringenden Fischen die Köpfe abgetrennt werden, wenn Rochen
lebendig zerhackt werden, wenn am Ende des industriell-routinierten
Massakers die unverwertbaren Reste über Bord gespült werden und
sich die stets präsenten, das Schiff umkreisenden Möwen, gleichsam
wie Todesengel, auf die Abfallprodukte stürzen. Der mechanische
Leviathan, dessen Motorengeräusche unter Wasser tatsächlich zum
monströsen, bestialischen Geheul verzerrt werden, wird selber zum
Zentrum eines ureigenen Nahrungskreislaufs, dem mitunter auch
Menschen und Vögel zum Opfer fallen – so etwa die Möwe, welche
mit einem gebrochenen Flügel verzweifelt versucht, abzuheben und
schlussendlich, so müssen wir es annehmen, von Bord in ihr Verderben
springt.
Weiss gefiederte Todesengel. © Independencia Distribution |
Doch
Leviathan ist ein zu
übersinnliches Erlebnis, um ihm eine derart profane Botschaft gegen
den menschlichen Raubbau an der Natur anzudichten. Vielmehr scheint
sich der Film einen neuen, differenzierteren Blick auf die
sprichwörtliche Geissel der sieben Meere zu erlauben. Leviathan ist
kein Wesen, welches ausserhalb natürlicher Gesetzmässigkeiten
existiert, seine Helfer – hier versinnbildlicht durch die
Schiffsbesatzung – keine Teufelsanbeter; auch sie sind dem Ozean
mit all seinen Tücken und Launen ausgesetzt. Im Abspann werden
gesunkene Kutter genannt; als Cast werden neben den Fischern auch die
im Film vorkommenden Spezies genannt, gleichberechtigt in
alphabetischer Reihenfolge aufgelistet.
Der
Prozess, welchen die beiden Regisseure hier aufzeigen, hat indessen
weder Anfang noch Ende. Während der Kinogänger zu Beginn erst
langsam erkennen muss, dass er dem nächtlichen Einholen eines Netzes
beiwohnt, zelebriert der Schluss sein symbolisches Ableben: Die
Kamera schiesst durch die Wogen, an schemenhaften, geistergleichen
Rochen vorbei; derweil das unheimliche Grollen der Schiffsschraube
immer lauter wird, bis man, so scheint es, in diese hineingezogen
wird. Als schliesslich auch der Abspann sein Ende findet, kreisen in
der Ferne noch immer die Möwen, die aasfressenden Boten des
todbringenden Ungeheuers. Leviathan ist
reines Kino: Man muss ihn erleben, um ihn fassen zu können.
★★★★★
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