Angesichts der emotionalen, von haarsträubendem Unrecht und bitteren
Enttäuschungen durchsetzten Geschichte, die in Philomena erzählt
wird, ist es verblüffend, dass sich die Verfilmung von Martin
Sixsmiths Tatsachenbericht The Lost Child of Philomena Lee
ausgerechnet durch Zurückhaltung und Balance auszeichnet. Auf einen
internationalen Trailer voller Tränen und anschwellender
Orchestermusik, der ein erhebendes "Inspired by true
events"-Märchen versprach, folgt ein durch und durch wohl
temperierter Film mit feinem Sinn für die Platzierung von heiteren
und ernsteren Tönen, geschrieben von Steve Coogan und Jeff Pope und
von Stephen Frears mit stiller Anmut inszeniert.
Ein Grund dafür mag der neu ausgerichtete Fokus sein, den Coogan und
Pope nicht auf das eigentliche Buch Sixsmiths legen – die von ihm
recherchierte Biografie des amerikanischen Polit-Anwalts Michael A.
Hess, der als Kind seiner unverheirateten Mutter, der Titel gebenden
Philomena Lee, entrissen wurde –, sondern auf die Reise, in deren
Zug sein Buch entstanden ist. Diese beginnt, als er (gespielt von
Coogan), ein ehemaliger BBC-Journalist, aus dem öffentlichen Dienst
entlassen wird und sich dazu bereit erklärt, für ein Klatschmagazin
eine "Geschichte aus dem Leben" über Philomena Lee (Judi
Dench) und ihre Suche nach ihrem Sohn zu schreiben.
Manch einen wird der zeitgeschichtliche Hintergrund, vor dem sich
Frears' Film abspielt, zu Vergleichen mit Peter Mullans The
Magdalene Sisters verleiten. Denn auch Philomena ist als junge
Erwachsene den "Magdalene Laundries" anheim gefallen, jenen
katholischen Institutionen, in die in Irland bis ins späte 20.
Jahrhundert "gefallene" Frauen eingeliefert wurden, um sich
die Sünden aus dem Leib zu arbeiten; hatten sie uneheliche Kinder
geboren, wurden diese zur Adoption freigegeben. Akten und Belege über
diese Machenschaften wurden, das müssen Sixsmith und Lee
feststellen, systematisch beseitigt, und auch die Nachfolger der
verantwortlichen Priester, Nonnen und Äbtissinnen zeigen sich alles
andere als bereit, darüber Auskunft zu geben.
Doch obwohl der Film durchaus auf diese Umstände hinweist – und im
Abspann anführt, dass weiterhin Tausende von Frauen Philomenas
Schicksal, das ihr weggenommene Kind nicht aufspüren zu können,
teilen –, ist seine Haltung zum Geschehen weniger entsetzt als
ausgeglichen, ausbalanciert, besonnen. Während Martin mit
zunehmendem Furor die Menschen journalistisch zur Rechenschaft ziehen
will, die Mutter und Sohn voneinander getrennt haben, lässt seine
Begleiterin Milde walten: "I don't want to hate people, like
you", sagt sie zu ihm, vergibt ihrer einstigen Peinigerin und
ermutigt Martin schlussendlich dennoch, seinen Bericht zu
veröffentlichen.
Ein seltsames Paar: Ex-BBC-Journalist Martin Sixsmith (Steve Coogan) hilft Philomena Lee (Judi Dench) dabei, ihren verschollenen Sohn aufzuspüren. © Pathé Films AG |
In Ansätzen widmet sich Philomena auch dem Thema der irischen
Diaspora – erkennbar in den Momenten, in denen sich die Titelfigur
fragt, ob ihr Sohn wohl jemals an seine Heimat dachte –, doch
Frears, Coogan und Pope widmen sich hauptsächlich dem reichen
Wechselspiel zwischen Philomena und Martin, das sich als überaus
ergiebige Quelle sowohl für Charakterkomödie als auch für
legitimes Drama erweist. Die Konstellation lebt von ihrer "Odd
Couple"-Dynamik, vom Kontrast zwischen dem weltgewandten
Intellektuellen und seinem ländlich-katholisch geprägten Gegenüber.
Das Hauptdarsteller-Duo Dame Judi Dench und Steve Coogan harmoniert
dabei prächtig miteinander.
Erstere ist es auch, die Philomena in den entscheidenden
Momenten die nötige Gravitas verleiht. Ohne sichtliche Mühe
schlüpft Dench in die Rolle der Philomena Lee – makelloser Dialekt
mit inbegriffen – und vermag so auch dann zu überzeugen, wenn
Frears kurzzeitig ins allzu offensichtlich Dramatische verfällt (was
hier jedoch kaum je ein Problem darstellt); ihre Leistung in der
letzten Szene allein ist eine beeindruckende Demonstration ihrer
schauspielerischen Klasse. Sie ist die Krönung eines jener seltenen
Filme, die sich keinen Fehltritt erlauben – und dabei keinerlei
Anstrengung zu erkennen geben.
★★★★